4. Kapitel

Einige Schlagzeilen aus der New York Times vom dreiundzwanzigsten Juni:

 

PRÄSIDENT SIEHT KEINE GEFAHR IN BESCHLEUNIGUNG DER GEHIRNFUNKTIONEN

»Ruhe bewahren und weiterarbeiten«, rät das Weiße Haus – Keine ernsthafte Gefährdung der Bevölkerung

US-Wissenschaftler erforschen die Veränderungen

 

MILITÄRPUTSCH IN ROTCHINA

 

Neue Religion in Los Angeles gegründet

Sawyer behauptet, ›Der dritte Baal‹ zu sein – Tausende nehmen an seinen Versammlungen teil

 

USA stehen vor einer Rezession, sagt Professor Foster

 

KURSSTURZ AN DER BÖRSE – WALL STREET ERNSTLICH BESORGT

 

FESSENDEN FORDERT WELTREGIERUNG DURCH UNO

 

Aufstand in einer Nervenheilanstalt

 

Unruhen in Alabama und Georgia

 

Bekannter Wissenschaftler veröffentlicht neue Theorie über Ursache der Veränderung

 

Alle arbeiteten bis in die Nacht hinein, deshalb wurde es zehn Uhr, bis sich die Teilnehmer einer Besprechung einfanden, zu der Peter Corinth in seine Wohnung eingeladen hatte. Sheila hatte wie üblich Kaffee und Sandwiches vorbereitet; jetzt saß sie mit Sarah Mandelbaum in einer Ecke des Wohnzimmers und sprach leise mit ihr. Die beiden Frauen sahen gelegentlich zu ihren Männern hinüber, die eine Partie Schach spielten. Aus ihren Blicken sprachen deutlich Besorgnis und sogar Angst.

Corinth spielte heute besser als je zuvor. Normalerweise waren er und Mandelbaum gleichstarke Partner, denn die sorgfältige Strategie des Physikers hatte den gleichen Erfolg wie die weniger überlegte Bravour des Gewerkschaftlers. Aber heute abend war der jüngere Mann zu geistesabwesend. Er trug Angriffe vor, die Capablanca begeistert hätten, aber Mandelbaum erkannte seine Absichten jeweils rechtzeitig und holte zu erbarmungslosen Gegenschlägen aus. Corinth seufzte schließlich und lehnte sich zurück.

»Ich gebe auf«, sagte er. »Sie können mich ohnehin in ... äh ... sieben Zügen mattsetzen.«

»Stimmt nicht«, antwortete Mandelbaum. Er zeigte auf einen Springer. »Wenn Sie hierher ziehen und dann ...«

»Ja, natürlich, Sie haben ganz recht. Aber das ist eigentlich nicht weiter wichtig. Ich bin heute nicht in der richtigen Stimmung. Wo bleibt Nat?«

»Er kommt bestimmt bald. Werden Sie nur nicht ungeduldig.« Mandelbaum setzte sich in einen bequemen Sessel und stopfte seine Pfeife.

»Ich sehe nicht ein, wie Sie hier so ruhig sitzen können, während ...«

»Während die Welt um mich herum in Trümmer fällt? Hören Sie, Pete, das tut sie schon seit mindestens fünfzig Jahren. Aber in dieser einen Episode sind bisher noch keine Schüsse gefallen, so daß ich keinen wirklichen Grund zur Aufregung sehe.«

»Vielleicht kommt es noch dazu.« Corinth stand auf, legte die Hände auf den Rücken und starrte aus dem Fenster. »Sehen Sie nicht ein, Felix, daß dieser neue Faktor – wenn wir ihn überhaupt überleben – die Grundlagen der menschlichen Existenz verändert? Unsere Zivilisation ist von einer Art Menschen aufgebaut worden und auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten. Aber jetzt verändert sich der Mensch selbst.«

»Das bezweifle ich noch.« Mandelbaum zündete sich seine Pfeife an. »Wir sind weiterhin nichts anderes als hochentwickelte Säugetiere.«

»Wie hoch war Ihr I.Q. vor der Veränderung?«

»Keine Ahnung.«

»Haben Sie sich nie einem Intelligenztest unterzogen?«

»Doch, ich habe einige mitmachen müssen, wenn ich mich um Jobs beworben habe, aber ich war nie neugierig genug, mich nach dem Ergebnis zu erkundigen. Was ist ein I.Q. schon mehr als eine beliebige Zahl?«

