6 – Ein unbesonnener Agent
Die Wirtschaft der Grenzplaneten und damit auch ihre Produkte sind so verschieden von denen der Erde wie der Rest ihrer Zivilisation. Wie die meisten im Laufe der Menschheitsgeschichte neu entdeckten Gebiete lassen sie eine Rückkehr zu älteren, primitiveren Gesellschaftsstrukturen erkennen. Freilich handelt es sich nicht um eine Rekonstruktion der Vergangenheit.
Selbst mit den schnellsten Hyperdrive-Schiffen dauerte die Fahrt von Sol zur nur vage definierten Sagittarius-Grenze der Union zwei Monate. Für die Bedürfnisse der Solarier war in ihrer Heimat ausreichend gesorgt. Sie hatten eigentlich keinen Grund, sich Güter von den Sternen zu holen. Die interstellaren Kolonisten andererseits mußten für sich selbst sorgen.
Die Kolonisten verstreuten sich über viele Planeten. Mit ihren Televisoren und Gravitations-Flugkörpern waren sie nicht isoliert, wohnten aber weit voneinander entfernt. Ein nicht allzu umfangreicher, aber lebhafter Handel entwickelte sich zwischen den Sternen dieses Sektors, durchgeführt von Frachtschiffen oder solchen Nomaden, die nicht unterwegs hinaus in die Unendlichkeit jenseits der Grenzen waren. In gewissem Umfang fanden auch Güter von Sol selbst oder anderen hochzivilisierten Systemen ihren Weg bis zur Grenze. Das bedeutete Raumhäfen, Lagerhäuser, Depots, Service- und Reparaturwerkstätten, Geschäfte – und damit auch lokale Roboterfabriken, Verwaltungszentren und nicht zuletzt Unterhaltungsindustrie. Die Stadt, ein vergessenes Phänomen der Solar-Geschichte, wurde geboren. Eine auf jedem Planeten oder sogar eine pro System genügte meistens. Die Stadt auf Carstens Stern III, Nerthus, hieß Stellamont. Joachim wollte dorthin, um Vorräte aller Art sowie Munition an Bord zu nehmen.
Die Fahrt dauerte etwa drei Wochen.
Die Peregrinus nahm Verbindung mit dem Robot-Monitor von Nerthus auf und erhielt eine Kreisbahn um diese Welt zugewiesen. Ihr Besuch sollte nur kurz sein, und so blieben die meisten Besatzungsmitglieder an Bord. Joachim und ein paar Helfer gingen in mehreren Fahrzeugen »hinunter«, um Tauschhandel zu treiben, und ein weiteres Boot enthielt einige Schiffsinsassen, die durch Losentscheid Landeurlaub bekommen hatten. Die anderen fluchten vor sich hin und fuhren mit ihren gewöhnlichen Verrichtungen fort. Unter anderem gab es im Haupt-Gesellschaftsraum der Peregrinus ein Poker- und ein Würfelspiel, die, mit Unterbrechungen, beide schon so lange gedauert hatten – nämlich etwa ein Jahrhundert – daß ihre Fortsetzung beinahe zu einem Fetisch geworden war.
Joachims Erfolg als Kapitän basierte auf einer Anzahl von Tricks, zu denen auch die edle Kunst des Losschwindels gehörte. Diejenigen Mitglieder der Mannschaft, die seiner Ansicht nach den Ausgang am meisten brauchten, bekamen ihn auch. Dieses Mal waren Sean und Ilaloa darunter. Das Mädchen von Lorinya hatte sich in der letzten Zeit nicht sehr wohl gefühlt. Vielleicht würde ihr ein wenig blauer Himmel helfen.
Als er festen Boden betreten hatte, zog Sean eine Lunge voll Nerthus-Luft ein und lächelte auf Ilaloa hinunter. »Ist das besser, Liebling?«
»Ja.« Ihre leise Stimme war über den Lärm des Raumhafens hinweg kaum zu vernehmen.
Sean schüttelte ein wenig bitter den Kopf. »Du wirst dich dran gewöhnen«, sagte er. »Eine derartige Umstellung dauert natürlich einige Zeit.«
»Ich bin glücklich«, beharrte sie.
Die Erinnerung an ein anderes Gesicht und eine andere Stimme stand plötzlich vor ihm. Er kniff die Lippen zusammen und verließ mit langen Schritten den Raumhafen.
Sie ließen die Betonfläche des Raumhafens hinter sich und betraten eine breite Avenue. Es war eine geschäftige Szene; Menschen und nichtmenschliche Wesen eilten hin und her, Autos und Lastwagen füllten die Straße mit lautem Gedröhn, Luftfahrzeuge flogen darüber hinweg. Ilaloa preßte die Hände gegen die Ohren. Sie lächelte ihn entschuldigend an, aber ihr Blick war traurig.
Selbst in dieser weltstädtischen Menge fielen sie auf. Sean trug die Kleidung der Nomaden – Kilt, Halbstiefel, weites Hemd und eng anliegende Hosen, Umhang und Mütze. Ilaloa hatte trotz ihres Widerwillens gegen Kleider eine leichte, lose hängende Abart der Frauenkleidung angelegt. Vom dunklen Blau und Rot dieser Kleidung hob sich ihre hellhäutige Schönheit eindrucksvoll ab. Beide trugen Pistolen, wie sie es, außer auf Rendezvous, allgemein taten.
