20. Kapitel
Im Pazifik gibt es eine kleine Insel nicht weit vom Äquator entfernt, die am Ende der Welt zu liegen scheint. Die alten Schiffahrtsrouten und später auch die Flugrouten verliefen weit hinter dem Horizont, und das Atoll gehörte nur der Sonne, dem Wind und dem Geschrei der Möwen.
In einer kurzen Zeitspanne seiner Geschichte hatte es auch Menschen gesehen. Die Korallen hatten die Insel aus dem Meer entstehen lassen, die Tage und Nächte hatten die Oberfläche in fruchtbaren Boden verwandelt, und die Samen der Pflanzen, die jetzt auf diesem Boden gediehen, waren vom Wind über das Meer getragen worden. Als die Brandung einige Kokosnüsse anschwemmte, wuchsen bald darauf Palmen auf der Insel. Sie standen bereits seit Jahrhunderten, als das erste Kanu am Horizont erschien.
Die Boote waren mit Polynesiern besetzt – großgewachsene braune Männer auf der langen Suche nach Hawaiki, der Schönen. Die Männer waren tapfer und fürchteten sich nicht vor der unendlichen Einsamkeit des Meeres, denn sie hatten die Sterne und die Strömungen, nach denen sie ihren Kurs richteten, und ihre starken Arme, um damit zu paddeln. Nachdem sie ihre Boote ans Ufer gezogen und dem Haifischgott Nan ein Opfer dargebracht hatten, flochten sie sich Hibiskusblüten in das lange Haar und tanzten am Strand, denn sie hatten die Insel gesehen und sie gut gefunden.
Dann fuhren sie wieder fort, aber im nächsten Jahr – oder im übernächsten oder dem Jahr danach, denn das Meer ist groß und die Zeit kennt keine Grenzen – kamen sie gemeinsam mit anderen zurück, brachten Frauen, Kinder und Haustiere mit und besiedelten die Insel. Wenig später erhoben sich die ersten Strohhütten am Strand unter den Palmen, und nackte braune Kinder tollten in der Brandung, und die Fischer fuhren in die Lagune hinaus. So verstrichen hundert oder zweihundert Jahre, bevor die weißen Männer kamen.
Ihre großen Kanus mit den weißen Schwingen liefen die friedliche Insel nur wenige Male an, weil sie nicht allzu bedeutend war; aber sie brachten trotzdem wie überall ihre Ladung aus Windpocken, Masern und Tuberkulose an Land, so daß die braune Bevölkerung erheblich dezimiert zurückblieb. Später entwickelte sich eine gewisse Widerstandsfähigkeit gegen diese Krankheiten, so daß es jetzt allmählich Zeit für Kopraplantagen, Religion, Seife und internationale Konferenzen war, auf denen darüber entschieden wurde, ob dieses Atoll gemeinsam mit vielen anderen London, Paris, Berlin oder Washington gehören sollte – große Dörfer am anderen Ende der Welt.
Schließlich wurde ein Modus vivendi gefunden, zu dem Kopra, Christentum, Tabak und Handelsschoner gehörten. Die Bewohner der Insel, die unterdessen bereits aus einem Gemisch verschiedener Rassen bestanden, waren einigermaßen zufrieden, obwohl sie jetzt mehr Sorgen als früher hatten; und als einer ihrer jungen Männer, der durch eine Verkettung seltsamer Zufälle in Amerika studiert hatte, zurückkehrte und den alten Zeiten nachtrauerte, wurde er von den Leuten ausgelacht.
