16. Kapitel

Als sie das Feld ebenso überraschend verließen, wie sie in sein Inneres vorgedrungen waren, erlebten sie nochmals einige schreckliche Minuten, bis ihre Körper sich an die veränderten Umstände gewöhnt hatten. Dann wurden ihre Überlegungen von einer Frage beherrscht:

»Wo sind wir?«

Um sie herum leuchteten unbekannte Konstellationen, und die Stille war so überwältigend, daß ihre eigenen Atemzüge wie Donner in ihren Ohren zu dröhnen schienen.

»Ich weiß es nicht«, keuchte Lewis. »Es ist mir auch völlig gleichgültig. Laß mich endlich schlafen, hörst du?«

Er stolperte durch die Kabine, ließ sich in seine Koje fallen und blieb unbeweglich liegen. Corinth beobachtete ihn einige Sekunden lang, zuckte dann mit den Schultern und wandte sich wieder den Sternen zu, die vor den Bullaugen leuchteten.

Benimm dich nicht lächerlich, tadelte er sich selbst. Du bist wieder frei. Du kannst wieder klar denken und bist so intelligent wie zuvor. Warum machst du also keinen Gebrauch davon?

Sein Körper zitterte noch immer unkontrollierbar, denn er war nicht auf diesen raschen Wechsel vorbereitet. Die plötzliche Rückkehr in den Zustand verringerter Intelligenz, und dann der unerwartete Übergang zu schnelleren Nervenreaktionen – eigentlich hätte er das gar nicht überleben dürfen.

Alles geht vorüber, alles geht wieder vorüber, aber in der Zwischenzeit entfernt das Schiff sich immer weiter von der Erde, die mit jeder Sekunde mehr hinter uns zurückbleibt. Das muß endlich aufhören!

Corinth beherrschte sich mit einer bewußten Willensanstrengung und zwang seinen Körper dazu, wieder auf seine Befehle zu reagieren. Er setzte sich vor das Kontrollpult, stellte einige Berechnungen an und entschied sich für einen Kurs, der vorläufig die beste erreichbare Lösung darstellte. Einige Veränderungen genügten, um das Schiff anzuhalten, auf Gegenkurs zu bringen und in Richtung Erde weiterfliegen zu lassen.

Lewis war ohnmächtig, aber Corinth überlegte sich, daß es wenig Zweck hatte, ihn jetzt aufzuwecken. Sein Körper erholte sich in diesem Zustand am besten von dem Schock. Außerdem war Corinth vorläufig zu sehr mit seinen eigenen Problemen beschäftigt.

Er dachte an die schrecklichen Wochen im Inneren des Feldes zurück. Lewis und er hatten das Gefühl gehabt, ihr Leben seit dem Start des Raumschiffes sei nur ein Traum gewesen. Sie konnten sich nicht mehr vorstellen, was sie in dieser Zeit getan hatten; sie konnten nicht mehr denken und fühlen, was sie einmal gedacht und gefühlt hatten. Die Gedankengänge, die es erst möglich gemacht hatten, innerhalb weniger Monate die Welt zu reorganisieren und dieses Schiff zu konstruieren, waren zu kompliziert gewesen, als daß sie ihnen noch hätten folgen können. Schon nach kurzer Zeit hatten sie nicht mehr miteinander gesprochen und wie zu Anfang verzweifelt Pläne geschmiedet, sondern waren in eine verzweifelte Apathie versunken. Sie hatten darauf gewartet, daß ein blinder Zufall sie entweder erlöste oder ihnen den Tod brachte.

Während Corinth zu den Sternen hinaussah, fiel ihm auf, daß er sich nur im Unterbewußtsein darüber freute, daß er bald zur Erde zurückkehren würde und daß er noch immer lebte, ohne wahnsinnig geworden zu sein. Aber die künstliche Gelassenheit, mit der er sich bewußt umgeben hatte, schützte ihn vor den Auswirkungen allzu heftiger Gefühlsreaktionen. Er wußte, daß er sie jederzeit wieder ablegen konnte, aber die Tatsache allein war fast überwältigend.

Er hätte voraussehen müssen, daß es einmal dazu kommen würde. Ohne Zweifel hatten viele Menschen auf der Erde bereits die gleiche Entdeckung gemacht, aber da die Nachrichtenverbindungen noch nicht wieder völlig hergestellt worden waren, hatten sie ihre Entdeckung nicht weiterberichten können. Die Geschichte der Menschheit war bisher immer nur ein Spiegelbild des Kampfes zwischen Instinkt und Intelligenz gewesen – aber jetzt hatte der Geist endgültig über die Materie gesiegt.

