18. Kapitel
Frühsommer: Das erste helle Grün hat sich in kräftiger gefärbtes Laub verwandelt, in dem es bei jedem Windstoß leise raschelt; es hat noch vor einer Stunde leicht geregnet, aber jetzt glitzern die Wassertropfen wie Diamanten in der Sonne; ein paar Spatzen sitzen mitten auf der menschenleeren Straße und zwitschern eifrig durcheinander; die dunklen Gebäude heben sich schwarz vor dem blauen Himmel ab, Tausende von Fenstern reflektieren die Morgensonne.
Die Stadt wachte eben erst aus ihrem Schlaf auf. Ihre Straßen, die früher so belebt gewesen waren, lagen jetzt einsam und verlassen; nur ab und zu zeigten sich einige Männer oder Frauen. Gelegentlich summte ein Elektromobil vorbei, ohne die Kühe zu stören, die über den Häuserschluchten lag. Die Stimmung erinnerte einen unwillkürlich an Sonntag, obwohl heute Mittwoch war.
Sheilas Schritte klangen in der allgemeinen Stille unnatürlich laut. Aber sie hätte langsamer gehen müssen, um dieses Geräusch zu vermeiden, und gerade das wollte sie nicht. Sie konnte es nicht. Der Weg vom Bahnhof zum Institut war lang, und sie hätte ihre Kräfte sparen können – wofür? –, indem sie mit der Untergrundbahn fuhr. Aber der Gedanke daran, gemeinsam mit den neuen Menschen der Erde in einem Metallkäfig eingesperrt zu sein, erschreckte sie. Hier an der Oberfläche konnte sie freier atmen und sich fast einbilden, irgendwo auf dem Land zu sein. Die Stadt hatte ihre Glanzzeit bereits hinter sich; jetzt starb sie langsam, und die Wolkenkratzer waren so unpersönlich wie Felsklippen im Gebirge. Sie war allein mit sich selbst.
Ein Schatten schwebte über die Straße, als habe sich plötzlich eine Wolke vor die Sonne geschoben. Sheila sah auf und beobachtete den schlanken Metallzylinder, der geräuschlos zwischen den nächsten Gebäuden verschwand. Vielleicht hatten die Menschen unterdessen das Geheimnis der Anti-Schwerkraft entdeckt. Was nützte ihr das?
Sie ging noch rascher.
Das Institut wirkte verwahrloster als die Riesen der Fifth Avenue. Wahrscheinlich war dieser Eindruck auf die Tatsache zurückzuführen, daß es noch immer intensiv genutzt wurde; ihm fehlte die monumentale Würde des Todes. Sheila betrat die Eingangshalle. Sie sah keinen Menschen, aber in einer Ecke stand eine große Maschine, deren Lämpchen rhythmisch aufglühten, während sie leise vor sich hinsummte. Sheila ging auf den Fahrstuhl zu, zögerte kurz und benützte dann doch die Treppe. Sie wußte nicht, was die Wissenschaftler des Instituts in der Zwischenzeit mit dem Fahrstuhl angestellt hatten – vielleicht funktionierte er jetzt vollautomatisch, vielleicht reagierte er unmittelbar auf gedankliche Befehle, vielleicht hatten sie einen Hund als Fahrstuhlführer angelernt.
Im siebenten Stock blieb sie stehen, um wieder Atem zu schöpfen, und ging dann den langen Korridor entlang. Zumindest hier hatte sich nichts verändert – die Wissenschaftler konnten sich nicht mit unwichtigen Kleinigkeiten abgeben, weil sie zuviel anderes zu tun hatten. Aber die Leuchtstoffröhren waren verschwunden, und an ihrer Stelle hingen jetzt winzige Kugeln an der Decke und an den Wänden, die den Korridor taghell beleuchteten, ohne Schatten zu werfen.
Sheila blieb vor der Tür des Laboratoriums stehen, in dem Pete früher gearbeitet hatte, und zögerte unentschlossen. Sei doch nicht so ängstlich, schalt sie sich selbst. Dort drinnen arbeiten schließlich keine Menschenfresser! Aber was haben sie inzwischen erreicht? Woran arbeiten sie jetzt?