Dann entschied irgend jemand in einem Büro auf der anderen Seite der Welt, daß die Insel gebraucht werde. Vielleicht für einen Marinestützpunkt oder als Versuchsstation – die Weißen führten so viele Kriege und verbrachten den Rest ihrer Zeit damit, neue vorzubereiten. Es spielt jetzt keine Rolle mehr, für welche Zwecke das Atoll damals benötigt wurde, denn inzwischen leben keine Menschen mehr dort. Die Eingeborenen wurden irgendwohin umgesiedelt und hatten noch jahrelang Heimweh. Darum kümmerte sich allerdings niemand, denn das Atoll wurde zur Verteidigung der Freiheit des Abendlandes benötigt, und nach einiger Zeit waren die letzten Angehörigen der alten Generation gestorben, und die jungen Leute dachten nicht mehr daran. Inzwischen störten die Weißen das friedliche Leben der Möwen, indem sie Gebäude errichteten und die Lagune mit Schiffen füllten.
Dann wurde die Insel aus irgendeinem unwichtigen Grund wieder verlassen. Vielleicht war ein Vertrag daran schuld, vielleicht aber auch eine Niederlage im Krieg oder ein wirtschaftlicher Zusammenbruch. Der Wind und der Regen und die Ranken waren nie besiegt worden. Jetzt machten sie sich daran, alle Spuren der Menschen zu beseitigen.
Einige Jahrhunderte lang hatten die Menschen die Zeitlosigkeit der Tage und Nächte, des Regens, der Sonne, der Sterne und der Hurrikane zerstört, aber jetzt waren sie wieder verschwunden. Die Brandung stürmte gegen die Riffe an, und Unterwasserströmungen nagten an den Fundamenten der Insel, aber die Korallenpolypen wucherten weiter. Die Insel würde noch einige Jahrtausende oder noch länger bestehen, so daß wirklich kein Grund zur Eile vorhanden war. Tagsüber sprangen die Fische aus dem Wasser der Lagune, und Möwen lauerten auf ihre Beute, und die Bäume und der Bambus wuchsen rascher denn je; nachts schien der Mond silbern auf die Wellen, die sich am Strand brachen, und ein einzelner Hai zog eine Leuchtspur hinter sich her, während er um die Insel schwamm. Überall herrschte Frieden.
Das Flugzeug senkte sich lautlos durch die Dunkelheit herab. Unsichtbare Radarfinger tasteten den Boden ab, und eine leise Stimme sprach in ein Mikrophon. »Tiefer ... hier herüber ... okay, langsam weiter.« Das Flugzeug setzte in einer Lichtung auf, dann stiegen zwei Männer aus.
Andere kamen ihnen entgegen – undeutliche Schatten in der mondhellen Nacht. Einer von ihnen sprach mit dem Australiern eigentümlichen Akzent: »Doktor Grunewald, Doktor Manzelli, darf ich bekannt machen – Major Rosowski ... Sri Ramavashtar ... Mister Hwang Pu-yi ...« Er schien alle Namen von einer Liste abzulesen; einschließlich der beiden Amerikaner waren etwa ein Dutzend Männer auf der Insel versammelt.
Noch vor nicht allzu langer Zeit wäre diese Versammlung eigenartig, wenn nicht sogar unvorstellbar gewesen: ein russischer Offizier, ein indischer Gelehrter, ein französischer Philosoph und Theologe, ein irischer Politiker, ein chinesischer Kommissar, ein australischer Ingenieur, ein schwedischer Bankier, ein ägyptischer Biologe, ein deutscher Mathematiker, ein argentinischer Gutsbesitzer und die beiden amerikanischen Physiker – die ganze Erde schien sich hier insgeheim zu einer Verschwörung versammelt zu haben. Aber alle Männer hatten sich seit der Veränderung nicht mehr mit dem Leben zurechtgefunden, und ihre gemeinsame Aufgabe sollte es sein, wieder den vorherigen Zustand herzustellen, dem sie alle nachtrauerten.
»Ich habe das Steuergerät mitgebracht«, sagte Grunewald. »Wie steht es mit dem Rest?«
»Alles hier. Wir können jederzeit anfangen«, erklärte ihm der Ire.