Für ihn war alles plötzlich gekommen, weil die Einflüsse von außen die bereits latente Änderung ausgelöst hatten. Aber für die übrige Menschheit mußte sie bald kommen – vielleicht langsamer und allmählicher, aber trotzdem bald.

Corinth erschrak fast vor den Folgen dieser neuen Fähigkeit, die alle Menschen und alle Arten ihres Zusammenlebens beeinflussen würde. Auch in Zukunft würden die Menschen Wünsche und Ziele haben, aber sie würden diese Motivationen bewußt auswählen, wie es ihren Bedürfnissen und den geistigen Erfordernissen ihrer Lage entsprach. Die Menschen würden sich keineswegs in Roboter verwandeln, aber trotzdem nur noch wenig Ähnlichkeit mit dem Bild haben, das sie sich vorläufig noch von dem Idealtyp des Menschen machten. Sobald alle Menschen diese neue Technik beherrschten, waren alle körperlichen und geistigen Krankheiten der Kontrolle des Willens unterworfen; jeder konnte genügend medizinische Kenntnisse besitzen, um den Rest selbst zu bewältigen, denn es würde in Zukunft keine Schmerzen mehr geben.

Vielleicht auch keinen Tod mehr?

Nein, wahrscheinlich würde es nicht dazu kommen. Der Mensch war schließlich seiner Natur nach ein endliches Wesen. Selbst jetzt war er noch natürlichen Beschränkungen verschiedener Art unterworfen. Zudem war die Unsterblichkeit keineswegs ein erstrebenswertes Ziel, denn der Mensch würde dann eines Tages unter der Last seiner Erfahrungen zusammenbrechen, sobald die Möglichkeiten seines Nervensystems erschöpft waren.

Trotzdem mußte es möglich sein, dem Menschen eine Lebenserwartung von mehreren Jahrhunderten zu verschaffen; und das Gespenst des Alterns, die allmähliche Desintegration, die zum Altersschwachsinn führte, brauchte nicht mehr wie eine dunkle Wolke über dem Leben zu hängen.

 

Der Stern wies eine gewisse Ähnlichkeit mit der Sonne der Erde auf – etwas größer und etwas rötlicher, aber er besaß Planeten, von denen einer der Erde glich. Corinth steuerte das Raumschiff näher an die Nachtseite des Planeten heran.

Die Detektoren begannen zu arbeiten. Keine anomal hohen Strahlungsmengen: folglich auch keine Atomenergie; aber Städte, deren Gebäude von innen heraus zu leuchten schienen, und Maschinen aller Art und Funkgeräte und weitreichende Nachrichtenverbindungen, die den Planeten umspannten. Die Geräte an Bord zeichneten die Stimmen auf, die durch die Nacht drangen; vielleicht konnte die Sprache später analysiert werden.

Die Eingeborenen, die nicht einmal ahnten, daß sie fotografiert und vermessen wurden, während das Raumschiff geräuschlos über sie hinweghuschte, waren Humanoiden – zweibeinige Säugetiere, obwohl sie einen grünen Pelz, sechs Finger an jeder Hand und völlig anders geformte Köpfe hatten.

Eine andere intelligente Rasse im All! Früher wäre das eine epochemachende Entdeckung gewesen. Aber jetzt bestätigte die Existenz der Fremden nur eine Hypothese. Corinth wünschte den Lebewesen auf diesem Planeten alles Gute, aber für ihn waren sie nur eine Abart der hiesigen Fauna. Intelligente Tiere.

»Sie scheinen wesentlich vernünftiger zu sein, als wir es in der guten alten Zeit gewesen sind«, stellte Lewis fest, während ihr Raumschiff über einem Kontinent schwebte. »Ich sehe keine Anzeichen für einen Krieg oder Kriegsvorbereitungen; vielleicht haben sie dieses Stadium überwunden, bevor die gegenwärtige Zivilisation entstanden ist.«

»Oder wir sehen hier einen Universalstaat vor uns, der den ganzen Planeten umfaßt«, antwortete Corinth. »Ein Staat hat alle anderen besiegt und in sich aufgenommen. Um das beurteilen zu können, müßten wir eine ausführliche Untersuchung anstellen, für die wir aber keine Zeit mehr haben.«

Lewis zuckte mit den Schultern. »Wahrscheinlich hast du sogar recht. Komm, wir sehen uns noch die andere Seite an und verschwinden dann.«

Obwohl Corinth sich jetzt besser als früher in der Gewalt hatte, mußte er die wachsende Ungeduld bekämpfen. Lewis hatte ihn nur mühsam davon überzeugen können, daß es wichtiger war, wenigstens die nächsten Sterne zu besuchen, als sofort auf dem schnellsten Weg zur Erde zurückzufliegen.

