10 – Lauernde Angst
Gegen Abend des ersten Tages brachte ein Erulani eine Mitteilung Joachims zum Fährboot. »Stadtbesichtigung genehmigt, aber entfernt euch nicht zu weit. Wir müssen mit der Notwendigkeit eines schnellen Starts rechnen.« Einen Augenblick lang stand Sean in der Luftschleuse, bemüht, die Worte im letzten schwachen Tageslicht zu entziffern. Der Wind war scharf und kalt; hinter dem Schloß hoben sich Dächer und Türme dunkel vom Himmel ab.
Ilaloa war schon zu Bett gegangen. Sie richtete sich halb auf, als er den Schlafraum betrat. »Zu spät, um jetzt noch auszugehen«, sagte er. »Morgen früh also. Ist dir das recht?«
Sie nickte.
»Ich verstehe, daß du dir hier eingesperrt vorkommst«, sagte er. »Ich kann dir nicht sagen, wie leid mir das tut.«
»Mach dir doch keine Sorgen. Ich war nur in Gedanken, Sean.«
Er sah sie an. Seine Augen folgten der sanften Rundung ihres Körpers bis zu ihrem Gesicht und verweilten dort. »Du würdest lieber wieder auf Rendezvous sein, nicht wahr?«
Sie lächelte, und dann lachte sie plötzlich. Es klang, als läuteten Glöckchen. »Armer, dummer Sean. Du denkst zuviel.« Er zog sie an sich, und sie erwiderte seine Umarmung. Sein Mund berührte ihr duftendes Haar und drückte sich dann auf ihre offenen Lippen.
Ja, sie hat recht. Ich mache mir zu viele Gedanken. Und es bringt mir gar nichts.
Am nächsten Morgen legte er Nomadentracht an, zog sich aber noch ein dickes Hemd über. Er mußte warten, bis Ilaloa mit dem Duschen fertig war. An Bord des Schiffes badete sie immer sehr lange, als wollte sie irgendeine verborgene Unreinheit wegwaschen.
»Zieh dich dick an, Liebste«, riet er ihr mit der warmen Fürsorge des liebenden Gatten.
Sie rümpfte die Nase. »Muß ich das?«
»Wenn du da draußen nicht erfrieren willst, schon. Was hast du denn eigentlich dagegen?«
»Es ist ... Man ist so abgeschlossen von Sonne, Regen und Wind«, antwortete sie. »Man trägt eine tote Haut auf dem Körper, die einem den Kontakt mit dem Leben verwehrt, Sean.«
Der Morgen war kühl und nebelig; die Steinplatten unter ihren Füßen glänzten naß, als sie zu den äußeren Toren gingen. An hochragenden Türmen vorbei gingen sie den Hügel hinunter.
Die Stadt war bereits erwacht, und ihr Lärm wurde lauter, als sie die Straßen betraten – schrilles Stimmengeschrei, Hufegeklapper, ächzende Räder, Eisengeklirr. Auch der Geruch fehlte nicht. Sean schnaubte und sah Ilaloa an. Aber sie schien ihn nicht zu bemerken. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie Dinge an, die sie nie zuvor in ihrem Leben gesehen hatte.
Die engen Straßen mit dem rutschigen Pflaster wanden sich zwischen den hohen Mauern spitzgiebeliger Häuser. Die schweren Türen hatten Metallbeschläge; die Fenster waren nichts weiter als schmale Schlitze; vorragende Balkone verdeckten den Himmel. An ihrem Fuße befanden sich kleine Stände und Buden mit Töpferwaren, Werkzeugen, Kleidern, Waffen, Teppichen, Lebensmitteln, Wein. Händler priesen mit rauher Stimme ihre Waren an. Da und dort standen Tempel mit Minaretten, grotesk verziert mit blutverschmierten Götterbildern.
Die Menge um sie herum tat alles, um den geheiligten menschlichen Gestalten nicht zu nahe zu kommen, stieß aber dennoch manchmal gegen sie. Es war ein Schauspiel von der Art, wie es nur aus der Entfernung romantisch wirkt. Sean glaubte die um ihn herum lauernde Gewalttätigkeit spüren zu können.