»Sean, Sean, laß mich gehen.«
Er zog Ilaloa in einen Hauseingang. Als er ihr in die Augen sah, war ihr Blick leer.
»Laß mich ein wenig allein, Sean. Und wäre es nur für ganz kurze Zeit. Oh Sean, ich brauche die Bäume, die Sonne!«
Sean war erschreckt – wußte nicht mehr, was er sagen sollte. Endlich begriff er: Ilaloa konnte die Stadt nicht ertragen. Sie brauchte Ruhe.
»Aber ... selbstverständlich«, sagte er. »Natürlich. Wir fahren ...«
»Nein, Sean, allein. Ich möchte ... nachdenken? Ich komme wieder.«
»Aber natürlich, wenn du das möchtest.« Er lächelte, aber seine Lippen wollten nicht mitmachen. »Also komm.«
Er führte sie zu einer öffentlichen Aircar-Station, holte eine seiner Unions-Kreditnoten hervor und erklärte Ilaloa, wie das Fahrzeug zu steuern sei. Bis zum nächsten völlig unbewohnten Gebiet war es nicht allzu weit; an der Station würden sie sich wieder treffen.
Sie küßte ihn, lachte laut und schlüpfte in den Aircar.
Sie ist eben ein Naturkind, dachte er. Er wagte nicht, daran zu denken, ob es mit Ilaloa genauso gehen würde wie mit seiner ersten Frau.
Ich werde mich betrinken, dachte er.
Mit weit ausgreifenden Schritten ging er zum alten Teil der Stadt. Hier bestand niemand auf dem Gesetz. Dies war das Viertel der Eingeborenen, weniger auf Grund von Diskriminierung als durch ihre freie Wahl. Die Eingeborenen waren durchaus freundlich, fühlten sich aber in einem von Menschen bewohnten Gebiet nicht wohl. Große zweibeinige, vierarmige Wesen mit grünlichem Pelz beobachteten ihn mit ausdruckslosen goldenen Augen, während er unter Bäumen und durch blühende Weinstöcke dahinschritt. Bis auf einen hölzernen, von einem der sechsbeinigen »Ponies« von Nerthus gezogenen Karren waren keine mechanischen Apparate zu sehen.
Die Comet Bar stand am Rande des Viertels, wo Gras und Pflaster sich trafen. Sean betrat das niedrige Gebäude. Ein paar Kolonisten tranken an einem Ecktisch Bier; ansonsten war die Bar leer. Sean tippte auf der Wählkonsole Whisky-Ersatz ein und setzte sich. Er wollte jetzt keine Stille.
Die Tür öffnete sich für einen Neuankömmling und ließ einen kurzen Sonnenstrahl in das Zwielicht des Raumes. Sean besah sich den Mann. Daß er von Sol war, verriet seine Kleidung: Knie-Breeches und weites Hemd, leichte Schuhe und leichter Mantel mit Kapuze, alles in blassen Blau- und Grautönen. Was am meisten an ihm auffiel, war freilich seine geschmeidige Kraft.
Er fing Seans Blick auf, und nachdem er sich einen Drink aus dem Automaten geholt hatte, kam er herüber und setzte sich neben den Nomaden. »Hallo«, sagte er. Sein Akzent war unverkennbar. »Von euch sieht man hier nicht sehr viele.«
»Wir schauen hin und wieder vorbei«, knurrte Sean.
»Ich war ein paar Wochen in Stellamont«, sagte der Fremde. »Hatte hier einiges zu erledigen. Aber jetzt ist alles geschafft, und ich möchte ein bißchen feiern. Ob Sie mir wohl irgend etwas empfehlen können, wo es ein bißchen locker zugeht?«
»Was könnte ein Sol-Mensch hier zu erledigen haben?« fragte Sean.
»Forschung«, sagte der andere. »Ja, so könnten Sie es nennen.« Er lachte in sich hinein und hielt ihm eine Packung Zigaretten hin. »Rauchen Sie?«
»Mmm ... danke.« Sean nahm eine Zigarette und zündete sie an. Tabak war teuer an der Grenze; nur derjenige, der von der Erde kam, schien den richtigen Geschmack zu haben.
Sean fragte sich, ob das, was man über die übertriebenen Vorstellungen der Solarier von Privatsphäre sagte, der Wahrheit entsprach. »Wie heißen Sie?« fragte er. »Ich kann Sie ja nicht nur Sol-Mensch nennen.«
»Oh, von mir aus können Sie das, wenn Sie wollen. Aber mein Name ist Trevelyan Micah. Und Ihrer?« Seine schwarzen Brauen hoben sich.