»Selbstverständlich bedeutet er mehr. Er kennzeichnet die Fähigkeit, Informationen zu verarbeiten, Abstraktionen zu erfassen und ...«

»Richtig, aber nur unter der Voraussetzung, daß man selbst Angehöriger der kaukasischen Rasse und der westeuropäisch-amerikanischen Zivilisation ist. Das sind nämlich die Leute, für die dieser Test entworfen wurde, Pete. Ein Buschmann aus der Kalahari würde lachen, wenn er wüßte, daß die Fähigkeit, überall Wasser zu finden, nicht berücksichtigt wird. Für ihn ist das wichtiger als die Fähigkeit, mit Zahlen zu jonglieren. Ich unterschätze den logischen und visuellen Aspekt einer Persönlichkeit keineswegs, aber andererseits teile ich Ihren rührenden Wunderglauben durchaus nicht. Der Wert eines Menschen hängt nicht nur davon ab, und ein Automechaniker ist vielleicht ein besserer Überlebenstyp als ein Mathematiker.«

»Überleben – unter welchen Bedingungen?«

»Unter allen, die Sie sich vorstellen können. Anpassungsfähigkeit, rasches Reaktionsvermögen und Zähigkeit – das sind die Eigenschaften, die am meisten zählen.«

»Freundlichkeit bedeutet auch etwas«, warf Sarah schüchtern ein.

»Das ist ein reiner Luxus, fürchte ich, obwohl uns natürlich erst diese Eigenschaften, die im Grunde genommen überflüssig sind, zu Menschen machen«, antwortete Mandelbaum. »Freundlichkeit wem gegenüber? Manchmal muß man einfach um sich schlagen. Es gibt Kriege, die notwendig sind.«

»Sie müßten es aber nicht sein, wenn die Menschen intelligenter wären«, warf Corinth ein. »Wir hätten den Zweiten Weltkrieg nicht zu führen brauchen, wenn Hitler an der Besetzung des Rheinlandes gehindert worden wäre. Damals hätte eine Division genügt, um ihn im Schach zu halten. Aber die Politiker waren einfach zu dumm, um vorauszusehen, daß er ...«

»Nein«, unterbrach Mandelbaum ihn. »Es gab nur einige Gründe, aus denen es nicht angebracht erschien, diese Division wirklich zu schicken. Und neunundneunzig Prozent aller Menschen wählen notfalls nicht die richtige, sondern die bequemste Lösung – selbst wenn sie durchaus intelligent sind –, und reden sich anschließend ein, sie brauchten die Konsequenzen irgendwie nicht selbst ertragen. Das ist einfach ein typisch menschlicher Zug. Die Welt wird so sehr von Haß und Aberglauben beherrscht, während zur gleichen Zeit so viele Menschen diesen Erscheinungen ›tolerant‹ oder ›großzügig‹ gegenüberstehen, daß es wirklich ein Wunder ist, daß in den letzten Jahrhunderten nicht mehr passiert ist.« Mandelbaum schüttelte den Kopf. »Vielleicht haben die Menschen, die praktisch veranlagt sind und sich rasch anpassen, doch recht. Vielleicht ist es wirklich besser, sich selbst und seine Familie über alles andere zu stellen. Einer meiner Söhne hat das bereits versucht. Er ist nach Chicago gezogen, hat einen anderen Namen angenommen und hat sich die Nase von einem Chirurgen operieren lassen. Ich glaube nicht, daß er sich seiner Eltern schämt, aber er hat sich und seiner Familie auf diese Weise eine Menge Schwierigkeiten erspart. Und ich bin mir ehrlich gesagt noch nicht darüber im klaren, ob ich ihn wegen seiner Anpassungsfähigkeit bewundern oder wegen dieser Flucht einen Feigling nennen soll.«