 

Nachdem die Sheila wenige Stunden innerhalb der Atmosphäre des Planeten zugebracht hatte, flog sie wieder in Richtung Erde davon. Der Planet blieb rasch hinter ihr zurück, seine Sonne schrumpfte zusammen und verschwand schließlich. Eine lebende Welt – Leben, Evolution, Geschichte, Kämpfe, Aufstieg, Triumphe, Verzweiflung, Träume, Hoffnungen, Ängste, Befürchtungen, Liebe und Sehnsucht, aus denen sich die Existenz einer Milliarde intelligenter Lebewesen zusammensetzen ließ – wurde von der Dunkelheit verschlungen.

Corinth sah aus den Bullaugen des Raumschiffes und konnte dabei einen Schauer nicht völlig unterdrücken. Der Kosmos war einfach zu gewaltig. Selbst wenn die Menschen ihn noch so schnell durchquerten, wenn sie Jahrtausende lang gigantische Anstrengungen zu seiner Erforschung unternahmen, würden sie dieses große Schweigen doch nie mit ihren Stimmen erfüllen können. Dieses winzige Staubkorn, das eine Galaxis darstellte, war so gigantisch, daß seine Vorstellungskraft davor versagte; selbst in einer Million von Jahren würden die Menschen sie nicht völlig erforschen können; und jenseits ihrer fließenden Grenzen lagen weitere Sterneninseln, die ... nein, hier versagte jede menschliche Vorstellungsgabe. Die Menschen konnten das Unbekannte weiter erforschen, bis der Kosmos selbst verging, aber selbst dann würden sie noch keinen Eindruck auf diese Unendlichkeit gemacht haben.

Aber diese Erkenntnis war nützlich, denn sie brachte eine neue Bescheidenheit, die Corinths neuer Intelligenz bisher fremd gewesen war. Und er erkannte dankbar, daß die Menschheit auch in Zukunft immer wieder vor neuen Grenzen und neuen Herausforderungen stehen würde; und die Erkenntnis dieser Unendlichkeit würde die Menschen dazu bringen, sich wieder miteinander zu befassen, um in der Nähe der anderen Trost und Wärme zu finden. Vielleicht bewirkte sie auch, daß der Mensch endlich erkannte, welche Achtung und welchen Respekt er allen Formen des Lebens schuldete.

»Jetzt haben wir insgesamt neunzehn Planeten besucht«, stellte Lewis ruhig fest. »Vierzehn davon werden von intelligenten Lebewesen bewohnt.« Er machte eine nachdenkliche Pause und fügte dann hinzu: »Ich bin davon überzeugt, daß manche wesentlich älter als die Menschheit sind. Und trotzdem ist keine merklich intelligenter als die Menschheit vor der Veränderung. Siehst du, was das beweist, Pete?«

»Hmm. Neunzehn Planeten – und allein in dieser Galaxis gibt es wahrscheinlich über hundert Milliarden Sterne, die theoretisch alle ein Planetensystem besitzen können ... Glaubst du, daß wir aus unseren Feststellungen schon eine Theorie ableiten können?«

»Denk doch selbst nach, Pete! Wir dürfen ohne weiteres annehmen, daß jede Rasse unter normalen Bedingungen nur bis zu einem bestimmten Punkt in der Evolution fortschreitet, an dem sie dann stehenbleibt. Außerdem wissen wir, daß keiner dieser Planeten sich in dem Feld befunden haben kann.

Alles paßt zusammen; alles ist logisch. Auch der moderne Mensch unterscheidet sich nicht wesentlich von den ersten Vertretern der Rasse Homo sapiens. Die wichtigste Fähigkeit einer intelligenten Lebensform besteht darin, die Umwelt ihren Bedürfnissen anzupassen, anstatt sich selbst der Umwelt anzugleichen. Nur durch dieses Verfahren kann eine denkende Rasse etwa gleichbleibende Voraussetzungen für ihre Weiterentwicklung schaffen.

Das gilt für einen Eskimo in seinem Iglu ebenso wie für den New Yorker in seinem Appartement mit Klimaanlage; aber die Benutzung von Maschinen, zu der es früher oder später in der Entwicklung jeder Rasse kommt, macht die physikalischen Umweltbedingungen noch regelbarer. Landwirtschaft und Medizin stabilisieren die biologischen Aspekte des Lebens. Kurz gesagt – sobald eine Rasse die Intelligenzstufe erreicht, die früher mit einem I.Q. zwischen hundert und hundertfünfzig gleichzusetzen war, braucht sie nicht noch intelligenter zu werden, als sie schon ist.«