Grunewald warf einen Blick auf seine Uhr. »Noch zwei Stunden bis Mitternacht«, stellte er fest. »Sind wir bis dahin fertig?«
»Wahrscheinlich«, antwortete der Russe. »Wir haben schon fast alles zusammengebaut.«
Während sie zum Strand hinuntergingen, zeigte er auf den schwarzen Schatten, der wie ein häßlicher Fleck in der Lagune lag. Er und ein Kamerad hatten den alten Dampfer vor Monaten gekauft und ihn mit allen möglichen automatischen Maschinen ausgerüstet, so daß sie ohne zusätzliche Besatzung auf die lange Reise gehen konnten. Das war ein Teil ihrer Aufgabe gewesen: nicht allzu schwierig für zwei entschlossene Männer. Sie waren durch die Ostsee gedampft, hatten einen Teil ihrer Ladung in Schweden an Bord genommen und hatten später Frankreich, Italien, Ägypten und Indien angelaufen, bevor sie Kurs auf diese Insel nahmen. Seit einigen Wochen waren sie nun damit beschäftigt gewesen, das Raumschiff und seine Ladung aus vorgefertigten Elementen zusammenzubauen.
Etwas weiter landeinwärts standen einige Zelte, hinter denen sich das Raumschiff erhob – es sah im Mondschein wie ein grauer Pfeil aus, dessen Spitze zu den Sternen wies. Grunewald betrachtete es mit gemischten Gefühlen: Begeisterung über diesen Erfolg, Bewunderung für eine gelungene Konstruktion – und Bedauern darüber, daß er bald nicht mehr in der Lage sein würde, die transzendente Logik zu begreifen, der das Raumschiff seine rasche Entstehung verdankte.
Er sah zu Manzelli hinüber. »Ich beneide Sie, mein Freund«, sagte er.
Einige der Männer sollten das Raumschiff in die vorgesehene Kreisbahn steuern, letzte Korrekturen vornehmen und den Generator in Betrieb setzen, aus dem die Ladung bestand. Dann würden sie sterben, denn die Zeit hatte nicht ausgereicht, um eine Rückkehrmöglichkeit zu schaffen.
Grunewald spürte auch jetzt wieder die drängende Hast, die ihn seit Wochen kaum noch schlafen ließ. Das nächste Raumschiff würde bald die Werft verlassen, und an anderen Orten entstanden weitere Schiffe gleicher Art. Dann ließ sich der Lauf der Dinge nicht mehr aufhalten. Heute nacht hatte die Menschheit – die menschliche Menschheit – ihre letzte Chance; es würde keine zweite geben, wenn dieser Versuch fehlschlug.
»Ich glaube, daß die Welt vor Sonnenaufgang vor Erleichterung weinen wird«, sagte er.
»Nein«, widersprach der Australier lächelnd. »Wahrscheinlich rollen zunächst einige Köpfe. Sie müssen ihr Zeit lassen, allmählich zu erkennen, daß sie gerettet worden ist.«
Nun, dann würde es genügend Zeit geben. Das Raumschiff war mit allen nur denkbaren Abwehrmitteln ausgerüstet, die eine ›normale‹ Menschheit frühestens in einem Jahrhundert überwinden konnte. Seine Roboter würden alle Raketen und Schiffe zerstören, die sich ihm von der Erde aus näherten. Und die Menschen würden endlich Gelegenheit haben, wieder zu Atem zu kommen und klar zu denken; und danach würden sie niemals mehr versuchen, die Raumstation zu zerstören.
Die anderen Männer entluden das Flugzeug und schleppten die Kisten heran. Dann machten Grunewald und Manzelli sich an die Arbeit; sie packten die Kisten aus und überprüften die Geräte ein letztesmal. Irgend jemand hatte die Scheinwerfer eingeschaltet, und in ihrem hellen Licht vergaßen sie den Mond und das Meer vor ihnen.
Aus dem gleichen Grund wurden sie auch nicht auf den schwarzen Schatten aufmerksam, der geräuschlos in ihrer Nähe schwebte. Erst als seine Stimme ertönte, sahen sie zu ihm auf.
