19 – Joachims Plan
Dort, wo sich das Tal zur See hin öffnete, fiel eine breite Bucht, deren innere Begrenzung grasbewachsene Dünen bildeten, zum Ufer ab. Joachims Gruppe suchte sich eine geeignete Stelle und ließ sich dann im Halbkreis nieder, dem Landesinneren zugewandt. Stämmig, behaart und sonnengebräunt stand Joachim vor ihnen, die kalte Pfeife in seiner Hand. Langsam ging sein Blick von einem der Leute zum anderen.
Außer ihm selbst und Trevelyan waren etwa fünfundzwanzig Nomaden anwesend. Der Koordinator saß neben dem Kapitän, den Arm um Nicki gelegt. Sie schmiegte sich an ihn, doch ihre Miene verriet, wie unglücklich sie war. Die anderen sahen erwartungsvoll Joachim an. Auch Sean war hier, in dumpfes Brüten versunken, wie stets seit seiner Ankunft auf Loaluani.
Joachim räusperte sich. »So«, sagte er. »Ich glaube, hier können wir unbesorgt sprechen. Hier gibt es keine großen, dicken Bäume, die uns belauschen. Also: Ich habe mich umgehört und dabei festgestellt, daß ihr alle hier so ziemlich derselben Meinung seid. Dann kam Micah und machte mir Feuer unterm Hintern. Deswegen habe ich dieses Picknick angesetzt. Ich nehme an, wir verstehen uns.« Er hielt inne und sah jedem einzelnen in die Augen. »Ich möchte hier weg«, sagte er dann. »Kommt jemand mit?«
Eine Bewegung ging durch die Reihe; Gemurmel war zu hören, ein unterdrückter Fluch wurde laut, Fäuste ballten sich. »Es ist kein schlechtes Leben hier«, fuhr Joachim fort, »aber es hat seine Nachteile. Jeder empfindet sie, wenn sie vielleicht auch für jeden einzelnen anders aussehen.«
»Ganz klar«, sagte Petroff Dushan. »Ich möchte wieder auf Raumfahrt gehen. Dieser Planet ist ... langweilig!«
»Ja«, knurrte Ortega. »Nichts als ein Park. Jeden Morgen sehe ich nach, ob mir nicht schon Moos auf der Haut wächst.«
»Erinnert ihr euch an Hralfar?« fragte Petroff Manuel wehmütig. »Dort gab es Schnee. Man konnte die Kälte spüren, als wäre die Luft flüssig. Man bekam richtig Lust zu hüpfen und zu schreien; und jeden Laut konnte man kilometerweit hören, so ruhig war es.«
»Ich brauch 'ne Stadt«, sagte Levy. »Lichter und Bars, und Lärm und 'n Mädchen und ab und zu mal 'ne richtige Keilerei. Wenn ich mal wieder im ›Half Moon‹ auf Thunderhouse sitzen könnte, beim Großen Kanal ...!«
»Irgendwas, wo was los ist«, sagte MacTeague. »Die fliegende Stadt auf Ausgil IV mit ihrem Krieg zwischen den Vögeln und den Centauren. Irgendwas Neues!«
»Sobald wir uns einmal an dieses Alori-Leben gewöhnt haben«, sagte Joachim, »dürfen wir wieder in den Weltraum – für sie.«
»Ja. Aber aus uns werden niemals Alori werden, so viel steht fest«, sagte Kogama. »Hat man jemals gehört, daß Nomaden für jemand anders auf Fahrt gehen? Wir tun, was wir wollen.«
»Schon gut, schon gut«, sagte Joachim. »Ich kann euch verstehen.«
Thorkild Elof kniff mißvergnügt die Lippen zusammen. »Zum Schluß heiraten wir noch innerhalb unseres eigenen Schiffes«, sagte er. »Ich habe schon festgestellt, daß unsere Jungen und Mädchen miteinander gehen, weil sonst niemand da ist. Wirklich obszön.«
»Es kommt noch so weit, daß sie Alori aus uns machen«, rief Ferenczi. »Auch anderen ist es schon so gegangen. Roamer, Rover, Tramp, Tzigani, Soldier of Fortune – diese Schiffe gibt es nicht mehr! Ihre Besatzungen sind keine Nomaden.«
»Ja«, nickte Joachim. Sein Gesichtsausdruck wurde hart. »Und jetzt haben sie mein Schiff und meine Mannschaft. Das müssen wir ihnen heimzahlen.«
»Augenblick mal«, schaltete sich Trevelyan ein. »Ich habe erklärt ...«
»Sicher, sicher. Sollen sich die Cordys um die Alori kümmern. Ich möchte nur meine Freiheit wieder.« Joachim drehte die Pfeife in seinen Fingern. »Ich habe meinen ganzen Tabak verraucht und alle meine Flaschen geleert. Die Alori trinken und rauchen nicht.«
»Alles ganz schön und recht«, sagte Elof ungeduldig. »Aber wir sind hier unten, und die Peregrinus ist dort oben. Was können wir denn da machen?«
»Einiges.« Joachim setzte sich mit gekreuzten Beinen. »Ich habe euch zusammengerufen, um sicherzugehen, daß ihr alle der gleichen Meinung seid.« Er zog heftig an der leeren Pfeife. »Ich habe mich unter den Alori umgehört. Sie sind sehr höflich und aufrichtig, das muß man ihnen ja lassen. Sie wissen, daß es mir hier nicht gefällt; aber sie wissen ebensogut, daß ich nicht einfach aus dem Stand in den Weltraum hüpfen kann. Deshalb beantworten sie auch meine Fragen.
