Kapitel 10
Als meine Sitzung zu Ende ist, gießt es. Elizabeth bietet mir an, mich mitzunehmen, aber ich lehne ab. Ich muss über vieles nachdenken – ein Spaziergang im Regen ist genau das, was ich brauche. Und ich trage heute in weiser Voraussicht tatsächlich eine Regenjacke statt meinem üblichen Kapuzenpulli; ich werde einigermaßen trocken bleiben. Elizabeth versucht, mich zu überreden – sagt, mir werde zu kalt werden. Aber schließlich lässt sie mich gehen, als ich ihr sage, ich wolle zur Bibliothek.
Als ich auf die Straße trete, blicke ich auf und sehe gerade noch einen Mann, der halb von einem Busch verdeckt wird. Er lehnt lässig an einem der Gebäude gegenüber von Elizabeth’ Praxis und scheint mich noch nicht gesehen zu haben. Aber er kommt mir bekannt vor.
Erst als er die Hand hebt, um die Sonnenbrille zurechtzurücken – Sonnenbrille bei Regen? –, wird mir klar, dass es der Mann ist, der mich angestarrt hat, als ich gegen die Mauer gelaufen bin. Habe ich noch einen Stalker? Oder sollte ich Paranoia mit auf die Liste der Geisteskrankheiten setzen, die durch meine Verletzungen ausgelöst wurden? Höchstwahrscheinlich wohnt er einfach in der Nähe, und jetzt, wo ich ihn bemerkt habe, werde ich ihn ständig sehen – wie wenn man ein neues Auto kauft und plötzlich dasselbe Modell sieht, wo man geht und steht. Trotzdem macht es mir Angst, also ziehe ich den Kopf ein und umklammere meine Rucksackgurte, wirble herum und gehe in die andere Richtung.
Ich bin nur zwei Blocks von Elizabeth’ Praxis entfernt, als mein Magen knurrt. Ich war so nervös wegen meines Termins – ganz zu schweigen von überdreht wegen Benson –, dass ich vergessen habe zu frühstücken. Jetzt bin ich ausgehungert.
Ich war in letzter Zeit oft hungrig. Oder besser ausgehungert. Als ich gestern nach Hause kam, nachdem ich Quinn gesehen hatte, habe ich, glaube ich, doppelt so viel Lasagne gegessen wie sonst. Eigentlich wollte ich Elizabeth danach fragen, aber nach allem, was diese Woche passiert ist, habe ich es irgendwie vergessen. Ich nehme an, es ist ein Zeichen, dass es mir langsam besser geht – dass mein Körper mehr Treibstoff für die Reparaturen braucht. Was auch immer der Grund ist: Mein Magen schreit nach Essen.
Ein Teil von mir will trotzdem zur Bibliothek – vielleicht können Benson und ich gemeinsam zu Mittag essen. Er hat schließlich gesagt, wir sollten uns treffen, aber nicht bei der Arbeit. Doch die Vernunft kriecht in mein Gehirn, und mir wird klar, dass klitschnass und heruntergekommen bei jemandem auf der Arbeit aufzutauchen, nicht die beste Art ist, sich ein Date zu angeln. Erst nach Hause. Und vielleicht sollte ich mir Reese’ Auto borgen, um zur Bibliothek zu fahren; es schüttet wirklich.
Hübsch für Benson auszusehen war vorher nicht wichtig. Aber jetzt …
Als ich das Haus erreiche, schwingt die Eingangstür an lautlosen Angeln auf, und ich bin mehrere Schritte die Treppe hinauf, bevor ich Reese’ Stimme höre.
»Das ist wirklich kein guter Zeitpunkt, Liz. Tavia hat mir heute Morgen nicht gesagt, wohin sie geht. War sie überhaupt bei eurer Sitzung?« Pause. »Oh! Na, in dem Fall.«
Erschrocken drehe ich den Kopf in Richtung Küche und spitze die Ohren, als ich meinen Namen höre. Reese’ Schritte kommen auf mich zu, und ich ducke mich instinktiv, als sie mit dem Telefon in den Vorraum kommt, um aus dem Fenster zu spähen.
Sie hält Ausschau nach mir.