Die durch Lautsprecher verstärkte Stimme klang ruhig und fast ein wenig mitleidig: »Tut mir leid, daß ich Sie enttäuschen muß, aber Sie haben genügend angestellt.«
Grunewald starrte nach oben und glaubte, sein Herz müsse stehenbleiben. Der Russe zog eine Pistole und schoß, aber der Knall der Waffe ging in dem Rauschen der Brandung unter. Nur die Vögel kreischten erschrocken und flogen auf.
Manzelli fluchte, drehte sich um und verschwand im Innern des Raumschiffs. Dort waren Kanonen installiert, denen kein anderes Schiff gewachsen sein konnte, und ... Grunewald, der noch immer wie versteinert am gleichen Platz stand, sah die Mündung einer Kanone, die sich plötzlich bewegte. Er warf sich zu Boden. Die Kanone feuerte Atomgranaten ab!
Aus dem Schiff über ihnen drang ein schmaler Lichtstrahl, dessen gleißende Helligkeit fast unerträglich schmerzte. Die Mündung der Kanone glühte weiß auf, dann schmolz das ganze Rohr. Der Lichtstrahl bewegte sich weiter über den Rumpf des Schiffes und erreichte das Heck, in dem der Antrieb eingebaut war. Dort blieb er minutenlang, bis das Metall zu schmelzen begann, so daß die Männer am Strand schützend die Hände vor das Gesicht hielten.
Jetzt können wir nicht mehr starten ... Grunewald war zu keinem anderen Gedanken mehr fähig.
Die Außenwand des Raumschiffs glühte jetzt bereits dunkelrot. Der Schwede stieß einen lauten Schrei aus und riß sich einen Ring vom Finger. Manzelli taumelte weinend aus dem Schiff. Das Glühen wurde schwächer, aber die Männer warteten noch immer unbeweglich. Nur Manzellis Schluchzen durchbrach die Stille.
Das andere Schiff – ebenfalls ein Raumschiff, sahen sie jetzt – blieb hoch über ihnen, aber ein kleineres Boot schwebte aus seinem Rumpf zu Boden. In dem Boot standen mehrere Männer und eine Frau. Die Verschwörer blieben unbeweglich auf ihren Plätzen, als das Boot federleicht aufsetzte.
Dann trat Grunewald mit hängenden Schultern einen Schritt nach vorn und blieb wieder stehen. »Felix«, sagte er tonlos. »Pete. Helga.«
Mandelbaum nickte schweigend und wartete dann, bis die drei Männer, die früher Polizisten gewesen waren, die Waffen der Verschwörer eingesammelt hatten. Dann kam er langsam auf Grunewald zu. Pete und Helga folgten ihm.
»Sie haben doch nicht etwa erwartet, daß Sie mit diesem Plan Erfolg haben würden?« erkundigte Mandelbaum sich. Er schüttelte verständnislos den Kopf. »Unsere Beobachter haben Ihre lächerliche kleine Verschwörung von Anfang an unter Kontrolle gehabt. Ihre übermäßige Geheimhaltung hat Sie verraten.«
»Warum haben Sie dann erst jetzt eingegriffen?«
wollte der Australier wissen. Er machte ein wütendes Gesicht.