»Peregrine Thorkild Sean. Die ersten beiden Namen könnten Sie auf meiner Kleidung lesen, wenn Sie mit den Symbolen vertraut wären. Darunter steht mein Dienstrang: Leutnant. Ich bin Pilot und Schütze.«
»Ich wußte nicht, daß die Nomaden so streng organisiert sind.«
»Es hat nur dann etwas zu bedeuten, wenn es zu einem Konflikt kommt.« Sean leerte sein Glas, warf es in den nächsten Abfallschacht und wählte ein neues. Trevelyan hatte noch kaum an seinem genippt. »Zum Beispiel, wenn wir auf feindselige Eingeborene treffen oder auf ein Anderling-Schiff, das uns nicht gewogen ist. Dann hat der Dienstrang seine Bedeutung.«
»Ich verstehe. Interessant. Normalerweise sind Sie aber doch Kaufleute?«
»Wir sind alles und jedes, mein Freund. Wir können nicht alles, was wir brauchen oder möchten, selbst herstellen; wir fahren also herum, kaufen hier etwas Billiges, tauschen es dort gegen etwas anderes ein und verkaufen schließlich das, was wir haben, gegen Unions-Kreditnoten. Oder aber wir beuten eine Zeitlang selbst eine Mine aus, obwohl wir gewöhnlich die Eingeborenen dort für uns arbeiten lassen.«
Trevelyan lächelte. »Erlauben Sie.« Er ließ dem Nomaden einen weiteren Drink kommen. »Erzählen Sie doch weiter. Ich habe mich oft gefragt, warum Ihre Leute ein so hartes, unstetes Leben führen.«
»Warum? Weil wir Nomaden sind, das genügt.«
»Mmmmm-hm.« Trevelyan lächelte. »Das erinnert mich an einen Aufenthalt im Sirius-System ...« Er erzählte eine Anekdote, und sie begannen, Erfahrungen auszutauschen. Trevelyan trank mäßig; dennoch wurde seine Zunge allmählich schwer.
»Wie wär's zur Abwechslung mit etwas solidem Stoff?« schlug er schließlich vor.
»Sie sind ja schon ganz schön in Fahrt«, sagte Sean, der noch nicht die geringsten Sprachschwierigkeiten hatte. »Aber meinetwegen, gehen wir wo hin, wo was los ist.«
»Wunderbar«, meinte Trevelyan freundlich.
Sie aßen in einer kleinen, lauten Taverne, die sich bei Sonnenuntergang mehr und mehr füllte. Trevelyan versuchte auf plumpe Art, sich an die Besitzerin heranzumachen. Beinahe kam es zu einer Schlägerei, bevor man sie eisig des Lokales verwies.
»Sie sind ein netter Bursche«, sagte Sean lachend. »Ein richtiger Kerl, Micah.«
»Elektronenhüllen«, sagte Trevelyan rätselhaft. »Wir sind nur ein paar kleine Elektronen und hüpfen von Hülle zu Hülle.«
Sie gingen die Straße hinunter und machten Halt in den meisten der Bars, die sie säumten. Sie waren in einem dunklen, rauchigen Kellerraum, als Trevelyan den Kopf auf die Arme legte, töricht zu kichern begann und dann zusammensackte. Sean überlegte einen Moment, ohne recht zu wissen, was er nun tun sollte.
»Das macht vier Credits sechzig«, sagte eine Stimme von oben. Sean sah einen bärtigen Riesen, mit dem offensichtlich nicht zu spaßen war. »Das haben Sie jetzt beisammen. Außer, Sie wollen noch was anderes.«
»Äh ... nein.« Sean suchte in seiner Tasche. Leer.
»Vier Credits sechzig«, sagte der Riese.
»Das ... das muß mein Freund da haben.« Sean schüttelte den Solarier, der sich nicht mehr gerührt hatte. Die Schulter des anderen war hart unter seinen Fingern, aber der dunkle Kopf bewegte sich schlaff auf den verschränkten Armen. Sean starrte die verschwommene Gestalt des Barkeepers an, überlegte angestrengt und fand dann endlich die Lösung des Problems.
Er beugte sich über den Tisch und suchte in der Hüfttasche des Solariers, bis er seine Brieftasche fand. Er öffnete sie, schaute hinein.
Lumineszierend strahlten ihm die Worte auf einer Karte entgegen:
TREVELYAN MICAH
Agent A-1392-zx-843
KOORDINATIONSDIENST STELLARUNION
Und dazu der von einem Ring umgebene Stern, der mit kaltem Feuer zu brennen und sich vor ihm im Raum zu drehen schien ...
Ein Cordy!
Langsam und mühsam bezahlte Sean die Zeche und steckte dann die Brieftasche wieder dahin, wo er sie gefunden hatte. Er konnte nicht mehr klar denken; er brauchte jetzt schnell eine Ernüchterungspille. Vielleicht hatte dies nichts zu bedeuten, aber ...
»Trevelyan! Trevelyan Micah!« sagte Sean. »Ich bin der Distriktschef. Wasssiss Ihre Misschion auf Nerthus? Wachen Sie auf, Trevelyan! Wasssiss Ihre Misschion?«
»Nomaden«, murmelte die Stimme. »Soll ein Nomaden-Schiff kapern, Schschef. Lassensiemich ... schlafen.«