»Der blonde Typ wieder?«
Liz. Elizabeth? Mein Magen zieht sich zusammen, als sich der Verrat in meiner Brust ausbreitet. Sie erzählt es ihnen! Therapeuten sollten das nicht tun. Ich beiße die Zähne zusammen, aber ich schleiche lautlos die Treppe hinunter, während Reese sagt: »Sie hat ihn gezeichnet? Das ist großartig!«
Ich ziehe die Knie an die Brust, verborgen im Schatten der Wendeltreppe, und versuche, kein Geräusch zu machen, nicht einmal zu atmen.
»Bist du sicher? Er sieht genauso aus, wie Sonya ihn beschrieben hat? Aber – warte mal, er hat mit ihr gesprochen? Das ergibt doch keinen Sinn, oder? Könnte das ein Missverständnis sein?« Sie kramt kurz herum. »Moment, ich schreibe es mir auf. Quinn? Okay. A-ver-y«, sagt sie langsam, während sie schreibt. »Ich suche ihn. Der Name kommt mir zwar nicht bekannt vor, aber du weißt, wie umfangreich unsere Akten sind. Außerdem kann ich einen Gefallen einfordern. Ich habe eine Freundin im Archiv, die es für sich behält.«
Ich höre sie an etwas nippen, dann schluckt sie eilig und sagt: »Das Erdgebundenen-Dreieck? An seinem Haus? Dann glaubst du also, er weiß, was er ist?«
Mir ist ganz schlecht, als ich höre, wie alle meine Geheimnisse über Reese’ Lippen kommen.
»Nein, das finde ich auch, es muss sein. Ich schaue auch gern das an der Fifth Street nach. Konntest du auf dem Foto eine Hausnummer sehen? Vielleicht war derjenige, der dort gelebt hat, ein Curatoriate. Es könnte noch etwas da sein, was wir benutzen können. Aber schick mir auf jeden Fall die Skizze – das könnte der Durchbruch sein, den wir brauchen.«
Die Skizze … warum musste ich meine Zeichnung bei Elizabeth lassen?!
»Was meinst du, wie viel Zeit wir noch haben, bis wir den Sog durchführen müssen?« Eine lange Pause folgt, und ich kann hören, dass Reese wieder begonnen hat, auf und ab zu gehen. »Ja, ich mache mir immer noch Sorgen, dass es sie ausbrennt. Ich habe mir immer Sorgen gemacht. Wir wissen beide, dass sie uns nichts nützt, wenn ihr Gehirn zerstört wird. Aber wenn sie praktisch selbst einen langsamen Sog an sich vornimmt?«
Sie schweigt, hört lange zu, während Elizabeth spricht, wie ich annehme. Während die Sekunden vergehen, beginne ich zu schwitzen und überlege, was um alles in der Welt Elizabeth ihr jetzt erzählt. Schließlich macht Reese ein zustimmendes Geräusch, dann sagt sie: »Wenn er es wirklich ist, dann muss sie …« Die Schritte stoppen. »Liz, glaubst du, sie ist zu beschädigt, um wieder aufzuleben?«
Ich schlucke; es ist schrecklich für mich, das Wort beschädigt von Reese’ Lippen zu hören, egal, wie oft ich es selbst für mich verwende.
Reese seufzt. »Ich wünschte, ich hätte deine Zuversicht. Aber du kommst ja viel näher an sie ran als ich. Den Göttern sei Dank, ohne dich wüssten wir überhaupt nichts. Das Dreieck ändert allerdings alles. Er weiß etwas. Wie groß sind die Chancen, dass er ein Reduciate ist? Ach, vergiss es; alles höher als Null bedeutet nichts Gutes. Nein, nein, ich glaube, es heute Nacht zu versuchen, wäre zu überstürzt. Vor allem, da wir so dicht dran sind. Da wir möglicherweise so dicht dran sind.«
Nicht heute Nacht. Was auch immer sie mit mir anstellen wollen – es wird nicht heute Nacht passieren. Ist Erleichterung das richtige Gefühl angesichts all dessen?
»Ich verschiebe meine Reise; ich glaube nicht, dass ich heute wegkann, ohne dass es die Höheren herausfinden, morgen kann ich mich freier bewegen, gesetzt den Fall, die Zeichnung passt zu unseren Beschreibungen.« Reese brummt ein paar Mal zustimmend, bevor sie zitternd Luft holt. »Wir müssen sie gut im Auge behalten. Wenn sie es selbst herausfindet, verlieren wir sie im besten Fall. Im schlimmsten Fall schädigt es sie so, dass sie uns nichts mehr nützt.«
Mich schädigen?