»Wir sind erheblich vom Thema abgewichen«, sagte Corinth verlegen. »Eigentlich wollten wir doch heute abend gemeinsam überlegen, was uns und der ganzen Welt bevorsteht.« Er runzelte nachdenklich die Stirn. »Mein I.Q. hat sich innerhalb der letzten Woche von einhundertsechzig auf etwa zweihundert erhöht. Ich denke plötzlich über Probleme nach, auf die ich früher nicht einmal gekommen wäre. Die Arbeit und die Schwierigkeiten im Laboratorium, mit denen ich sonst gekämpft habe, erscheinen mir jetzt geradezu lächerlich einfach. Aber alles andere ist ziemlich verwirrt. Meine Gedanken laufen mir manchmal davon, so daß ich mich selbst über die phantastischen Ideen wundere, die mir einfallen. Ich bin übernervös, zucke bei jedem lauten Ton zusammen und fürchte mich gelegentlich, obwohl ich gar keinen Grund dazu hätte. Ab und zu kommt mir alles völlig grotesk vor – wie in einem Alptraum.«

»Sie haben sich eben noch nicht an Ihre neuen Fähigkeiten gewöhnt«, meinte Sarah.

»Mir geht es wie Pete«, warf Sheila ein. Ihre Stimme klang ängstlich und unsicher. »Ich würde gern auf die neuen Fähigkeiten verzichten.«

Die andere Frau zuckte mit den Schultern. »Ich finde sie ganz amüsant.«

»Das ist nur eine Frage der Persönlichkeit, die sich nicht geändert hat«, sagte Mandelbaum. »Sarah war schon immer praktisch und nüchtern veranlagt. Du nimmst deine neuen Fähigkeiten wahrscheinlich nicht ernst genug, Sarah. Für dich sind abstrakte Gedanken und Überlegungen nur ein Spielzeug, das nichts mit dem Ernst der täglichen Hausarbeit zu tun hat.« Er entlockte seiner Pfeife mächtige Rauchwolken. »Und ich habe die gleichen verrückten Anfälle wie Sie, Pete, aber ich lasse mich nicht von ihnen beeinflussen. Das ist ein rein physiologisches Problem, und für solche Scherze habe ich wirklich keine Zeit. Im Augenblick gibt es wichtigere Dinge. Innerhalb der Gewerkschaft bildet sich plötzlich jeder ein, er habe die einzig richtige Methode entdeckt, nach der in Zukunft alles getan werden müsse. Ein Kerl in der Elektrikergewerkschaft bildet sich ein, die Elektriker müßten streiken und anschließend die Regierungsgewalt übernehmen! Irgend jemand hat neulich sogar auf mich geschossen.«

»Was?« Die anderen starrten ihn an.

Mandelbaum zuckte mit den Schultern. »Zum Glück war er ein miserabler Schütze. Aber einige werden eben verrückt, während andere bösartig werden, wenn sie nicht wie die Mehrzahl einfach Angst haben. Wer wie ich versucht, den Sturm abzuwarten und allen Veränderungen nach Möglichkeit entgegenzutreten, muß sich damit Feinde machen. Die Menschen denken heutzutage wesentlich mehr nach, aber sie denken nicht mehr so geradlinig wie früher.«

»Das ist ganz logisch«, meinte Corinth. »Der Durchschnittsbürger ...« In diesem Augenblick wurde er von dem Türsummer unterbrochen. »Das sind sie«, sagte er. »Nur herein mit euch!«

Helga Arnulfsen kam durch die Tür, dann folgte Nat Lewis, der im Vergleich zu ihr übermäßig dick wirkte. Helga trat so ruhig und gelassen wie immer auf, aber unter ihren Augen zeichneten sich tiefe Schatten ab. »Hallo«, sagte sie tonlos.

»Kein Vergnügen, was?« fragte Sheila mitfühlend.

Helga machte ein Gesicht. »Alpträume.«

»Ich auch.« Sheila zuckte zusammen.

»Was ist aus dem Psychologen geworden, den Sie mitbringen wollten, Nat?« erkundigte sich Corinth.