»Wir wollten einerseits verhindern, daß Sie auf noch dümmere Ideen kommen, und andererseits erreichen, daß Sie Gleichgesinnte um sich versammeln, so daß wir nicht erst lange nach ihnen Ausschau halten müssen. Deshalb haben wir bis zum letzten Augenblick gewartet.«
»Das war ausgesprochen rachsüchtig«, stellte der Franzose fest, »aber seit der Veränderung kann man von den Menschen nichts anderes mehr erwarten. Wahrscheinlich überlegen Sie jetzt, ob Sie uns nicht am besten gleich erledigen.«
»Sie irren sich«, widersprach Mandelbaum gelassen. »Vielleicht ist Ihnen aufgefallen, daß wir sogar einen Reaktionsdämpfer benutzt haben, um zu verhindern, daß die Patronen in Ihren Pistolen losgehen, als das Metall heiß wurde. Schließlich wollen wir von Ihnen erfahren, wer Sie unterstützt und finanziert hat. Und Sie alle besitzen Intelligenz, viel Energie und Mut – beachtliche potentielle Werte. Sie können nichts dafür, daß die Veränderung Sie zum Wahnsinn getrieben hat.«
»Wahnsinn!« Der Russe beherrschte sich nur mühsam. »Sie nennen uns wahnsinnig!«
Mandelbaum zuckte gleichmütig mit den Schultern. »Finden Sie nicht auch, daß es von Größenwahn zeugt, sich das Recht anzumaßen, für die gesamte Menschheit Entscheidungen zu treffen – und sie notfalls mit Gewalt durchzusetzen?« erkundigte er sich. »Wären Sie wirklich im Recht gewesen, hätten Sie mit Ihren Vorstellungen an die Öffentlichkeit treten können.«
»Die Welt ist blind geworden«, warf der Inder ein. »Sie sieht die Wahrheit nicht mehr. Ich selbst habe die Erkenntnis des Unendlichen verloren, obwohl ich mir dieses Verlustes zumindest bewußt bin.«
»Das soll also heißen, daß Ihre neue Intelligenz Sie daran hindert, sich in den Trancezustand zu versetzen, den Sie früher für richtig und einzig erstrebenswert gehalten haben«, stellte Mandelbaum fest.
Der Inder zuckte verächtlich mit den Schultern.
Grunewald warf Corinth einen Blick zu. »Ich habe Sie immer für meinen Freund gehalten, Pete«, flüsterte er. »Und nachdem die Veränderung sich so auf Ihre Frau ausgewirkt hat, hätten Sie doch erkennen müssen, daß ...«
»Er hat nichts damit zu tun gehabt«, unterbrach Helga ihn rasch. »Ich bin Ihnen auf die Schliche gekommen, Grunewald. Pete ist nur in seiner Eigenschaft als Physiker mitgekommen, um Ihre Geräte zu untersuchen und festzustellen, ob sich noch etwas davon verwenden läßt.« Beschäftigungstherapie – armer Pete, du leidest noch immer darunter.
Corinth schüttelte energisch den Kopf. »Danke, ich brauche keine Entschuldigungen«, wehrte er ab. »Hätte ich gewußt, was Sie vorhaben, hätte ich Ihren Plan allein zunichte gemacht. Was würde aus Sheila, wenn der alte Zustand wiederhergestellt würde?«
»Wir werden Sie heilen«, versprach Mandelbaum. »Ich nehme an, daß das nicht lange dauert.«
»Bringen Sie mich lieber um«, sagte der Australier heiser.
Manzelli weinte noch immer fassungslos.
»Warum begreifen Sie nicht, daß wir recht haben?« fragte der Franzose. »Sollen alle Errungenschaften der Vergangenheit plötzlich nichts mehr wert sein? Soll Gott zu einer Sagengestalt werden, bevor die Menschen ihn gefunden haben? Wie stellen Sie sich die Zukunft der Menschheit vor? Wir haben uns in Rechenmaschinen verwandelt, aber Körper und Seele welken dahin, während wir unermüdlich neue Gleichungen lösen.«
Mandelbaum zuckte mit den Schultern. »Ich bin nicht für die Veränderung verantwortlich«, sagte er ruhig. »Sie glauben an Gott? Gut, dann müssen Sie aber auch daran glauben, daß er für die neuen Verhältnisse verantwortlich ist, mit denen wir uns abfinden müssen.«
»Trotzdem ...«, begann der Franzose nochmals.