»Ich hoffe es«, sagt Reese nach einer weiteren langen Pause. In ihrer Stimme liegt eine Melancholie, die ich nicht mit dem Inhalt des Gesprächs in Einklang bringen kann. »Wir können sie nicht ewig verstecken. Ich mache mir jetzt schon Sorgen. Meine Quellen überbringen mir widersprüchliche Nachrichten. Das bedeutet normalerweise, dass sie etwas gefunden haben und versuchen, es zu verbergen. Wir alle wissen, was passiert, wenn sie zu kreisen anfangen«, fügt sie hinzu, und obwohl ich nicht weiß, warum, überläuft mich ein angstvoller Schauder. »Wir können sie wahrscheinlich zumindest noch eine Woche am Leben erhalten, aber danach … dann ist alles möglich.«
Mich am Leben erhalten? Ich kann nicht atmen. Es ist, als ob ich einen harten Schlag nach dem anderen einstecken muss. Die Dunkelheit scharrt an den Rändern meines Blickfeldes, und gleichzeitig habe ich das Gefühl, mich übergeben zu müssen und ohnmächtig zu werden.
Reese geht zurück in die Küche, während ich versuche, mich noch enger zusammenzurollen – und mich noch tiefer in die Schatten zu drücken.
»Bete einfach, dass an dieser Phoenix-Verbindung etwas dran ist. Wenn nicht, habe ich null Spuren, dann müssen wir allein weitermachen. Und das bedeutet vermutlich weglaufen.« Sie seufzt. »Ich hasse weglaufen. Ja, ich weiß; ein Schritt nach dem anderen. Ich bin bald da.«
Ich höre das Piepsen, als sie das Gespräch beendet, dann die vertrauten Geräusche von Reese, die sich einen Mantel überzieht, ihren klimpernden Schlüsselbund nimmt und dann das Brummen des Garagentors.
Ich löse mich von der Wand und kauere mich neben das Fenster, wo ich die Jalousien gerade so weit auseinanderdrücke, dass ich Reese’ Auto die Straße entlanggleiten sehe.
Als sie außer Sicht ist, zähle ich langsam bis zehn, dann fliehe ich aus dem Haus, renne beinahe den Gehweg entlang, bis ich langsamer werden muss und mir die schmerzende Seite halte. Mein Atem geht keuchend und abgehackt und jeder Gedanke an Hunger ist aus meinem Kopf verschwunden.
Ich sehe mich um, weiß einen Augenblick lang nicht, wo ich bin. Mein Verstand versucht, das Gespräch zu ordnen, das ich gerade belauscht habe, aber nichts ergibt Sinn; alles ist falsch. So falsch. Ich weiß nicht, was ich glauben soll, und am liebsten würde ich mich auf den Boden sinken lassen und weinen.
Die Worte, die ich gehört habe, hallen unaufhörlich in meinem Kopf wider, aber je mehr ich darüber nachdenke, desto weniger Sinn ergeben sie. Warum sollte Quinn etwas mit meiner Vergangenheit zu tun haben? Ich würde mich erinnern, wenn ich ihn schon einmal getroffen hätte.
Das würde ich doch, oder?
Meine Erinnerungen waren direkt nach der Operation ziemlich lückenhaft, aber seit Monaten sind sie jetzt recht vollständig. Ihn würde ich doch sicher nicht vergessen. Nicht bei der Wirkung, die er auf mich hat.
Es sei denn, das wäre der Grund, warum er diese Wirkung auf mich hat.
Doch warum sollten die Dreiecke etwas ändern? Das sind nur komische, glühende Dinger. Ich würde am liebsten laut stöhnen. Warum musste ich Elizabeth von ihnen erzählen? Wie dämlich!
Ich gehe ohne Orientierungssinn und sehe kaum die anderen Leute auf dem Gehweg. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Das Gefühl des Verrats bohrt sich wie ein eisiger Stachel in meine Brust; ich bin einsamer als je zuvor und habe keine Ahnung, wem ich vertrauen kann.
Bisher war es immer Elizabeth.
Jetzt ist niemand mehr da.
Nur ich selbst.
Und Benson.
Ich habe das Handy in der Hand, bevor ich es mir anders überlegen kann, ein eintöniges Klingeln trillert mir im Ohr. »Geh ran, bitte geh ran!«, flüstere ich, als es dreimal klingelt, dann viermal.
»Tave?«
»Benson.« Ich schaue mich in beide Richtungen um, bevor ich flüstere: »Kannst du mich abholen kommen? Ich bin in Schwierigkeiten.«