Nun, die Peregrinus ist weit und breit das einzige Schiff. Die Boote befinden sich auf einer kleinen Insel etwa zwanzig Kilometer nordwestlich von hier. Die Alori brauchen sie nicht und haben sie deshalb dort abgestellt. Es gibt eine Art Wache – Pflanzen oder Tiere oder irgend etwas anderes, was jedem Menschen den Zutritt verweigert – außer, ein Alorianer erlaubt es.«
»Moment mal!« rief Petroff Dushan. »Sie meinen doch nicht, wir sollten uns einen Alorianer schnappen und ihn zwingen ...«
»Würde nichts nützen«, sagte Ferenczi. »Diese Eingeborenen fürchten den Tod nicht. Außerdem glaube ich nicht, daß wir einen gefangennehmen können, ohne daß die ganzen verdammten Wälder es wissen und uns die gesamte Insel auf den Hals hetzen.«
»Bitte«, sagte Joachim. »Ich sehe eine etwas elegantere Lösung.« Mit einem Blick auf Sean fuhr er ruhig fort: »Ilaloa war ein paarmal bei uns.«
Der junge Mann wurde rot im Gesicht. Er spuckte aus.
»Seien Sie nicht so hart zu dem armen Mädchen«, sagte Joachim. »Sie tat nur ihre Pflicht. Ich bin ihr ein paarmal begegnet und habe noch nie jemanden so elend und unglücklich gesehen. Wir wechselten ein paar Worte, und dann schüttete sie mir ihr Herz aus. Sie liebt Sie, Sean.«
»So?« knurrte Sean sarkastisch.
»Nein, nein, das ist Tatsache. Sie gehört zwar zu den Alori, aber sie liebt Sie und weiß, wie unglücklich Sie jetzt sind. Und mir scheint, sie ist auch ein bißchen von uns ... korrumpiert. Sie hat ein wenig von uns Nomaden im Blut. Armes Ding.«
»Also, was soll ich tun?« fragte Sean mit sichtlicher Überwindung.
»Gehen Sie zu ihr. Und irgendwo, wo niemand es hören kann, bitten Sie sie, uns zur Flucht zu verhelfen.«
Sean schüttelte ungläubig den Kopf. »Das würde sie niemals tun.«
»Nun, versuchen kann man es immerhin. Die einzige Alternative für Ilaloa ist, daß sie sich einer psychologischen Behandlung unterzieht, um Sie aus dem Kopf zu bekommen. Aber das will sie nicht.«
»Ich verstehe«, murmelte Nicki.
»A-aber, sie wird wissen, daß ich lüge!« protestierte Sean.
»Werden Sie lügen? Sie sagen, daß Sie sie immer noch lieben und sie mitnehmen wollen, wenn sie uns hilft. Das ist doch die Wahrheit.«
Lange Zeit sagte Sean kein Wort. »Glauben Sie?« fragte er schließlich.
Joachim nickte. Langsam sagte er dann: »Eines dürfen Sie nicht vergessen. Wenn wir wirklich hier wegkommen, endet diese ganze Geschichte überaus günstig. Eine Bedrohung wird abgewehrt, und statt dessen eröffnen sich ungemein profitable Möglichkeiten. Das wird die Leute sehr für Lo einnehmen.«
»Nun ... ich ...«
»Also gehen Sie schon, Junge.«
Sean stand auf, wandte sich ab und ging steifbeinig davon. Niemand sah ihm nach.
Schweigen trat ein. Nur den Wind, die Brandung und das Geschrei der Vögel konnte man hören.
