3 – Ilaloa
Peregrine Thorkild Sean konnte das Mädchen nicht vergessen, das auf Nerthus zurückgeblieben war. Allein war sie in die Stadt Stellamont gegangen und war nicht zurückgekehrt. Nach einer Weile hatte er einen Aircar genommen und war die zwölfhundert Kilometer zum Haus ihres Vaters geflogen. Es gab keine Hoffnung – sie konnte das Nomadenleben nicht aushalten.
Zwei Jahre sind manchmal eine lange Zeit, und die Erinnerung schwindet. Thorkild Sean ging durch das Nomadencamp unter dem Himmel von Rendezvous und wußte, wie weit Nerthus entfernt war.
Dunkelheit hatte sich auf das Tal gesenkt – nicht der stille Schatten von Nerthus, eines Planeten, der fast wie die Erde war, sondern die lebendige, schimmernde Nacht von Rendezvous. Hohe Feuer brannten, und das Camp war ein einziges Babel. Der Handel war weitergegangen, bis auch das letzte Geschäft getätigt war. Der Kapitänsrat war zusammengetreten, und die Männer auf den Schiffen hatten über seine Vorschläge abgestimmt. Jetzt war es Zeit für den Höhepunkt: Die »Meuterei«. Unverheirateten Frauen war es nicht gestattet, diesen dreitägigen Saturnalien beizuwohnen – hinsichtlich ihrer Jungfrauen waren die Nomaden sehr streng. Für alle anderen aber würde es eine aufregende Erinnerung sein, die sie mit hinauf zum Himmel nehmen konnten.
Außer für mich, dachte Sean.
Er kam an einem Feuer vorbei, durchschritt den flackernden Flammenschein – ein schlanker, hochgewachsener junger Mann mit heller Haut. Sein Haar war braun, seine Augen blau, sein Gesicht schmal und ausdrucksvoll, seine Bewegungen jedoch eckig und ungelenk.
Jemand rief ihm etwas zu, aber er achtete nicht darauf und ging weiter. Nicht jetzt, nicht jetzt. Bald hatte er das Camp hinter sich gelassen. Er fand den steilen Pfad, den er suchte, und folgte ihm hinaus aus dem Tal. Die Nacht von Rendezvous umfing ihn.
Dies war nicht die Erde und auch nicht Nerthus oder irgendein anderer Planet, auf dem Menschen heimisch geworden waren. Frei konnte er sich hier bewegen, und kein krankheitserregender Keim, kein Giftzahn lauerte im Verborgenen auf ihn. Dennoch – irgendwie hatte Sean das Gefühl, noch niemals auf einer so fremden Welt gewesen zu sein.
Drei Monde standen am Himmel. Einer war weit entfernt – eine kalte, weiße Fläche am samtenen Himmel. Der zweite war ein rötlicher Halbmond, der dritte fast voll. Dieser lief so rasch auf seiner Bahn zwischen den Sternen, daß man seine Bewegung wahrnehmen konnte. Drei Schatten folgten ihm über das lange, flüsternde Gras, und das Licht war so hell, daß die Schatten nicht schwarz waren; sie waren dunkles Blau auf dem kalten Boden. Über ihm waren die Sterne – Konstellationen, die man in der Heimat der Menschheit nicht kannte. Die Milchstraße war noch wie eine Lichtbrücke zu sehen, und er konnte das kalte Funkeln von Spica und Canopus erkennen. Der größte Teil des Himmels aber war fremd.
Auf den Hügeln, durch die er jetzt ging, spielten Mondlicht und Schatten. Auf der einen Seite seines Weges erhob sich ein Wald – hohe, federblättrige Bäume, überwuchert von blühenden Ranken. Auf der anderen Seite war Gras und Gebüsch und niedriges Dickicht. Dann und wann sah er eines der sechsbeinigen Tiere von Rendezvous.