»Er hat in letzter Minute abgesagt«, antwortete Lewis. »Anscheinend ist ihm ein neuartiger Intelligenztest eingefallen, den er gleich ausprobieren will. Und sein Partner macht Versuche mit Ratten, um ihren I.Q. zu testen. Aber das macht nichts, denn im Grunde genommen sind wir auf die beiden gar nicht angewiesen.« Lewis schien der einzige der Anwesenden zu sein, der keine Angst vor der Zukunft hatte, sondern im Gegenteil damit beschäftigt war, ihre Möglichkeiten begeistert wahrzunehmen. Er ging an das Büfett, nahm ein Sandwich vom Teller und biß herzhaft hinein. »Mmmm – delikat. Sheila, warum schicken Sie diesen langweiligen Kerl nicht endlich zum Teufel? Dann könnten Sie mich heiraten – und für mich kochen.«

Sheila schüttelte lächelnd den Kopf.

»Vielleicht unterhalten wir uns lieber über das Thema, das wir eigentlich besprechen wollten«, warf Corinth ein. »Wir sind zwar nicht zu einem bestimmten Zweck hierher gekommen, aber ich dachte, eine allgemeine Diskussion würde in einigen Punkten Klarheit schaffen und uns womöglich ein paar neue Ideen vermitteln.«

Lewis zog sich einen Sessel heran. »Aha, die Regierung hat also endlich zugegeben, daß überhaupt etwas passiert ist«, sagte er und wies dabei auf die Zeitung, die neben ihm lag. »Das ließ sich vermutlich nicht vermeiden, nehme ich an, aber das Eingeständnis wird nicht gerade dazu beitragen, daß die Leute weniger Angst haben. Die Menschen fürchten sich, sie wissen nicht, was sie zu erwarten haben. Auf dem Weg hierher habe ich einen Mann beobachtet, der schreiend die Straße entlang lief und immer wieder verkündete, das Ende der Welt sei gekommen. Im Central Park sprechen alle möglichen Propheten aller möglichen Sekten. Vor einer Bar haben sich drei Betrunkene geprügelt, ohne daß ein Polizist erschienen wäre, um sie davon abzuhalten. Ich habe auch Feuerwehrsirenen gehört – irgendwo scheint ein Großbrand zu wüten.«

Helga zündete sich eine Zigarette an. »John Rossman ist im Augenblick in Washington«, sagte sie. Dann wandte sie sich an die Mandelbaums und fügte hinzu: »Er ist vor einigen Tagen im Institut aufgetaucht, hat die Wissenschaftler aufgefordert, die ganze Angelegenheit zu untersuchen und die Ergebnisse vorläufig noch geheimzuhalten, und ist dann in die Hauptstadt geflogen. Mit seinem Einfluß bekommt er bestimmt heraus, was eigentlich zu erwarten ist – wenn es darüber überhaupt schon klare Vorstellungen gibt.«

»Meiner Meinung nach ist das kaum zu erwarten«, antwortete Mandelbaum. »Vorläufig überblickt niemand die gesamte Entwicklung, sondern jeder kennt nur die Episoden, die er selbst beobachtet hat. Insgesamt ergibt sich daraus vielleicht eine große Katastrophe, aber bisher hat noch niemand den Überblick gewonnen.«

»Warten Sie nur ab«, meinte Lewis fröhlich. Er nahm sich ein zweites Sandwich und schenkte sich Kaffee nach. »Innerhalb der kommenden Woche wird die ganze Sache erst wirklich kritisch.«

»Wir müssen uns mit der Tatsache vertraut machen, daß die Veränderung keineswegs abgeschlossen ist.« Corinth stand auf, legte die Hände auf den Rücken und ging langsam auf und ab. »Die Veränderung findet noch immer statt. Sofern wir unseren besten Instrumenten vertrauen können – sie sind nicht mehr allzu genau, weil sie ebenfalls beeinflußt worden sind –, ist sogar eine deutliche Beschleunigung zu verzeichnen.«

»Unter Berücksichtigung aller Fehlerquellen, die Pete eben erwähnt hat, ergibt sich in der graphischen Darstellung der Beschleunigung eine Hyperbel«, fügte Lewis hinzu. »Das Vergnügen hat eben erst begonnen, werte Anwesende. Wenn wir so weitermachen, haben wir alle innerhalb der nächsten Woche einen Intelligenzquotienten von vierhundert oder so ähnlich.«

Die anderen starrten schweigend vor sich hin. Corinth blieb bewegungslos stehen, bis Sheila einen leisen Schrei ausstieß und auf ihn zueilte; dann legte er seinen Arm um ihre Schultern. Mandelbaum entlockte seiner Pfeife dichte Rauchwolken und runzelte nachdenklich die Stirn, während er diese Information verarbeitete; er streckte eine Hand zu Sarah aus, die sie dankbar drückte. Lewis grinste und aß weiter sein Sandwich. Helga saß ruhig in ihrem Sessel und hielt die Augen gesenkt. Durch das geöffnete Fenster drang undeutlich Straßenlärm in das Zimmer.

