5 – Der Sohn des Nomaden
»Nein!«
Thorkild Sean blickte seinem Vater in die Augen. »Ich sehe nicht ein, was dich das angeht.«
»Bist du wahnsinnig geworden?« Thorkild Elof schüttelte den Kopf wie ein wütender Stier. Bart und Mähne des Schiffsältesten schienen sich zu sträuben. »Ich bin dein Vater.«
Und Sean empfand etwas wie innere Bewegung. Ilaloas Finger umschlossen die seinen. Der Blick ihrer großen violetten Augen war voller Angst. Sean dachte daran, wie weit sich Elof und er in den letzten vier Jahren auseinandergelebt hatten. Seine Haltung straffte sich. »Ich bin ein freier Nomade und tue, was mir gefällt.«
»Das werden wir ja sehen!« Elof fuhr herum und hob die Stimme. »Hal! Hal, komm hierher zu mir!«
Joachim Henry sah zu, wie die Insassen seines Schiffes ihre Boote bestiegen. Den Männern sah man die Erregung der »Meuterei« noch an. Die verheirateten Frauen bewegten sich mit gemessener Würde; die meisten von ihnen hielten Babys im Arm. Die jüngeren Mädchen und Männer schauten sehnsüchtig in das Tal zurück.
»Sean«, flüsterte Ilaloa. Er faßte sie fester um die schlanke Taille und spürte ihr Zittern.
Joachim hörte Elofs Ruf. »Was ist denn?« murmelte er. Er zog seinen Kilt zurecht und ging zu den anderen.
»Hallo, Elof, Sean«, sagte er. »Wer ist die ...« Er unterbrach sich. »Die eingeborene Dame?«
»Was gibt's?« Mit dem Stiel seiner Pfeife deutete er zu seinen Leuten hinüber, die Schlange standen, um einsteigen zu können. »Ich habe alle Hände voll zu tun, um sie wieder aufs Schiff zu kriegen. Also mach's kurz.«
»Meinetwegen«, sagte Elof. »Sean möchte diese Eingeborene hier mitnehmen. Er möchte sie heiraten!«
»Was?« Mit ungläubiger Miene kniff Joachim die Augen zusammen. »Aber Sean, Sie kennen doch das Gesetz.«
»Wir verstoßen nicht gegen die Vorstellungen der Eingeborenen«, gab der Junge zurück. »Ilaloa steht es frei, mit mir zu kommen, wenn sie es will.«
»Dein Vater?« Joachims Stimme war leise und freundlich. »Dein Stamm? Was sagen denn die dazu?«
»Ich bin frei«, antwortete sie. Schon lange hatte er keine so angenehme Stimme mehr gehört. »Wir haben keine ... Stämme. Jeder von uns ist frei.«
»Nun ...« Joachim rieb sich das Kinn.
»Was ist denn hier los?«
Es war eine dunkle Frauenstimme, und Joachim wandte sich mit einem Gefühl der Erleichterung der Neuangekommenen zu. Wenn sie die Sache unter sich ausmachten, konnte er sich vielleicht aus all dem heraushalten.
Außerdem mochte er Nicki.
Ihr anmutig-wiegender Gang allein wirkte schon fast wie eine Herausforderung. Sie war blond, nicht kleiner als viele Männer und kräftig gebaut. Unter ihrer weichen, goldfarbenen Haut zeichneten sich geschmeidige Muskeln ab. Sie ging zu ihrem Schwager, dessen Miene Besorgnis verriet. »Was gibt es, Sean?«
Er begrüßte sie mit einem Lächeln. »Es ist Ilaloa«, sagte er. »Wir möchten beide auf dem Schiff mitfahren – zusammen.«
Nickis blaue Augen senkten sich in das tiefe Violett der Augen der Lorinyanerin. Dann lächelte sie und legte ihr die Hand auf die schmale weiße Schulter. »Sei willkommen, Ilaloa«, sagte sie. »Sean braucht jemanden wie dich.«
Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, um das Getuschel über Sean und Nicki zu widerlegen – Joachim wäre jetzt zufrieden gewesen. Landlouper MacTeague Nicki war achtzehn gewesen – das übliche Heirätsalter bei den Nomaden – als ihr Vater und Elof vereinbart hatten, daß sie Seans jüngeren Bruder Einar heiraten sollte. Die Verbindung war stürmisch gewesen; dann war Einar bei einem Erdrutsch auf Vixen ums Leben gekommen.
Seine Witwe war in einer ungewöhnlichen Lage. Eine Peregrinus und Thorkild durch ihre Heirat, aber ohne Kinder, die sie an die Familie gebunden hätte. Normalerweise würde Elof stellvertretend für ihren Vater gehandelt und einen neuen Gatten für sie gesucht haben, aber schon den bloßen Gedanken hatte sie aufs Allerheftigste zurückgewiesen. Sie lebte fast wie ein Mann, beschäftigte sich mit Weberei und Töpferei und kümmerte sich auf den von ihnen besuchten Planeten sogar selbst um den Verkauf. Und das Irritierendste für die Gemeinschaft war ihr Erfolg.
Nach seiner eigenen Scheidung vor zwei Jahren war Sean mit Nicki zusammengezogen. Sie hatten getrennte Räume, und jeder respektierte das Privatleben des anderen. Das Nomadengesetz verbot ihnen als Insassen desselben Schiffes eine Heirat. Seit dieser Zeit war der Klatsch über sie nicht mehr verstummt.