Da und dort bewegte sich Licht. Phosphoreszierende Insekten schwangen sich auf feinen Flügeln über glimmende Lampenblumen. Sean nahm die Geräusche der Nacht in sich auf. Die Erinnerung an Früheres erstarb, und neue Kraft entfaltete sich in ihm.
An einen Baum gelehnt, erwartete sie ihn an der vereinbarten Stelle. Seine Schritte wurden schneller und schneller.
Außerhalb der normalen Raumkorridore hatten die Nomaden nach einem erdähnlichen Planeten – einem E-Planeten – gesucht. Er sollte ein Treffpunkt sein, den andere nicht so leicht finden würden. Außerhalb ihres Versammlungsplatzes hatten sie noch nicht viel erforscht. Dennoch war es ein Schock für sie gewesen, als sie fünf Jahre später feststellten, daß entgegen ihrer Annahme doch Eingeborene auf Rendezvous lebten. Die Gesetze der Union hatten nicht viel zu bedeuten. Aber Eingeborene konnten Probleme bringen.
Indessen waren die Wesen, die sie hier angetroffen hatten, angenehm, ja bemerkenswert menschenähnlich. Ihre Kultur allerdings hatte mit keiner je von Menschen geschaffenen etwas Gemeinsames. Sie hatten sich die Neuankömmlinge angesehen, hatten ohne Schwierigkeit den Dialekt der Nomaden gelernt und viele Fragen gestellt. Über sich selbst hatten sie freilich wenig geäußert. Und nachdem sich herausgestellt hatte, daß diese Wesen nichts zu bieten hatten, was Handel ermöglichte, hatten die Nomaden auch kein sonderliches Interesse gezeigt.
Entgegenkommenderweise hatten die Eingeborenen den Nomaden das Gebiet, das sie sich bereits angeeignet hatten, zur Verfügung gestellt und nur darum gebeten, anderswo nicht belästigt zu werden, was die Menschen noch gesetzlich kodifizierten. Seitdem hatte sich gelegentlich ein Eingeborener bei ihren Versammlungen gezeigt, eine Weile zugehört und war wieder verschwunden – sonst hatte es nichts gegeben in den letzten einhundertfünfzig Jahren.
Blind, dachte Sean. Wir sind blind, wie es der Mensch immer schon gewesen ist. Es gab eine Zeit, wo er sich einbildete, das einzige intelligente Wesen im ganzen Universum zu sein – und er hat sich nicht sehr verändert.
Der Gedanke ging auf in dem Wunder, das vor ihm stand. Er blieb stehen. Das Blut pochte laut in seinen Schläfen. »Ilaloa.«
Bewegungslos und ohne ein Wort zu sagen stand sie da und sah ihn an. Ihre Schönheit und Anmut schnürten ihm fast die Kehle zu.
Sie hätte der menschlichen Rasse angehören können – beinahe – wäre sie nicht so übermenschlich schön gewesen. Die Lorinyaner waren das, was der Mensch vielleicht nach einer Million Jahren positiver Evolution sein würde. Sie waren schlank und von fließender Grazie, und ihre Haut war marmorweiß. Ihr silbrigblau schimmerndes Haar fiel seidig um ihre Schultern. Zum ersten Male hatte er Ilaloa gesehen, als die Peregrinus auf Rendezvous gelandet war und er einen einsamen Streifzug unternommen hatte, um allein zu sein.
»Ich bin gekommen, Ilaloa«, sagte er und spürte, wie schwerfällig es klang. Ilaloa sagte kein Wort, und er setzte sich seufzend ihr zu Füßen.
Er brauchte nichts zu sagen. Unter den Menschen war er ein einsames, für immer in die Nacht seines eigenen Schädels eingesperrtes Wesen, das seine Artgenossen nie wirklich verstand, nie ihre tröstliche Nähe spürte. Sprache war gleichzeitig Brücke und Barriere; und Sean wußte, daß Menschen sprechen, weil sie Angst vor der Stille haben. Mit Ilaloa aber konnte er still sein; hier gab es Verständnis und keine Einsamkeit.