Sie gab sich einen Ruck und klopfte an die Tür. Nach einem kaum wahrnehmbaren Zögern sagte eine Stimme: »Herein!« Sie drückte die Klinke herab und betrat den Raum.
Das Innere des Laboratoriums hatte sich kaum verändert. Überall auf den Tischen standen wie üblich seltsame Apparate, deren Zweck sie nicht erfaßte; es roch noch immer leicht nach Ozon und Gummi. Auf Petes Tisch lagen einige Nachschlagewerke, daneben stand das Tischfeuerzeug, das sie ihm einmal zu Weihnachten geschenkt hatte, neben einem leeren Aschenbecher. Der Stuhl war zurückgeschoben, als sei Peter nur eben aufgestanden, um für einige Minuten in den Nebenraum zu gehen.
Grunewald sah von dem Apparat auf, an dem er arbeitete, und rückte sich die Brille mit einer charakteristischen Bewegung zurecht, an die sie sich noch gut erinnerte. Er sah müde aus, und seine Schultern waren gebeugter als früher, aber das Gesicht hatte sich nicht verändert. Ein dunkelhaariger junger Mann, den Sheila nicht kannte, arbeitete mit ihm zusammen.
Er machte eine unbeholfene Handbewegung. (Das ist aber eine Überraschung, Mrs. Corinth! Kommen Sie doch herein.)
Als der andere Mann aufsah, zeigte Grunewald auf ihn. (Das ist) »Jim Manzelli«, sagte er. (Er arbeitet gemeinsam mit mir an einem Projekt. Jim, das ist) »Mrs. Corinth«, (die Frau meines ehemaligen Chefs.)
Manzelli nickte kurz. (Freut mich, Sie kennenzulernen.) Er hatte die durchdringenden Augen eines Fanatikers.
Grunewald kam näher und trocknete sich dabei die Hände ab. »Warum« (sind Sie hierher gekommen, Mrs. Corinth?)
Sie antwortete langsam und mußte dabei ihre Schüchternheit überwinden. (Ich wollte mich nur) »Umsehen.« (Ich) »Belästige« (Sie bestimmt) »nicht lange.« Blicke und verschränkte Finger: Bitte um Verständnis.
Grunewald betrachtete sie genauer, und sie las seine Gefühle von seinem Gesicht ab. Schock: Sie ist so abgemagert! Irgend etwas quält sie, deshalb kann sie auch die Finger nicht ruhig halten. Mitgefühl: Sie muß viel mitgemacht haben. Er fehlt uns allen sehr. Höflichkeit: (Ich hoffe, Sie haben Ihre) »Krankheit« (überwunden.)
Sheila nickte. (Wo ist) »Johansson?« fragte sie. (Ohne ihn ist das Laboratorium irgendwie fremd – und ohne Pete.)
(Er hat einen Auftrag übernommen. Irgendwo in) »Afrika« (glaube ich. Wir haben eine kolossale Aufgabe vor uns, alles ist zu rasch gekommen.)
(Alles ist zu grausam!)
Ein Nicken: (Ja.) Ein Blick zu Manzelli: (Frage.)
Manzelli starrte Sheila nachdenklich an. Als sie zusammenzuckte, warf Grunewald seinem Partner einen tadelnden Blick zu.
(Ich bin heute aus) »Long Island« (in die Stadt gekommen.) Ein bitteres Lächeln und ein kurzes Nikken: (Ja, sie lassen mich jetzt wieder allein unter Menschen. Vielleicht haben sie auch nur zu viele andere Dinge zu tun und können sich deshalb nicht immer um mich kümmern.)
Grunewalds Gesichtsausdruck verdüsterte sich. (Sie sind gekommen, um sich zu verabschieden, nicht wahr?)
(Ich wollte) »sein Laboratorium« (noch einmal) »sehen.« (Er hat hier soviel Zeit verbracht.)
