4 – Trevelyan Micah
»Sie werden sich zur Sagittarius-Grenze der Stellaren Union begeben«, hatte die Maschine gesagt. »Planet Carstens' Stern III, auch Nerthus genannt, wird als Startpunkt empfohlen. Anschließend ...«
Die Anordnung war allgemein gewesen und hatte dem Agenten fast völlige Eigenständigkeit eingeräumt. Theoretisch konnte er sich auch weigern. Trevelyan Micah wäre aber kein Feldagent des Koordinationsdienstes der Stellar-Union gewesen, wäre ihm so etwas auch nur in den Sinn gekommen.
Die Psychologie des Ganzen war nicht unkompliziert. Die Cordy-Agenten waren keineswegs Aufschneider; Todesfurcht hatten sie oft genug erlebt, um zu wissen, daß nichts Erhebendes oder Großartiges daran war. Sie glaubten an den Wert ihrer Arbeit, waren aber nicht sonderlich altruistisch. Vielleicht konnte man sagen, daß sie diese Arbeit liebten.
Sein Aircar schwebte auf Gravitationsstrahlen über der westlichen Hälfte Nordamerikas. Das Land unter ihm war groß und grün. Verstreute einzelne Häuser, kleine Dörfer leuchteten im Sonnenlicht. In gewisser Weise war die Erde ja jetzt eine einzige Stadt, dachte er. Wenn Transport- und Kommunikationsmittel jeden Punkt auf dem Planeten im Handumdrehen erreichbar machen und das Ganze eine sozio-ökonomische Einheit ist, ist diese Welt eine Stadt – mit einer halben Milliarde Einwohner!
Am Himmel wimmelte es von Luftfahrzeugen – schimmernden Ovalen unter tiefblauem Himmel. Trevelyan ließ seinen Autopiloten steuern und rauchte nachdenklich eine Zigarette. Auf und über der Erde gab es in diesen Tagen eine Menge Bewegung. Man konnte auch kein seßhaftes Leben führen, wenn man einen Job in Afrika, einen – wahrscheinlich vorübergehenden – Wohnsitz in Südamerika hatte und mit seinen australischen und chinesischen Freunden einen Urlaub in der Arktis plante. Selbst die interstellaren Kolonisten, so bewußt primitiv sie auch blieben, reisten sehr viel auf ihrem Planeten herum. Es hatte keinen wirtschaftlichen Grund für den Drang des Menschen nach draußen gegeben, als der Hyperdrive erfunden worden war. Die Emigrationswelle war eine stumme Revolte von Leuten, die kein Bedürfnis mehr nach herkömmlicher Zivilisation hatten. Sie wollten irgendwie nützlich sein, wollten irgend etwas, das größer sein sollte als sie selbst und dem sie ihr Leben widmen konnten – wenn es nur sie selbst und ihre Kinder ernährte. Die kybernetische Gesellschaft hatte ihnen das weggenommen. Wenn man nicht zu den oberen zehn Prozent gehörte – zu den Wissenschaftlern oder hervorragenden Künstlern – dann konnte man nichts tun, was eine Maschine nicht viel besser gemacht hätte.
Also emigrierten sie. Der Auszug ereignete sich nicht über Nacht und war auch noch nicht zu Ende. Aber die Gewichte hatten sich verschoben, sowohl sozial wie genetisch. Und ein Planet, dessen Bevölkerung in ihrer Mehrzahl kreativ war, hatte notwendigerweise die Faktoren, welche auf lange Sicht die ganze Gesellschaft formen. Es gab wissenschaftliche Forschung; es gab Erziehung, welche das Denken des Menschen formt, und Kunst, das ihm Farbe verleiht. Vor allem gab es Verständnis für den ganzen riesigen turbulenten Prozeß.
Trevelyans Gedanken wurden unterbrochen, als der Autopilot ein Signal gab. Er näherte sich jetzt den Rocky Mountains, und Dianes Heim war nicht mehr weit.
Es war eine kleine Einheit mitten in den gewaltigen weißen Bergen. Als Trevelyan ausstieg, fuhr ihm die Kälte wie ein Messer durch seine dünne Kleidung. Er lief zur Tür, die ihn automatisch überprüfte, bevor sie sich öffnete, und zitterte noch vor Kälte, als er schon eingetreten war.
»Diane!« rief er. »Du suchst dir die unmöglichsten Orte für deine Wohnungen aus. Letztes Jahr war es das Amazonas-Becken ... Wann ziehst du zum Mars?«
»Sobald ich ihn multiplexieren möchte«, sagte sie. »Hallo, Micah.«
Der Kuß, den sie ihm gab, strafte den beiläufigen Ton ihrer Stimme Lügen. Sie war eine kleine Frau und hatte etwas Junges und doch Nachdenkliches an sich.
»Neues Projekt?«
»Ja. Wird ganz gut, glaube ich. Ich zeig es dir.« Sie drückte auf ein paar Knöpfe des Multiplex, und das Band begann zu laufen. Trevelyan setzte sich und nahm den Strom der Stimuli in sich auf – Farbmuster, Musik, Spuren von Geschmack und verwandten Gerüchen. Es war abstrakt, doch hatte er einen lebhaften Eindruck von Bergen – von allen Bergen, die es jemals gegeben hatte.