Laß die eingeborenen Frauen in Frieden!Es war ein Gesetz der Nomaden, das auf anderen Planeten kaum erzwungen zu werden brauchte – wer fühlte sich schon angezogen von etwas, was wie eine Karikatur des Menschen aussah? Aber kein Speer hatte sich in sein Fleisch gebohrt, als er diesem Wesen begegnete, das nicht weniger als eine Frau war, sondern mehr.
Ilaloa ließ sich neben ihm nieder. Er blickte in ihr Gesicht – seine weichen, lieblichen Flächen und Kurven, die geschwungenen Brauen über großen violetten Augen, die kleine Nase, den feinen Mund.
»Wann gehst du fort?« fragte sie. Ihre Stimme war leise, klang aber trotzdem voll.
»In drei Tagen«, sagte er. »Reden wir nicht darüber.«
»Aber das sollten wir«, sagte sie nachdrücklich. »Wo gehst du hin?«
»Fort.« Er machte eine Geste zum sternenübersäten Himmel hinauf. »Von Sonne zu Sonne, ich weiß nicht wohin. Wie ich höre, soll es dieses Mal ein neues Gebiet sein.«
»Dorthin?« Sie deutete auf das Große Kreuz.
»Nun ... ja. In Richtung von Sagittarius. Woher weißt du das?«
Sie lächelte. »Man hört dies und jenes, auch wir im Wald. Wirst du wiederkommen, Sean?«
»Wenn ich bis dahin noch lebe. Zwei Jahre wird es mindestens dauern – ein wenig mehr nach eurer Rechnung. Vier Jahre vielleicht, oder sechs ... ich weiß es nicht.« Er versuchte zurückzulächeln. »Bis dann, Ilaloa, wirst du ... du wirst ... deine eigenen Kinder haben.«
»Hast du keine, Sean?«
Es war die natürlichste Sache der Welt, ihr alles zu erzählen. Sie nickte ernst und legte ihre Hand auf die seine.
»Wie einsam du sein mußt.« In ihrer Stimme war keine Rührseligkeit; es klang beinahe sachlich. Aber sie verstand.
»Ich werde schon damit fertig«, sagte er. Und mit plötzlicher Bitterkeit fügte er hinzu: »Aber ich möchte jetzt nicht davon sprechen, daß ich fort muß. Viel zu bald wird der Augenblick da sein.«
»Wenn du nicht fort willst«, sagte sie, »dann bleibe doch.«
Er schüttelte langsam den Kopf. »Nein. Das ist unmöglich. Ich könnte nicht bleiben, nicht einmal auf einem Planeten meiner eigenen Art. Seit dreihundert Jahren leben die Nomaden zwischen den Sternen. Die wenigen, die es nicht durchstehen konnten, verschwanden, und von den Planeten kamen andere hinzu, die für diese Art Leben geeignet waren. Jetzt ist es mehr als nur Gewohnheit und Kultur, verstehst du. Wir sind für dieses Leben geboren.«
»Ich weiß«, sagte sie. »Ich wollte nur, daß du dir selber darüber klar wirst.«
»Du wirst mir sehr fehlen«, sagte er. »Ich wage gar nicht, daran zu denken, wie sehr du mir fehlen wirst, Ilaloa.«
»Du kennst mich doch erst seit einigen Tagen.«
»Es kommt mir viel länger vor ... oder kürzer ... Ich weiß nicht. Mach dir keine Gedanken darüber. Vergiß es. Es gibt Dinge, die ich einfach nicht sagen darf.«
»Vielleicht sagst du sie dennoch«, antwortete sie.
Er wandte sich zu ihr und sah sie an, und die Nacht war plötzlich erfüllt vom wilden Schrei seines Herzens.