Elof zog ihn beiseite. »Der Junge ist weich im Kopf, Skipper«, sagte er. »Bestehen Sie auf dem Gesetz. Er wird darüber hinwegkommen.«
»Hm. Ich weiß nicht.« Joachim sah den älteren Thorkild von der Seite her an. »Wie kam es denn zu dieser Geschichte?«
»Nun, Sie wissen, wie er sich in diese nerthusische Schönheit verknallte. Mir war es nicht recht, aber ich wollte ihm auch nicht allzuviel dreinreden. Für einen Settler war sie auch gar nicht so schlecht, bis sie ihn dann verließ. Seitdem aber – ha, Sie wissen ja, wie Sean seit dieser Zeit ist. Niemand kommt mit ihm aus außer Nicki, und das ist nicht gut – haben denn beide keinen Sinn für Anstand und Schicklichkeit? Dann verschwindet der Junge bei diesem Treffen, zeigt sich kaum noch, und ich hatte doch schon alles in die Wege geleitet, um ihm eine nette Frau von den Trekker Petroffs zu besorgen. Und jetzt kommt er mit der daher!«
»Nun«, sagte Joachim mild, »er war schon verheiratet. Gemäß den Bestimmungen ist er damit erwachsen.«
»Sie kennen das Gesetz, Hal. Und Sie kennen auch die biologische Seite. Verschiedene Arten können sich nicht zusammentun. Es würde keine Kinder geben – nur endlose Probleme.«
Ja, dachte Joachim mißmutig, das wäre das eine. Aber was wissen wir denn eigentlich wirklich von dieser Rasse?
»In Seans und meiner Wohnung gibt es genügend Platz«, sagte Nicki zu Ilaloa. »Wir werden gut miteinander auskommen.«
»Eine Eingeborene kann man nicht heiraten und auch nicht adoptieren«, knurrte Elof.
Seans Gesicht war weiß und starr. »Ilaloa kann sich nützlich machen, Skipper. Ich glaube, ihre Leute sind Telepathen.«
»Wie?« Joachim starrte ihn an. Der Wind trug das Wort mit sich fort, und jemand, der gerade vorüberging, blieb stehen – ging dann wieder weiter.
»Tatsächlich?« fragte der Kapitän die Lorinyanerin.
»Ich weiß nicht«, antwortete sie. Ihr feines Haar wehte um ihr schmales Gesicht, als hätte es eigenes Leben. »Manchmal wissen wir sogar über euch bestimmte Dinge. Ich habe kein Wort dafür, aber wir können – fühlen.«
»Bei unserer Landung waren diesmal keine Eingeborenen da«, sagte Sean eifrig, »aber Ilaloa wußte, daß die Peregrinus zum Großen Kreuz kommen würde. Ein Telepath – welchen Grades auch immer – kann eine große Hilfe sein.«
Oder ein großes Problem, dachte Joachim. Er erweckte die Glut seiner Pfeife wieder zum Leben und ließ seine Augen auf den Thorkilds ruhen. Ilaloa interessierte ihn. Wenn das, was sie sagte, stimmte – daß ihre Leute wegen ihres Weggangs keine Schwierigkeiten machen würden – und das mußte er annehmen, dann konnte sie vielleicht wirklich von Nutzen sein. Neurosensibilität jeglichen Grades war ein keineswegs zu verachtendes Talent.
»Wir müssen vernünftig sein«, sagte er. »Wir wollen keinen Bruch in der Familie, Elof.«
»Der Kapitän ist der Richter«, antwortete der ältere Mann kühl, »aber Sie haben das Gesetz auch schon früher zur Genüge gebeugt.«
»Nun, Sean«, sagte Joachim, »natürlich kannst du sie nicht heiraten. Das Gesetz ist da ganz eindeutig. Andererseits gibt es keine Bestimmung, die dir verböte« – er grinste verschmitzt – »eine Art Schoßtier zu halten.«
Er hatte gedacht, daß Ilaloa beleidigt sein würde, aber sie lachte nur fröhlich und legte den Arm um Sean. »Danke«, sagte sie. »Ich danke Ihnen.«
Sean schaute verlegen drein, aber Nicki lachte nur leise.
»Keinerlei Ursache«, sagte Joachim. »Ich interpretiere nur das Gesetz.«
»Vater ...« sagte Sean schüchtern. »Vater, wenn du sie erst einmal kennengelernt hast ...«
»Schon gut.« Thorkild Elof wandte sich ab und ging mit hoch aufgerichtetem Haupt davon. Joachim sah ihm mit einer Anwandlung von Mitleid nach. Für den alten Mann war es ein harter Schlag. Seine Frau war tot, seine Töchter verheiratet, der eine Sohn war verunglückt. Und nun errichtete der andere eine Mauer zwischen ihnen. Ich weiß, wie einsam ein Mann werden kann, dachte Joachim.
»Das wäre dann wohl erledigt«, sagte der Captain. »Alsdann, an die Arbeit, Sean. Wir haben einiges aufzuladen.« Er schlenderte zum Schiff zurück.
»Das hat er gut gemacht«, sagte Nicki. »Und noch einmal willkommen, Ilaloa.«
Sean und Ilaloa sahen einander an. »Du kannst mit mir kommen«, sagte der Mann zögernd, als könne er es noch nicht recht glauben. »Du wirst doch mitkommen?«
»Ja«, sagte sie.
Ihr Blick schweifte über das Tal; es war, als lauschte sie dem Rauschen der Bäume und dem entfernten Wellenschlag der See. Ein Schaudern durchlief sie, und sie bedeckte kurz das Gesicht mit den Händen. Dann wandte sie sich wieder Sean zu, und ihre Stimme schien aus weiter Ferne zu kommen: »Gehen wir also.«
Einen Augenblick lang schloß er sie in die Arme. Dann gingen sie Hand in Hand zu den Booten hinüber.