12 – Der Sturm
Es gab keine Zeit mehr.
Im Inneren des Schiffes leuchtete stets kühles Licht in den Hallen und öffentlichen Räumen. Dunkelheit gab es nur, wenn in den Wohnräumen die Beleuchtung abgedreht wurde.
Draußen hingen die Sterne in endloser, ewiger Nacht.
Es gab keine Zeit mehr. Uhrenzeiger drehten sich müde im Kreise, sinnlos Stunden und Tage verkündend. Für die Menschen indes gab es nur noch Wachen und Schlaf, Essen, Arbeit, Müßiggang, Warten. Die Alten träumten von der Vergangenheit, die Jungen von der Zukunft. Aber die Gegenwart war jetzt ewig.
Ein paar Vorfälle hatten sich in Trevelyans Gedächtnis geprägt. Einige seiner Unterhaltungen mit den Nomaden, vor allem mit Joachim, die von ihren Kreuzfahrten durch die Galaxis erzählten. Da waren die Spaziergänge, die er mit Nicki durch die labyrinthischen Korridore des Schiffs gemacht hatte.
Er dachte daran, daß ein dunkler, junger Mann mit unglücklichen Augen namens Abbey Roberto ihn vor Ilaloa gewarnt hatte, die eine Hexe sei. Sean hatte ihm dann gesagt, daß Roberto zufällig etwas von ihren möglicherweise telepathischen Eigenschaften mitbekommen hatte. Es hatte Gemurmel und scheele Blicke gegeben, wenn Ilaloa vorbeikam. Jetzt, da sie ins Unbekannte vorstießen, konnte die steigende Spannung auch emotional stabileren Leuten als den Nomaden zusetzen.
Zumindest hatte die Peregrinus jetzt ein ziemlich klar umrissenes Ziel. Der Sektor des Weltraums, von wo aus der Himmel so wie in Ilaloas Vision aussehen mußte, war mit einer möglichen Ungenauigkeit von ein paar Dutzend Lichtjahren identifiziert. Von Erulan aus betrug die Flugdauer bei voller Geschwindigkeit etwa sechs Wochen.
Ein Monat verging. Es hätte ebenso gut eine Woche oder ein Jahrhundert sein können. Nach dem, was die Uhren anzeigten, war es ein Monat.
Sie waren zu viert im Park. Nicki saß neben Trevelyan, die Beine übereinandergeschlagen, und hatte seinen Arm untergefaßt. Ihnen gegenüber saßen Sean und Ilaloa.
Von den Frachträumen abgesehen, war der Park der ausgedehnteste Teil des Schiffes, und nach den Hyper-Maschinen auch der eindrucksvollste. Er nahm auf dem äußersten Deck ein volles Viertel des Schiffsumfangs ein, und seine Länge betrug einhundertundzwanzig Meter. Aber das war notwendig.
In den Tagen der großen Städte waren die Menschen in ihren selbsterbauten Gebirgen aus Stein und Glas eingeschlossen, und es war nicht verwunderlich, daß viele von ihnen allmählich den Verstand verloren. Die gleiche Gefahr bestand natürlich für Menschen, die im interstellaren Raum in eine enge, metallene Hülle eingezwängt waren. Ohne die ausgleichende Wirkung von kühlem Gras, feuchter Erde, raschelnden Blättern und fließendem Wasser wäre das Gefühl der Beengung nicht zu ertragen gewesen.
Bei Versammlungen sprach der Kapitän hier zu den Leuten, die dann vor ihm auf der großen grünen Wiese standen. Jetzt gab es hier nur ein paar ballspielende Kinder. Im übrigen war der Park eine hübsche Anlage aus Bäumen, Hecken, Blumenbeeten, Springbrunnen, gewundenen Wegen und lauschigen Lauben.
Trevelyan und die anderen saßen in einer der Lauben, gegen die Zwergbäume gelehnt, aus denen ihre Wände bestanden. Über ihnen breitete eine Eiche ihre Äste aus; Rosenbüsche und Weiden bildeten eine kleine Grotte.
Ein Sichtschirm gestattete einen Blick nach draußen. Er war senkrecht angeordnet wie ein Fenster. Eingerahmt in grüne Blätter waren hier die Sterne als funkelnde Punkte zu sehen, die auf die Grenzen des Universums zustürzten. Ilaloa warf keinen Blick auf den Schirm.
Sie sprachen über Zivilisation. Nicki versuchte wie immer, Trevelyan auszuforschen, und er antwortete bereitwillig. Er wollte erreichen, daß die Nomaden die Situation verstünden.