Ilaloa zupfte ihn am Ärmel, und er blieb stehen, um bei diesem Lärm ihre Worte besser zu verstehen. »Kennst du diese Stadt, Sean?«
»Nicht sehr gut«, gestand er. »Ich kann dir ein paar interessante Dinge zeigen, wenn ...« Er zögerte. »Wenn du möchtest.«
»O ja!«
Vor ihnen erscholl ein Trompetensignal, und die Erulani drückten sich gegen die Mauern. Sean, der wußte, was kommen würde, zog Ilaloa mit sich zur Seite. Eine Schwadron von Gardisten galoppierte in Helm und Rüstung vorbei; Dreck spritzte von den Hufen der Pferde. Der Hornist hatte eine Peitsche, die er nach allen Seiten schwang. In ihrer Mitte war ein Mensch, der Befehlshaber, genauso gekleidet wie sie.
Eine Frau schrie auf, als sie vorbei waren. Ehe die Menge wieder die Straße überflutete, sah Sean, daß sie sich über ein kleines, pelziges Etwas beugte. Ihr Kind war nicht schnell genug gewesen.
Seine Kehle war so zugeschnürt, daß es ihm richtig weh tat. »Hierher, Ilaloa«, sagte er. »Komm mit mir.«
»Der Tod«, sagte Ilaloa ruhig.
»Ja«, antwortete er. »So ist Erulan.«
Sie betraten eine andere Hauptstraße. Ein Sklavenzug näherte sich. Die Männer waren von Hals zu Hals aneinandergekettet. Ihre Füße bluteten. Peitschenschwingende Soldaten trieben sie weiter, aber die Sklaven blickten nicht auf.
Wieder sah Sean Ilaloa an. Sie sah den vorüberziehenden Sklaven nach; irgendwie schien ihr Mitleid nicht sonderlich tief zu gehen.
Die Straße führte auf einen Marktplatz. An einem Galgen baumelten drei Erhängte. Unter ihnen zupfte ein schmuck gekleideter Erulani eine kleine Harfe. Es war eine fröhliche Melodie.
Ilaloas Finger drückten die seinen. »Etwas bekümmert dich, Sean.«
»Es ist dieser verdammte blutige Planet«, antwortete er. »Es ist alles so unnötig!«
Ihr Blick wich nicht von seinen Augen, und ihre Stimme war ernst. »Du bist lange vom Leben abgeschlossen gewesen«, sagte sie. »Du weißt nicht mehr, wie schön der Regen ist oder eine Sommernacht. Es ist eine ... Leere in dir, Sean.«
»Ich versteh den Zusammenhang nicht.«
»Was hier um uns herum ist, ist Leben«, sagte sie. »Du hast vergessen, wie heiß und dunkel und grausam es sein kann. Ihr verbrennt eure Toten und vergeßt, daß Fleisch wieder zu Staub wird. Die Erde sollte Staub sein von euren Gebeinen, und wo ihr starbt, sollte alles blühen. Ihr möchtet, daß es immer nur Tag ist; von der Nacht und vom Sturm wollt ihr nichts wissen. Ihr lebt mit Geistern und Träumen in eurer eigenen Finsternis. Das ist falsch, Sean.«
»Aber dies hier!«
»Ja, das Leben ist wild hier und wüst, aber es spielt sich jetzt ab, verstehst du? Habt ihr Angst vor dem schneidenden Schmerz der Geburt? Fürchtet ihr euch davor, an das Raubtier zu denken, das bei Nacht Leben erwürgt, um seine Jungen zu füttern? Kennt ihr die Lust, die es bereitet, zu töten und zu herrschen?«
»Du m-meinst doch nicht, daß das richtig ist, oder?«
»Nein. Und doch ist es richtig. Oh, Sean, du kannst das Leben nicht leben, bis du selbst Leben bist, das ganze Leben, nicht wie es sein sollte, sondern wie es ist: Lachen und Weinen, Liebe und Grausamkeit, mehr als du selbst ... Nein, du verstehst das nicht.«
Sie gingen weiter. Einen Augenblick sagte sie leise: »Oh, die Wirklichkeit kann man verbessern. Der endlose Kampf, das unaufhörliche Leid muß nicht sein. Aber so ist das Leben immer noch ... richtiger ... als das der Stadt Stellamont.«
»Du meinst«, fragte er, »die Vernunft sei ... falsch? Dieser Instinkt ...«
Sie lachte, doch mit einem nachdenklichen Unterton. »Du bist lieb, aber deine Liebe ist so weit ... so weit fort.« Plötzlich kam es dann fast wie ein Aufschrei: »Oh, Sean, könnten wir Kinder haben ...«
Er vergaß das Gedränge um sich herum, zog sie an sich und küßte sie. Irgendwie fühlte er sich erleichtert. Sie hatten versucht, einander kennenzulernen, und selbst in ihrem Scheitern lag noch eine Art Sieg.