Eine plötzliche Frage: »Er ist tot, nicht wahr?«
Schulterzucken, Mitleid: (Wir wissen es nicht. Aber das Schiff ist jetzt einige Monate überfällig, und nur eine Katastrophe kann es aufgehalten haben. Vielleicht ist es trotz aller Sicherheitsvorkehrungen in das) »Feld« (geraten, in dem die Erde sich befunden hat.)
Sheila fuhr mit der Hand über Petes Schreibtisch.
Grunewald räusperte sich. (Wollen Sie unsere »Zivilisation« verlassen?)
Sie nickte schweigend. Sie ist zu groß für mich, zu kalt und zu fremd.
(Es gibt noch immer genügend) »Arbeit«, sagte er langsam.
Sheila schüttelte den Kopf. (Nicht für mich. Die Arbeit ist nicht das, was ich brauche.) Sie nahm das Tischfeuerzeug auf, wog es in der Hand und ließ es lächelnd in ihre Handtasche fallen.
Grunewald und Manzelli sahen sich an. Diesmal nickte Manzelli zustimmend.
(Wir haben hier) »ein Projekt begonnen«, sagte Grunewald. (Es interessiert Sie vielleicht.) Wir können ihr die Hoffnung zurückgeben – und vielleicht sogar die Zukunft.
Sheila runzelte fragend die Stirn.
Grunewald erklärte ihr unbeholfen, was er damit meinte. Die Eigenschaften des Feldes waren seit dem Start des Raumschiffes gründlicher erforscht worden. Selbst vorher war es schon möglich gewesen, das Feld künstlich zu erzeugen, um seine Auswirkungen untersuchen zu können; jetzt arbeiteten Grunewald und Manzelli daran, das gleiche Projekt in einem wesentlich größeren Rahmen zu verwirklichen. Dazu waren keine großen Geräte erforderlich – die Apparate zur Erzeugung des Feldes wogen nicht mehr als vier oder fünf Tonnen; und sobald das Feld einmal aufgebaut war, wobei ein Nukleardesintegrator die notwendige Energie lieferte, genügte die Sonnenenergie, um es unbegrenzt lange aufrechtzuerhalten.
Das Projekt brauchte nicht an die Öffentlichkeit zu dringen; nachdem jetzt die wichtigsten Aufgaben durchgeführt waren, beschäftigten alle Wissenschaftler sich wieder mit ihrer eigenen Arbeit. Das Material für die Versuche war nicht leicht zu beschaffen, aber es gab eine kleine Organisation, die ihnen dabei behilflich war. Grunewald und Manzelli führten hier im Institut nur Tests durch; die eigentliche Konstruktion erfolgte an einem anderen Ort. Ihr Laboratorium wirkte völlig harmlos – vielleicht sogar ein wenig langweilig, wenn man es mit anderen verglich, in denen täglich wichtige Entdeckungen gemacht wurden. Niemand kümmerte sich weiter darum oder zweifelte an der Richtigkeit der Erklärungen, die Grunewald abgab.
Sheila betrachtete ihn nachdenklich, und er fragte sich, in welchen unzugänglichen Teil ihrer selbst sie sich zurückgezogen hatte. »Warum?« fragte sie. »Was wollen Sie damit erreichen?«
Manzelli lächelte gönnerhaft. (Ist das nicht ganz klar? Wir bauen eine) »Raumstation« (und bringen sie in eine Kreisbahn um die Erde.) »Feldgeneratoren« (erzeugen ein Feld, das der) »Menschheit« (die gute alte) »Zeit« (zurückbringt.)
Sie stieß keinen Schrei aus, weinte nicht, holte nicht erschrocken Luft, lachte nicht einmal. Statt dessen nickte sie nur, als habe sie seine Erklärung akzeptiert, obwohl sie nichts damit anfangen konnte.
(Flucht vor der Realität – sind Sie noch geistig gesund?) fragten Grunewalds Augen.
(Welche Realität?) wollte sie wissen.