»In gewisser Weise«, erklärte er, »sind wir in derselben Lage wie der Mensch auf der Erde zwischen dem, sagen wir, sechzehnten und dem frühen neunzehnten Jahrhundert. Das war eine Zeit, wo jeder Teil der Welt zugänglich war. Aber die Reisen waren lang und schwierig, und die Nachrichtenverbindungen schlecht. Die Übermittlung von Informationen – Ideen, Entdeckungen, Entwicklungen in der Heimat und in den Kolonien – erfolgte langsam. Koordination war völlig unmöglich – oh, natürlich beeinflußten sie einander, aber nur teilweise. Man bemerkte eigentlich kaum, wie sehr sich die Kolonien dem Mutterlande entfremdeten. Nordamerika war nicht England; das ganze Ethos veränderte sich. Hätte es damals schon das Radio gegeben, die Geschichte der Erde wäre völlig anders verlaufen.
Nun, was haben wir heute? Ein Dutzend oder noch mehr hochzivilisierte Rassen, die über diesen Teil der Galaxis verstreut sind. Die Kommunikation ist beschränkt auf Raumschiffe, die unter Umständen Wochen brauchen, um von einer Sonne zur nächsten zu kommen. Nicht einmal die starken wirtschaftlichen Beziehungen gibt es, die immerhin Europa und seine Kolonien verbanden. Die Entwicklung geht in völlig verschiedene Richtungen, was eines Tages zum Konflikt führen muß. Dazu ist es schon mehrere Male gekommen – und es bedeutet Vernichtung.«
»Hm – ja.« Sean fuhr sich mit der Hand durch sein struppiges Haar. Den anderen Arm hatte er um Ilaloa gelegt, und er spürte ihre innere Spannung – als ob sie auf etwas wartete.
»Lo hat recht«, sagte Nicki. »Sie denken einfach zuviel, Micah, und in Ihrem Kopf sind Sie sehr einsam.« Sie deutete auf den Sichtschirm. »Sehen Sie da hinaus, Micah. Das ist unser Universum. Wir gehören hierher. Vergessen Sie doch einmal Ihre verdammte Wissenschaft. Dort liegt die Galaxis und wartet darauf, daß wir sie nehmen!«
»Eine große Galaxis«, murmelte er.
»Glauben Sie denn, die Nomaden wissen nicht, wie groß sie ist?« rief sie. »Haben wir denn nicht unser ganzes Leben dort draußen verbracht und Welten auf Welten gesehen und hinter jeder Sonne noch eine neue? Die Sterne wissen nicht, daß es uns gibt, und wenn wir einmal tot sind, werden sie genauso da sein wie immer – als hätten wir nie existiert. Und trotzdem – wir existieren, Micah! Wir sind ein Atom im Universum, aber das sind wir immerhin!«
Ein wenig errötend hielt sie inne. »Ich rede heute wirklich zuviel«, sagte sie. »Daran ist Lo schuld. Die Art, wie sie spricht, ist einfach ansteckend.«
Er lächelte wortlos.
»Aber ich würde so etwas nicht sagen«, flüsterte Ilaloa. »Was mich betrifft, so sehe ich es anders. Micah versteht sich als Teil eines Ideensystems, als Teil von etwas, das so unwirklich ist wie ein Gedanke in seinem Kopf. Und ihr vom Schiff denkt an Metall und Feuer und an die Leere dort draußen; für euch ist das Leben nur eine Bewegung in toter Materie. O nein!« Sie vergrub ihr Gesicht in Seans Schulter.
»Und wie verstehen Sie sich dann?« fragte Trevelyan. »Was ist für Sie Wirklichkeit?«
Sie sah wieder auf. »Das Leben«, sagte sie. »Das Leben zwischen Anfang und Ende von Raum und Zeit, die Kräfte ... nein, das Sein und Werden. Es ...« Hilflos verstummte sie. »Ihr habt keine Worte dafür. Ihr versucht, das Leben zu verstehen, indem ihr es von außen betrachtet wie ein Ausstellungsstück im Museum. Man kann es nicht verstehen, man muß es fühlen ... erleben. Und das ist unmöglich, wenn man Gefangener seines Körpers ist. Man muß sein wie eine Welle in einem Strom. Sie geht auf und nieder, aber der Strom fließt weiter.«
Sean streichelte ihr über das Haar. »Seltsame Dinge sagst du da, Liebling«, murmelte er. Seine Lippen berührten leicht ihre bleiche Wange.