»Hören Sie gut zu«, unterbrach Mandelbaum ihn aufgebracht, »ich kann Ihnen sagen, an welcher Krankheit Sie alle leiden: Sie haben Angst davor, mutig ein neues Leben zu beginnen. Anstatt die Zukunft zu beeinflussen, sehnen Sie sich nach einer Vergangenheit, die bereits eine Million Jahre hinter uns liegt. Sie haben die alten Illusionen verloren und sind zu kleinmütig, um sich neue und bessere zu verschaffen.«
»Fortschrittsgläubig wie alle Amerikaner«, murmelte der Chinese.
»Wie kommen Sie darauf? Davon kann längst nicht mehr die Rede sein. Wir alle wissen, daß wir keine Vergangenheit mehr besitzen, und ich gebe zu, daß die neue Einsamkeit manchmal schrecklich ist. Aber weshalb soll der Mensch nicht imstande sein, ein neues Gleichgewicht zu erreichen? Sind Sie wirklich davon überzeugt, daß wir keine neue Kultur begründen können, nachdem jetzt die alten Schranken gefallen sind? Und glauben Sie, daß die Menschen sich nach dem alten Zustand sehnen? Bestimmt nicht, das verspreche ich Ihnen. Allein die Tatsache, daß Sie Ihren Plan in aller Heimlichkeit verwirklichen wollten, zeigt deutlich genug, daß Sie sich darüber ebenfalls im klaren waren.«
Mandelbaum holte tief Luft, bevor er weitersprach. »Was hat die alte Welt neunzig Prozent der Menschheit zu bieten gehabt? Arbeit, Unwissenheit, Seuchen, Krieg, Not, Furcht und Unterdrückung von der Wiege bis zur Bahre. Wer das Glück hatte, in einem der wenigen reichen Länder geboren worden zu sein, hatte jeden Tag zu essen und vielleicht sogar ein paar glitzernde Spielzeuge, aber weder Hoffnung noch Zukunftsaussichten noch Lebenszweck. Aber jetzt sind uns endlich die Augen geöffnet worden – und Sie wollten uns wieder blind und unwissend machen!«
Mandelbaum wandte sich schulterzuckend ab. »Los, nehmt sie mit«, sagte er zu seinen Begleitern.
Die Verschwörer gingen wortlos auf das Boot zu, das Sekunden später mit ihnen zu dem Raumschiff hinaufschwebte. Mandelbaum sah ihnen nach und warf dann einen Blick auf das zerstörte Schiff vor ihnen.
»Ein heroischer Versuch!« murmelte er kopfschüttelnd. »Zwecklos, aber heroisch. Eigentlich bewundernswert. Hoffentlich dauert es nicht allzu lange, bis sie von ihrem Größenwahn geheilt sind.«
Corinth lächelte ungläubig. »Natürlich haben wir völlig recht. Und jeder, der anders denkt, ist verrückt«, sagte er.
Mandelbaum grinste. »Tut mir leid, daß ich einen Vortrag gehalten habe«, antwortete er. »Nur eine alte Gewohnheit – Tatsachen müssen sich moralisch untermauern lassen. Aber vielleicht kommen wir bald darüber hinweg.«
Der Physiker schüttelte den Kopf. »Irgendeine Moral brauchen wir aber auch in Zukunft.«
»Selbstverständlich, aber ich hoffe, daß wir dann ohne Nebenerscheinungen wie Kreuzzüge, Ketzerverbrennungen und Zuchthäuser auskommen. Wir brauchen mehr persönliches und weniger öffentliches Ehrgefühl.«
Mandelbaum gähnte ungeniert und streckte sich umständlich. »Eigentlich schade um den langen Flug, wenn es am Ende nicht einmal eine Schießerei gibt«, meinte er. Das Boot war in der Zwischenzeit wieder automatisch herabgekommen. »Ich gehe jetzt schlafen. Den Trümmerhaufen können wir morgen untersuchen. Kommt ihr auch?«
»Noch nicht«, antwortete Corinth. (Ich kann jetzt nicht schlafen. Ich will noch etwas nachdenken.) »Ich mache einen Spaziergang an den Strand.«
»Ja, das kann ich verstehen.« Mandelbaum nickte freundlich. »Gute Nacht.«
»Gute Nacht.« Corinth drehte sich um und ging die wenigen Schritte zum Strand hinunter. Helga folgte ihm wortlos. Sie brauchten nicht miteinander zu sprechen; sie verstanden sich auch schweigend, als sie jetzt den Mond und das Meer beobachteten.