»Was geschieht dann?« flüsterte Sheila schließlich. Sie zitterte. »Was steht uns allen noch bevor?«

»Das weiß kein Mensch«, antwortete Lewis leise.

»Geht es ewig so weiter?« fragte Sarah.

»Ausgeschlossen«, antwortete Lewis. »Völlig unmöglich. Es handelt sich nur darum, daß die Nervenzellen rascher reagieren und stärkere Signale aussenden. Und dabei gibt es irgendwann eine Grenze, die von der Struktur, dem Aufbau und der Leistungsfähigkeit der Zellen abhängt. Wenn die Reizung zu stark wird – Wahnsinn, dann Verblödung, dann Tod.«

»Wo liegt die Grenze?« wollte Mandelbaum wissen.

»Keine Ahnung. Die Art der Veränderung und der ganze Aufbau menschlicher Nervenzellen ist noch nicht ausreichend erforscht. Jedenfalls ist unsere Bewertungsmethode ohnehin nur mit gewissen Einschränkungen brauchbar. Von einem I.Q. zu sprechen, der über vierhundert liegt, ist eigentlich unsinnig, denn Intelligenz jenseits dieser Grenze ist vielleicht gar keine Intelligenz im herkömmlichen Sinn mehr, sondern etwas ganz anderes.«

Corinth war in den letzten Tagen zu sehr mit seinen Messungen beschäftigt gewesen, um zu verfolgen, wieviel Lewis und seine Assistenten bereits wußten und theoretisch erarbeitet hatten. Erst jetzt fiel ihm auf, daß Lewis ihm in dieser Beziehung weit voraus war – und welche Auswirkungen der Veränderung der Biologe eben skizziert hatte.

»Lassen Sie doch das ungewisse Endergebnis«, sagte Helga plötzlich scharf. »Daran können wir nichts ändern, aber andere Fragen sind wichtiger. Wie halten wir unsere Zivilisation in Gang? Was sollen wir essen?«

Corinth nickte zustimmend. »Bisher hat nur unsere gesellschaftliche Trägheit den totalen Zusammenbruch verhindert«, meinte er. »Die meisten Menschen arbeiten wie gewohnt weiter, weil ihnen noch nichts anderes eingefallen ist. Aber wenn die Veränderung deutlicher wird ...«

»Gestern haben der Hausmeister und der Fahrstuhlführer des Instituts gekündigt«, sagte Helga. »Die Arbeit war ihnen zu langweilig und monoton. Was geschieht, wenn alle Hausmeister und Müllmänner und Straßenkehrer und Fabrikarbeiter plötzlich auf die gleiche Idee kommen?«

»Das ist äußerst unwahrscheinlich«, antwortete Mandelbaum. Er klopfte seine Pfeife aus und holte sich eine Tasse Kaffee. »Einige haben vermutlich Angst, andere sind wahrscheinlich vernünftig genug, um zu erkennen, daß wir irgendwie weitermachen müssen, einige ... nun, auf diese Frage gibt es keine einfache Antwort. Ich bin ganz Ihrer Meinung, daß wir zumindest eine schwierige Übergangszeit vor uns haben – die Leute verlassen ihre Arbeitsplätze, sie haben Angst und sie schnappen in dieser oder jener Beziehung ein bißchen über. Wir brauchen eine lokale Interimsorganisation, die in den nächsten Monaten für Ruhe und Ordnung sorgt, soweit das überhaupt möglich ist. Meiner Meinung nach könnten die Gewerkschaften einen wichtigen Beitrag dazu leisten, indem sie den Kern dieser Organisation bilden. Ich arbeite bereits daran, und sobald es mir gelungen ist, die anderen zu überreden oder einzuschüchtern, werde ich dem Bürgermeister unsere Hilfe antragen.«