»Bergson«, sagte Trevelyan.
»Hm?« Nicki runzelte fragend die Stirn.
»Ein Philosoph auf der Erde – vor langer Zeit. Ilaloas Gedanken sind den seinen sehr ähnlich. Aber ich bezweifle, ob er sie so in Wirklichkeit umsetzte, wie sie es könnte. Eines Tages«, fügte er nachdenklich hinzu, »möchte ich von Ihnen mehr über Ihr Volk erfahren, Ilaloa. Ich war so eifrig dabei, mich mit dem Schiff vertraut zu machen, daß ich gar nicht recht mit Ihnen Bekanntschaft schließen konnte. Aber ich glaube, daß Sie mich etwas lehren könnten.«
»Ich will es versuchen.« Ihre Stimme war fast unhörbar.
»Micah«, begann Nicki langsam, »sind wir Nomaden so grundverschieden von Ihnen in der Union?«
Er nickte. »Mehr als wir glauben.«
»Ich meine ... unsere Lebensformen sind verschieden, ja, aber wir sind trotzdem menschliche Wesen, von Sol bis zum Rande der Galaxis. Und ist unser Denken wirklich so anders?«
»Natürlich. Wir sind alle aus Fleisch und Blut. Worauf wollen Sie denn hinaus?«
»So, wie Sie vorher sprachen, hätte man glauben müssen, daß Sie uns für eine Art feuerspeiender Drachen halten. Da habe ich mich gefragt, wie Sie und ich – das heißt, unsere Völker – jemals miteinander auskommen könnten.«
»Kampf muß nicht sein«, antwortete er. »Aber so lange die beiden Kulturen existieren, kann es zu keiner wirklichen Einheit kommen. Die Dinge, für die wir leben, sind einfach zu anders. Denken Sie nur einmal an Nomaden, die versuchten, sich in einer Kolonie niederzulassen.«
»Ich dachte schon, daß Sie das sagen würden.« Langsam nahm Nicki ihre Hand von der seinen. Er machte keine Bewegung.
»Ich glaube, ich mache einen kleinen Rundgang im Park«, sagte Sean etwas verlegen. »Du kommst doch mit, Lo?«
Ilaloa und er hatten sich bereits erhoben, als alle vier spürten, wie ein kurzes, schmerzliches Pulsieren durch ihren Körper ging.
»Was zum Teufel ...!« Nicki war aufgesprungen.
»Die Gravitationsfeld-Generatoren ...« begann Sean.
Eine neue Welle durchfuhr sie. Die Blätter, durch die jetzt ein seltsam stöhnender Luftzug ging, verschwammen vor ihren Augen. Schreie waren zu hören. Jemand fluchte.
»X«, stieß Sean hervor. »Sie greifen uns an!«
Trevelyan stand jetzt hinter Nicki und hatte sie an den Armen gepackt. »Nein!« rief er. »Ein Schiff in Hyperdrive kann man nicht angreifen. Es ...«
Ilaloa schrie auf.
Als Trevelyan zu ihr hinüberschaute, sah er die Sterne auf dem Sichtschirm erzittern. Ein Blitz, und das Bild war tot. Rauch stieg aus der Röhre empor.
Eine neue Welle warf sie zu Boden. Metall ächzte. Trevelyan sah, wie ein Eichenast quer durch den Park flog. Unsicher kam er wieder auf die Beine. Nicki stolperte gegen ihn, und er nahm sie schützend in seine Arme.
Blitze flammten auf, eine bläulich-weiße Hölle elektrischer Entladungen von Wand zu Wand. Gleich darauf kam dröhnender Donner, der die Schiffshülle widerhallen ließ, als sei sie ein riesiger Gong. Der Boden unter ihnen hob und senkte sich. Das Licht ging aus. Gespenstisch zuckten Entladungen durch die Finsternis.
Durch den Tumult hörte Trevelyan die elektronisch verstärkte Stimme wie einen Ruf aus der Ferne: »Micah! Trevelyan Micah, können Sie mich hören? Kommen Sie auf die Brücke – ich brauche Sie!«
Blitze zerrissen das Dunkel, und die Stimme verstummte. Eine Alarmsirene ertönte, absurd und überflüssig. Jemand prallte gegen Trevelyan und warf ihn wieder zu Boden.
»Ein Wirbel!« rief er. »Wir sind in einen Gravitationswirbel geraten!«