»Das ist gut«, sagte er. »Mir kam es vor, als wäre ich in zehn Kilometer Höhe am Rand einer Gletscherspalte.«
»Du nimmst das zu genau«, sagte sie und strich mit der Hand über sein Haar. »Es soll ein generalisierter Eindruck sein. Ich würde gern in richtiger Kälte arbeiten, aber das stört doch zu sehr. Ich muß mich mit Dingen wie eisblauer Farbe und Diskanttönen begnügen.«
»Und du behauptest, keine Ahnung von der kybernetischen Kunsttheorie zu haben?«
»›Kunst ist eine Kommunikationsform‹«, sagte sie mit komisch leiernder Stimme. »›Kommunikation ist die Übermittlung von Information. Information ist ein Muster in der Raum-Zeit, durch Selektionsregeln unterschieden von der Totalität aller möglichen Arrangements derselben Bestandteile und somit imstande, Bedeutungsträger zu sein. Bedeutung ist der induzierte Zustand des Wahrnehmenden und im Falle der Kunst in erster Linie emotional ...‹ Gott, was soll das, diese mathematische Logik kann mir gestohlen bleiben. Ich weiß, was funktioniert und was nicht, und das genügt.«
Da hatte sie recht, dachte er. Vielleicht verstand Braganza Diane nicht die synthetisierende Weltsicht der modernen Philosophie, aber das machte nichts. Sie betätigte sich schöpferisch.
»Du hättest mich wissen lassen sollen, daß du kommst, Micah«, sagte sie. »Ich hätte mich darauf eingerichtet.«
»Ich weiß es selbst erst seit kurzem. Man hat mich zurückgerufen. Ich bin gekommen, um Lebewohl zu sagen.«
Für einen langen Augenblick sagte sie nichts. Als sie dann sprach, tat sie es sehr leise und ohne ihn anzusehen: »Das hatte nicht noch Zeit?«
»Ich fürchte nein. Es ist ziemlich dringend.«
»Und wohin geht es?«
»Zur Sagittarius-Grenze. Danach kann alles mögliche passieren.«
»Verdammt«, stieß sie hervor. »Verdammt und noch einmal verdammt!«
»Ich komme wieder«, sagte er.
»Eines Tages«, antwortete sie dünn, »kommst du nicht mehr zurück.« Sie stand auf. »Nehmen wir's nicht zu tragisch. Du kannst doch heute abend bleiben? Gut, dann hol ich uns was zu trinken.«
Sie schenkte Wein in Gläser aus Mondkristall. Er stieß mit ihr an, hörte auf den schwachen, feinen Klang und hob dann sein Glas, bevor er trank. Eine rubinfarbene Flamme glühte in ihm auf.
»Gut«, sagte er anerkennend. »Was gibt's bei dir Neues?«
»Nichts. Bei mir gibt es nie sehr viel Neues, wie? Nun, ich hatte ein Angebot von einem Bewunderer. Er wollte sogar einen Kontrakt.«
»Wenn er der richtige Typ ist«, sagte Trevelyan langsam, »solltest du vielleicht darauf eingehen.«
Sie betrachtete ihn und sah einen großen, schlanken, durchtrainierten Mann. Sein Gesicht war dunkel und hakennasig. Zwischen den grünen Augen war eine tiefe Falte. Die meisten Leute hätten den Blick dieser Augen kalt genannt. Sein Haar war gerade und schwarz und schimmerte im Sonnenlicht etwas rötlich. Er hatte etwas Altersloses, Unerschütterliches an sich.
Die Agenten des Koordinationsdienstes waren jung, wenn sie anfingen. Supermänner waren sie nicht; sie waren noch schwerer zu verstehen als diese.
»Nein«, sagte sie. »Das werde ich nicht tun.«
»Es ist dein Leben.« Er verfolgte die Sache nicht weiter.
Der Anfang ihrer Verbindung lag schon einige Jahre zurück. Für ihn – das wußte sie – war es eine angenehme Abwechslung, nichts weiter; er hatte ihr keinen Kontrakt angeboten, und sie hatte ihn auch nicht darum gebeten.
»Was ist denn dieses Mal deine Direktive?« sagte sie.
»Ich weiß es eigentlich nicht genau. Das ist ja das Schlimme daran.«
»Heißt das, daß die Maschine es dir nicht sagt?«
»Die Maschine wußte es nicht.«
»Aber das ist unmöglich!«
»Nein, das ist es eben nicht. Es ist schon passiert, und wird mit zunehmender Häufigkeit wieder geschehen ...« Trevelyan verzog das Gesicht. »Das wirkliche Problem liegt darin, daß wir ein völlig neues Prinzip finden müssen. Soweit ich das beurteilen kann, könnte es sogar ein philosophisches Prinzip sein.«
»Ich verstehe nicht.«
»Es ist so«, sagte er. »Die Grundlage der Zivilisation ist Kommunikation. Man kann sogar sagen, daß das menschliche Leben auf Kommunikation und Rückkopplungen zwischen Organismus und Umwelt beruht, und zwischen Teilen des gleichen Organismus.