Nach einer Pause sah Helga zu Lewis hinüber. »Haben Sie noch immer keine Ahnung, was die Veränderung verursacht haben könnte?«

»Ich habe alle möglichen Ideen, aber bisher weiß ich nicht, welche von ihnen richtig ist«, antwortete der Biologe. »Wir müssen einfach weiterarbeiten, das ist alles.«

»Es handelt sich um ein physikalisches Phänomen, das zumindest unser ganzes Sonnensystem umfaßt«, erklärte Corinth. »Die Sternwarten haben spektoskopische Untersuchungen durchgeführt, die diese These bestätigen. Vielleicht ist unser ganzes System auf seiner Kreisbahn um den Mittelpunkt der Galaxis in eine Art Kraftfeld eingetreten. Aber aus theoretischen Gründen – der Teufel soll mich holen, wenn ich die Vorstellung einer allgemeinen Relativität voreilig aufgebe! – neige ich eher zu der Auffassung, daß wir ein Kraftfeld verlassen haben, in dem die Lichtgeschwindigkeit herabgesetzt wird, während zudem elektromagnetische und elektrochemische Prozesse beeinflußt werden.«

»In anderen Worten ...«, begann Mandelbaum und runzelte nachdenklich die Stirn, »nähern wir uns also jetzt nur dem Normalzustand? Wir haben bisher unter anomalen Bedingungen gelebt?«

Nach kurzem Schweigen antwortete Corinth.

»Vielleicht. Aber diese Bedingungen waren für uns normal. Wir haben uns ihnen angepaßt. Vielleicht befinden wir uns jetzt in der gleichen Lage wie Tiefseefische, die explodieren, wenn sie an die Meeresoberfläche gebracht werden.«

»Das ist eine angenehme Vorstellung!«

»Ich habe eigentlich keine Angst vor dem Tod«, warf Sheila leise ein, »aber diese unheimliche Veränderung, die in uns vorgeht ...«

»Beherrschen Sie sich«, unterbrach Lewis sie sofort. »Ich nehme an, daß viele Menschen der Veränderung nicht gewachsen sind. Seien Sie vorsichtig, damit Sie nicht auch zu denen gehören, die wahnsinnig werden.«

Er streifte die Asche von seiner Zigarre ab. »Wir haben im Laboratorium einiges festgestellt«, berichtete er ruhig. »Wie Pete bereits erwähnt hat, handelt es sich um ein physikalisches Problem – entweder ein Kraftfeld oder das Fehlen eines solchen Feldes, das elektrische Wechselbeziehungen beeinflußt. Der Effekt ist im Grunde genommen fast unbedeutend, wie unsere Messungen ergeben haben. Normale chemische Reaktionen finden wie zuvor statt; ich bezweifle sogar, daß es gelingen wird, eine Veränderung in der Geschwindigkeit anorganischer Reaktionen festzustellen. Aber je komplizierter und empfindlicher eine Struktur ist, desto anfälliger ist sie selbst für geringe Beeinflussungen.

Ihnen muß aufgefallen sein, daß alle Menschen in den letzten Tagen lebhafter und energischer wirken. Wir haben festgestellt, daß der Grundumsatz sich erhöht hat – die Veränderung ist nicht bedeutend, aber immerhin meßbar. Auch die automatischen Nervenreaktionen sind beschleunigt worden, aber das ist weniger auffällig, weil das subjektive Zeitgefühl ebenfalls raschere Handlungsabläufe suggeriert. Das alles genügt, uns gründlich nervös zu machen; ich glaube allerdings, daß wir uns rasch daran gewöhnen werden – wenn wir Gelegenheit dazu haben.