Um die Mittagszeit leerten sich die Straßen; die Stadtbevölkerung zog sich zu einer Siesta zurück. Sie schlenderten durch ein Labyrinth verwinkelter Straßen und verirrten sich schließlich. Schlimm war das nicht; sie brauchten nur die allgemeine Richtung des Schlosses einzuhalten und würden es dann von einem offenen Platz aus sehen können.
Am Ende einer Straße bemerkte Sean einen engen Tunnel zwischen schräg überhängenden Häusern. »Versuchen wir's da einmal?«
Er bekam keine Antwort. Als er sich umwandte, war er zutiefst erschrocken.
Er hatte Liebe in ihrem Gesicht gesehen, Fröhlichkeit, Besorgnis, Kummer, Einsamkeit, Abscheu, Furchtsamkeit und den leeren Ausdruck dessen, der allein für sich sein will. Aber niemals zuvor hatte er sie wirklich verstört gesehen.
»Lo – was ist los?« Er flüsterte es, und seine Pistole schien von selbst aus ihrem Halfter zu gleiten.
Ihre entsetzten Augen suchten die seinen. Sie hatte die Hand gegen den Mund gepreßt, als wollte sie einen Schrei unterdrücken. »Amuriho«, hauchte sie. »Hualalani amuriho.«
Er zog sie mit sich zur Seite. Gegen eine Wand gedrückt, starrte er auf die Straße hinaus. Sie war leer.
»Ein Gedanke. Ein Gedanke ... nein, Sean!«
Er sah Ilaloa nicht an. Seine Augen suchten forschend die Straße ab, doch nichts schien sich zu bewegen. »X«, sagte er.
»Es war kein Mensch ... nichts von Erulan«, hauchte sie zitternd. »Es war grausig ... eine schwarze, hohle Nacht voller Sterne ... und kalt, so kalt!«
»Wo?«
»Ganz in der Nähe. Hinter irgendeiner Mauer.«
»Dann müssen wir weg von hier!«
»Wieder – da ist es wieder!« Sie klammerte sich an ihn. Er fühlte, wie sie erschauderte.
»K-kannst du Gedanken lesen?« stammelte er.
»Dunkelheit«, stieß sie hervor. »Dunkelheit und Leere, eine dunkle Leere voller Sterne ... Sterne wie eine Sichel um ein schimmerndes Feld.«
Der Pistolengriff war rutschig in seiner Hand. »Können sie uns wahrnehmen?«
»Ich weiß es nicht.« Ihr Flüstern klang heiser. »Es denkt an Sterne jenseits der Sterne, aber immer ist da dieses Bild einer Sichel, die hineinschneiden will in ein helles Leuchten. Erhabenheit und Verachtung liegt darin, wie Stahl und ...« Ihre Stimme erstarb.
»Jetzt ist es wieder weg«, sagte sie in fast kindlichem Ton. »Jetzt spüre ich es nicht mehr.«
Er fing an zu laufen, hielt ihren Arm in einer Hand und die Pistole in der anderen. »Joachim hatte recht mit seiner Ahnung«, stieß er hervor. »Wir müssen diesen Planeten verlassen!«