Und nun überleg dir einmal, was wir heute haben. Es gibt etwa eine Million Sterne, die der Mensch schon besucht hat, und täglich werden es mehr. Viele von diesen Sternen haben einen oder mehrere Planeten, die von Wesen mit einer der unsrigen vergleichbaren Intelligenz bewohnt werden. Freilich sind ihre Denk- und Handlungsmuster so verschieden von den unseren, daß es eines langen, mühsamen Studiums bedarf, bis man ihre fundamentale Motivation ergründet. Sich voll und ganz in sie einzufühlen, ist unmöglich. Und nun stell dir vor, daß sie ganz plötzlich mit einer interstellaren Zivilisation konfrontiert werden! Wir müssen genauso mit ihrer Zukunft rechnen wie mit unserer eigenen.
Erinnere dich an eure eigene Geschichte, Diane. Denk daran, was auf der Erde geschah, als noch souveräne Staaten unintegrierte, einander diametral entgegengesetzte Ziele verfolgten.«
»Das brauchst du mir nicht zu erzählen«, sagte sie etwas gekränkt.
»Tut mir leid. Ich versuche ja nur, dir den Hintergrund des Ganzen ins Gedächtnis zu rufen. Er ist geradezu phantastisch kompliziert, und das Problem wird immer noch schlimmer. Es geht darum, daß die Ortsveränderung der Kommunikation davonläuft. Wir müssen alle Komponenten unserer Zivilisation zusammenbringen. Du brauchst dich nur zu erinnern, was etwa im zweiten Mittelalter auf der Erde passierte. Heute könnte das zwischen ganzen Sternsystemen passieren!«
Einen Augenblick lang sagte sie nichts, drückte nur ihre Zigarette aus und zündete sich eine neue an. »Sicher«, sagte sie dann. »Genau um das zu verhindern, hat man ja die Union gegründet. Das ist der Sinn der Cordy-Arbeit.«
»Wir haben verschiedene Typen oder Ausrichtungen von Intelligenz in der Galaxis gefunden«, fuhr er fort, »aber sie unterscheiden sich nicht grundlegend voneinander. Hast du dich schon einmal gefragt, warum es keine Art gibt, deren durchschnittliche Intelligenz wesentlich höher als die des Menschen ist?«
»Ich ... nun, sind nicht alle Planeten etwa gleich alt?«
»Nicht ganz. Ein oder zehn Millionen Jahre bedeuten bei organischem Leben schon einen wesentlichen Unterschied. Nein, Diane, es ist eine Frage der natürlichen Grenzen. Das Nervensystem, speziell das Gehirn, kann nur einen gewissen Grad der Kompliziertheit erreichen. Dann wird das Ganze zu groß, als daß es sich noch selbst unter Kontrolle halten könnte.«
»Ich glaube zu verstehen, worauf du hinauswillst«, sagte sie. »Auch der Kapazität von Computer-Maschinen sind Grenzen gesetzt.«
»Mhm. Auch Systeme, die aus mehreren Maschinen zusammengebaut sind. Diane, wir können nicht so viele Planeten koordinieren, wie wir sie heute in unserem Zivilisationsbereich finden. Und dieser Bereich erweitert sich noch.«
Sie nickte. Ihre Miene war ernst, und ihr Blick verriet eine bange Ahnung, als er den seinen traf. »Du hast recht, aber was hat das mit deiner neuen Mission zu tun?«
»Die Integratoren sind überarbeitet und bei der Auswertung vorhandener Informationen um Jahre zurück«, sagte er. »Dinge können monströse Dimensionen annehmen, bevor die Integratoren etwas davon erfahren. Und wir, die Cordys aus Fleisch und Blut, sind nicht besser dran. Wir führen unsere Aufträge aus, können aber nicht alles überblicken. Der Integrator hat jetzt endlich einige Berichte über verschwundene Schiffe, botanische Anomalien auf scheinbar unbewohnten Sternen und über die Nomaden-Clans bearbeitet. Es könnte sich um ein Phänomen von unabsehbarer Bedeutung handeln.«
»Und was für ein Phänomen ...?« hauchte sie.
»Ich weiß es nicht«, antwortete er. »Die Maschine meinte, daß möglicherweise die Nomaden etwas im Schilde führen. Ich werde das feststellen.«
»Was habt ihr Cordys nur gegen die armen Nomaden.«
»Sie sind der schlimmste Störfaktor in unserer Zivilisation«, sagte er grimmig. »Sie kreuzen überall auf und tun alles mögliche, ohne an die Konsequenzen zu denken. Für die Erdenmenschen sind die Nomaden romantische Wanderer; für mich sind sie nichts als ein Übel.
Allerdings bezweifle ich, daß sie es sind, die dahinterstecken. Es muß da etwas von wesentlich größerer Bedeutung geben, vermute ich.« Er zündete sich eine Zigarette an. »Als erstes freilich nehmen wir uns einmal die Nomaden vor.«