»Leicht«, sagte Corinth schließlich. Das Wort und sein Tonfall bedeuteten: (Es war für uns und für sie zu leicht. Die Männer waren wirklich von einem heiligen Eifer erfüllt. Es hätte anders ausgehen müssen. Feuer und Flammen, Glut und Zerstörung, der unbesiegbare Männerstolz vor Göttern und Königsthronen.)
»Nein«, antwortete Helga. »So war es besser.« Ruhig und gelassen: (Mitleid, und Verständnis. Wir sind keine wilden Tiere mehr, die dem Schicksal die Zähne zeigen.)
Richtig. Das ist die Zukunft. Keine Kämpfe, keine Siege, keine Niederlagen mehr.
»Aber wie sieht unsere Zukunft aus?« fragte er laut. (Die Welt liegt wie zertrümmert zu unseren Füßen, wir sehen ein leeres Universum vor uns, das wir füllen müssen. Niemand kann uns dabei helfen.)
»Vielleicht doch«, meinte Helga. (Gott, Schicksal, eigene Anstrengungen.)
»Vielleicht«, wiederholte Corinth nachdenklich. »Immerhin liegt das Universum offen vor uns.«
Eine glorreiche Zukunft! Weshalb bin ich also traurig? Warum habe ich Tränen in den Augen?
Helga erriet, was er dachte. »Sheila ist vor einigen Tagen entlassen worden«, sagte sie. Armer Liebling, ich bedaure dich so!
»Ja.« Corinth nickte. »Ich habe es gesehen.« (Sie ist wie ein kleines Mädchen davongelaufen. Sie hat die Hände zur Sonne aufgehoben und dabei fröhlich gelacht.)
»Sie hat eine Antwort gefunden. Du mußt deine erst noch finden.«
Corinth dachte an die Szene zurück. »Sie hat nicht geahnt, daß ich sie beobachte.« Es war ein wunderbarer Herbstmorgen. Ein rotes Ahornblatt hat sich in ihrem Haar verfangen. Früher hat sie oft Blumen im Haar getragen. »Ich glaube, sie vergißt mich bereits.«
»Du hast Kearnes gebeten, ihr dabei zu helfen«, sagte Helga. »Das war sehr tapfer, Pete. Man braucht Mut, um anderen Menschen zu helfen. Aber bist du jetzt stark genug, um dir zu helfen?«
»Nein«, antwortete er. »Ich kann sie nicht vergessen. Tut mir leid, Helga.«
»Sheila ist nicht schutzlos«, versicherte sie ihm. »Sie wird nie etwas davon merken, aber die Beobachter verfolgen ihre Wanderung auf Schritt und Tritt. Im Norden der Stadt gibt es eine vielversprechende Schwachsinnigenkolonie ...« Helga machte bedrückt eine Pause, bevor sie weitersprach. »Wir haben die Kolonie in letzter Zeit mehrmals unterstützt, ohne es deutlich zu zeigen. Ihr Führer ist ein guter, starker und freundlicher Mann. Sheila ist dort gut aufgehoben.«
Corinth antwortete nicht. Nur die Brandung und der Wind hatten Stimmen. Der Mond stand tiefer über dem Horizont. Der Mann zuckte leicht zusammen und wandte sich ab.
»Hilf mir!« sagte er und nahm ihre Hände. »Ohne deine Hilfe komme ich nicht von meinen Erinnerungen los ...«
Helga nickte wortlos.