Andererseits sind die am meisten spezialisierten Zellen – die Nervenzellen im menschlichen Gehirn – auch am meisten betroffen. Die Aufnahmefähigkeit für optische und akustische Eindrücke ist beträchtlich gestiegen; das haben unsere Psychologen festgestellt. Ich bin davon überzeugt, daß Ihnen allen bereits aufgefallen ist, wieviel schneller Sie jetzt lesen. Die Reaktionszeit ist einfach geringer als früher.«

»Das habe ich auch von Jones gehört«, stimmte Helga zu. »Er hat sich die Mühe gemacht, die Unfallstatistiken der letzten Wochen mit denen der vergangenen drei Tage zu vergleichen. Die Zahl der Unfälle ist bedeutend niedriger – reaktionsschnellere Fahrer sind natürlich verkehrssicherer.«

»Hmmm«, meinte Lewis zweifelnd. »Aber was passiert, wenn sie es satt bekommen, nur mit hundert zu fahren, anstatt es mit hundertfünfzig zu versuchen? Dann gibt es folgenschwerere Unfälle.«

»Aber wenn die Menschen intelligenter sind«, begann Sheila, »müssen sie doch einsehen, daß ...«

»Leider nicht.« Mandelbaum schüttelte den Kopf. »Die Persönlichkeit bleibt unverändert, nicht wahr? Und selbst intelligente Menschen haben schon immer dumme oder sogar verbrecherische Dinge getan, die man eigentlich nicht von ihnen erwartet hätte. Ein Mann kann zum Beispiel ein hervorragender Wissenschaftler sein, aber das hindert ihn unter Umständen nicht daran, seine Gesundheit zu vernachlässigen oder rücksichtslos Auto zu fahren oder Spiritist zu sein oder ...«

»... oder die Demokratische Partei zu wählen«, fügte Lewis grinsend hinzu. »Sie haben völlig recht, Felix. Selbstverständlich ist zu erwarten, daß die erhöhte Intelligenz im Lauf der Zeit auch die Persönlichkeit beeinflußt, aber vorläufig ist jeder noch mit seinen Schwächen, Untugenden, Vorurteilen und anderen Fehlern belastet. Jetzt verfügen wir alle über noch mehr Energie und Intelligenz, um wirklich darin zu schwelgen – und das ist einer der Gründe, weshalb es mit unserer Zivilisation so rasch bergab geht.«

Lewis machte eine kurze Pause und fuhr dann gelassen fort: »Aber das alles gehört selbstverständlich nicht unmittelbar zu dem Thema, von dem ich vorher gesprochen habe. Das am höchsten spezialisierte Gewebe, das wir bisher kennen, ist begreiflicherweise das menschliche Gehirn – die ›kleinen grauen Zellen‹ oder der Sitz des Bewußtseins, wenn Ihnen das lieber ist. Es spürt den Stimulus – oder die fehlende Inhibition, falls Petes Theorie stimmt – mehr als alles andere auf der Welt. Seine Funktionen vervielfältigen sich in wesentlich größerem Ausmaß als die anderer Gewebe des menschlichen Körpers.

Vielleicht sind Sie sich nicht ganz darüber im klaren, wie kompliziert das Gehirn eines Menschen in Wirklichkeit ist. Glauben Sie mir, im Vergleich zu ihm ist das bekannte Universum nur ein Kinderbaukasten. Die Zahl der möglichen Querverbindungen zwischen den Neuronen ist wesentlich größer als die der Atome im gesamten Kosmos – der Faktor beträgt etwa zehn hoch einige Millionen.

Es ist keineswegs überraschend, daß eine geringe elektrochemische Veränderung, die sich auf den gesamten Körper kaum auswirkt, solchen Einfluß auf unseren Verstand haben soll. Überlegen Sie nur, was Alkohol oder Rauschgift selbst in geringen Dosen bewirken, und denken Sie daran, daß dieser neue Faktor die Existenzgrundlagen jeder Nervenzelle beeinflußt. Die wirklich interessante Frage besteht daraus, ob ein so delikater Mechanismus diese Veränderung ohne Schaden überstehen kann.«

Seine Stimme klang unerschrocken, und die Augen hinter den dicken Brillengläsern blitzten vor Erregung, die nichts mit persönlichen Gefühlen zu tun hatte. Für ihn war das alles neuartig und wunderbar; Corinth stellte sich vor, wie Lewis auf dem Totenbett lag und klinische Beobachtungen niederschrieb, während es mit ihm zu Ende ging.

»Nun«, meinte der Physiker bedrückt, »das werden wir vermutlich bald wissen.«

»Wie kann man nur so seelenruhig darüber sprechen?« rief Sheila erschrocken.

»Hören Sie, meine Liebe«, sagte Helga, »glauben Sie wirklich, daß wir im Augenblick etwas anderes tun können?«