Corinth nickte langsam. »Im Laufe der Zeit entwikkelt und verbessert sie dann Maschinen, die ihr einen Teil der gedanklichen Anstrengung abnehmen und Probleme lösen, die sonst zu langwierige Berechnungen erfordern würden«, sagte er. »Jeder Computer ist schließlich eine Art Ersatzgehirn, aber schon eine Schreibmaschine stellt einen Schritt auf diesem Weg dar. Du hast natürlich recht, Nat.«

»Oh, ich bin noch nicht fertig«, fügte Lewis hinzu. »Wie du weißt, gibt es Beschränkungen, die durch die Struktur des Nervensystems bedingt sind. Jedes Gehirn kann nur bis zu einer gewissen Größe wachsen, ab der die Übermittlungswege für Nervenimpulse so lang werden, daß die längere Reaktionszeit das größere Fassungsvermögen wieder ausgleicht. Wenn wir wieder zu Hause sind, möchte ich diese Theorie ausarbeiten, falls nicht schon ein anderer auf die gleiche Idee gekommen ist.

Die Erde stellt natürlich einen Sonderfall dar. Die biochemischen Grundlagen unserer Evolution sind durch den Einfluß des Feldes verändert worden. Auch wir unterliegen bestimmten strukturell bedingten Beschränkungen, aber wir haben mehr Möglichkeiten zur Kompensierung, weil unser Gehirn anders aufgebaut ist. Deshalb sind wir jetzt vielleicht die intelligenteste Rasse des Universums – oder zumindest dieser Galaxis.«

»Hmm, vielleicht. Aber andere Planeten sind auch von dem Feld beeinflußt worden.«

»Das passiert auch jetzt noch. Wahrscheinlich geraten täglich einige unter seinen Einfluß. Mein Gott, wie ich die intelligenten Lebewesen auf diesen Planeten bedaure! Sie werden plötzlich auf die Stufe von Schwachsinnigen zurückversetzt – viele sterben vermutlich sogar aus, weil sie unter diesen neuen Umständen nicht mehr lebensfähig sind. Wir Menschen haben wirklich Glück gehabt, daß die Erde in das Feld geraten ist, bevor sich auf ihr eine intelligente Rasse entwickeln konnte.«

»Aber es muß doch andere Planeten geben, auf denen sich die Veränderung ähnlich wie auf der Erde ausgewirkt hat«, warf Corinth ein.

»Durchaus wahrscheinlich«, gab Lewis zu. »Es gibt vermutlich andere Rassen, die schon vor Jahrtausenden die gleiche Veränderung mit gleichen Folgen durchgemacht haben. Falls diese Vermutung zutrifft, werden wir irgendwann auf sie stoßen, aber die Galaxis ist so gigantisch, daß dieses Treffen vielleicht erst in einigen Jahrtausenden stattfindet. Ich möchte allerdings wetten, daß wir uns gut mit ihnen verstehen.« Lewis grinste unwillkürlich. »Der von reinem Geist beseelte Mensch legt vermutlich so wenig Wert auf physische Unterschiede, daß wir diese anderen Lebewesen vermutlich nicht einmal als verschiedenartig ansehen werden – selbst wenn sie es wären. Was hältst du von einer Unterhaltung mit einer ... einer riesigen Spinne, um nur ein Beispiel zu nennen?«

Corinth zuckte mit den Schultern. »Ich hätte nichts dagegen einzuwenden.«

»Nein, natürlich nicht. Das Gespräch wäre bestimmt ganz amüsant. Jetzt wissen wir endlich, daß wir nicht mehr die einzigen Lebewesen in der Galaxis sind ...« Lewis seufzte. »Trotzdem müssen wir uns mit den Tatsachen abfinden, Pete. Nur ein verschwindend geringer Prozentsatz aller intelligenten Rassen der Galaxis kann sich wie wir verändert haben. Vielleicht finden wir ein Dutzend verwandte Rassen, vielleicht auch hundert – aber auf keinen Fall eine große Anzahl. Unsere neuen geistigen Fähigkeiten gehören nicht zu der Sorte, die man häufig antrifft.«

Er hob den Kopf und sah zu den Sternen hinaus. »Trotzdem ist es vorstellbar, daß diese Einzigartigkeit auch ihre Vorteile hat. Ich glaube, daß wir eines Tages die Lösung des wirklichen Problems finden werden: Was soll der moderne Mensch mit seinen gewaltigen Geisteskräften anfangen, wo findet er eine Aufgabe, die seinen Fähigkeiten entspricht? Ich frage mich noch immer, ob es nicht einen bestimmten Grund – man könnte ihn vielleicht sogar Gott nennen – für diese Entwicklung gibt.«

Corinth nickte geistesabwesend. Er starrte auf den vorderen Bildschirm, als hoffe er, mit einer bewußten Willensanstrengung die Lichtjahre durchdringen und den grünen Planeten finden zu können, den die Menschen Erde nannten.