Dann sagte Ferenczi: »Nur diejenigen von uns, die jetzt hier sind, versuchen die Flucht, oder?«
»Ja. Sonst wäre es ein zu großes Risiko. Wir können das Schiff zurück zu Nerthus fliegen. Das bedeutet harte Arbeit und knappe Rationen, aber wir können es schaffen.«
»Ich dachte mehr an die anderen. Sie werden hier Geiseln sein.«
»Ich habe Lo deswegen gefragt, und was sie sagte, bestätigte meine Vermutung. Die Alori tun nichts, was zwecklos ist. Sie werden unsere Leute nicht schlecht behandeln, sobald das Spiel einmal verloren ist.« Joachim stand auf und streckte sich. »Sonst noch Fragen? Wenn nicht, ist die Zusammenkunft bis auf weiteres vertagt. Erst müssen wir noch genauer wissen, wo wir stehen. Und geht den Eingeborenen aus dem Weg. Sie spüren eure Erregung. Wie wär's jetzt mit etwas Volleyball zur Beruhigung?«
Den Arm um Nicki gelegt, ließ Trevelyan seinen Blick über die Küste streifen. Ein paar hundert Meter weiter begannen die anderen zu spielen.
»Woran denkst du, Micah?«
Er lächelte. »An dich«, sagte er. »Und an dein Volk.«
»An mein Volk?«
»Du weißt, daß der Koordinationsdienst die Nomaden nicht sonderlich liebt. Man glaubt, sie übten einen zersetzenden Einfluß auf eine ohnehin instabile Zivilisation aus. Mir selbst hingegen scheint mehr und mehr, daß eine gesunde Kultur so einen Teufel braucht.«
»Sind wir Nomaden denn wirklich so schlimm?«
»Nein, das kann man nicht sagen. Ihr seid zu niemandem unnötig grausam. Meiner Meinung nach habt ihr den Planeten, auf denen ihr landet, ebenso viel Gutes wie weniger Gutes gebracht.«
Seine Lippen berührten ihr Haar, und er roch dessen zarten Duft. »Ich muß mich wieder zu Hause melden«, sagte er, »und du möchtest ohnehin Sol besuchen. Aber danach ... Nicki, ganz sicher bin ich noch nicht ... aber ich glaube, ich werde dann selbst Nomade werden.«
»Micah! Liebster!« Sie schlang ihre Arme um ihn.
»Peregrine Trevelyan«, murmelte er, und seine Gedanken eilten weiter voraus. Dies war seine Antwort. Das abschließende Urteil mußten die Integratoren fällen. Aber er glaubte, die Lösung gefunden zu haben. Ein echter Nomade? Nein – aber mit seinen Fähigkeiten würde er sicher eine Autorität werden und beeinflussen können, was die Nomaden taten. Und noch mehr Koordinatoren würden den Weg zu den Nomaden finden.
Sie würden den Nomaden Richtung und Ziel geben. Und sie weise Beschränkung lehren, ohne ihren freiheitsdurstigen, abenteuerlustigen Geist zu zerstören.
Sean stapfte die Küste entlang, bis er um sich herum nichts mehr sah als Wald und Meer. Er kletterte auf eine Düne und blickte hinaus in die unendliche Einsamkeit. An seinen bloßen Beinen spürte er das dünne, scharfblättrige Gras. Er hielt sich eine Hand über die Augen, um sie vor der Sonne zu schützen, und spähte landeinwärts, dorthin, wo Bäume und Gras sich trafen.
Und dann sah er sie. Zögernd trat sie aus dem Wald heraus. Ein paar hundert Meter von ihm entfernt blieb sie stehen, fluchtbereit, als hätte er eine Waffe. Sean sah sie nur hilflos an. Und dann lief sie, rannte zu ihm, so schnell sie konnte.
Und er nahm sie in seine Arme und murmelte unverständliche Worte, streichelte ihr im Winde wehendes Haar und ihre samtene Haut. Und sie weinte sich bei ihm aus. Jetzt erst küßte er sie mit unendlicher Zärtlichkeit. »Ilaloa«, flüsterte er. »Ich liebe dich, Ilaloa.«
Tränenblind starrten ihre Augen ihn an. »Du kannst nicht hier bleiben? Du mußt fort von hier?«
»Wir müssen fort von hier«, sagte er.
Sie wandte die Augen von ihm ab. »Dies ist mein Volk.«
»Deinen Leuten soll nichts geschehen«, sagte er. »Auch ich habe mein Volk. Und es ist auch deines.«
»Ich kann mich behandeln ... mich von dir heilen lassen.«
Er ließ sie los. »Dann tu es doch«, sagte er bitter.
»Nein.« Ihre Lippen waren geöffnet, als hätte sie Mühe, zu atmen. »Nein, auch das wäre ein Vergehen gegen das Leben. Ich kann es nicht.«
»Ist euer Leben denn so viel besser als unseres, daß es uns zerstören muß?« fragte er.
»Nein.« Ihre Finger waren ineinander gekrampft. »Ich glaube, du hast recht, Sean. Diese Welt – das Universum ist dunkel und leer. Wir müssen versuchen, Wärme zu finden.«
Sie richtete sich auf und sah ihn an. Ihre Stimme klang plötzlich klar. »Wenn ich kann, will ich dir helfen.«