Manzelli zuckte mit den Schultern. Er glaubte zu wissen, daß sie niemand von ihrem Projekt erzählen würde, und nur das war wichtig. Wenn sie sich nicht darüber freute, wie Grunewald gehofft hatte, war das nicht seine Sorge.
Sheila durchquerte den Raum und blieb vor einem Tisch stehen, auf dem ein seltsamer Apparat aufgebaut war, der auf den ersten Blick medizinisch wirkte. Sie betrachtete den Tisch mit den Anschnallgurten, den Behälter mit Injektionsnadeln und Ampullen – und dem schwarzen Gerät am Kopfende ...
»Was ist das?« fragte sie. Ihr Tonfall hätte den Männern zeigen müssen, daß sie bereits wußte, was sie vor sich hatte, aber die beiden waren zu tief in ihr Wunschdenken verstrickt.
»Ein Gerät zur modifizierten Elektroschockbehandlung«, antwortete Grunewald zögernd. Er erklärte ihr, daß sie in den ersten Wochen nach der Veränderung einige Tierversuche unternommen hatten, um die rein funktionellen Effekte der Intelligenz nach Zerstörung eines Teils der Gehirnzellen zu untersuchen. Aber die Versuche waren bald wieder aufgegeben worden, weil sie keine nützlichen Ergebnisse gebracht hatten. (Ich dachte, Sie hätten schon davon) »gehört«, schloß er. (Wir haben selbst nie damit gearbeitet, aber die) »Biologen und Psychologen, als Pete« (noch hier war. Ich erinnere mich daran, daß er) »heftige Einwände« (dagegen erhoben hat.) »Ihnen« (gegenüber doch bestimmt ebenfalls.)
Sheila nickte geistesabwesend.
(Die) »Veränderung« (hat die) »Menschen grausam« (gemacht), warf Manzelli ein. (Und) »jetzt« (sind sie nicht einmal mehr) »das.« Er schüttelte den Kopf. (Nein, die Menschen sind nicht mehr, was sie früher waren; diese Welt der entwurzelten Intellektuellen hat ihre alten Sehnsüchte und Träume eingebüßt. Wir wollen dafür sorgen, daß die Menschheit wieder aus Menschen besteht.)
Sheila kehrte der häßlichen schwarzen Maschine den Rücken zu. »Ich muß jetzt gehen«, sagte sie.
»Ich ... nun ...« Grunewald sah zu Boden. »Sie bleiben doch mit uns in Verbindung?« (Lassen Sie uns wissen, wo Sie stecken, falls Pete wieder zurückkommt ...)
Sie schüttelte den Kopf. (Er kommt nie zurück. Und ich muß jetzt wirklich gehen.)
Sheila ging in den Korridor hinaus, stieg die Treppen in den ersten Stock hinab und blieb vor der Tür zum Büro des Direktors stehen. Die Tür stand offen, so daß ein leichter Luftzug ungehindert durch den Raum streichen konnte. Überall standen leise summende Maschinen, die vermutlich die Arbeit eines großen Sekretariats übernommen hatten. Sheila durchquerte das Vorzimmer und klopfte an die offene Tür des nächsten Büros.
Helga Arnulfsen sah von ihrem Schreibtisch auf. Sheila stellte fest, daß sie ebenfalls etwas Gewicht verloren hatte; unter ihren Augen lagen tiefe Schatten. Aber Helga wirkte trotzdem noch immer so kräftig und energisch wie früher. Sie sah auf und rief
überrascht: »Sheila!«
»Guten Tag.«
»Komm doch herein.« (Komm herein, setz dich. Wir haben uns schon lange nicht mehr gesehen.) Helga ging lächelnd auf Sheila zu und gab ihr die Hand, aber ihre Finger waren kalt.
Sie drückte auf den Knopf an ihrem Schreibtisch, der die Tür elektrisch schloß. (Jetzt können wir uns in aller) »Ruhe« (unterhalten), sagte sie. (Das ist das Zeichen, daß ich nicht gestört werden möchte.) Sie setzte sich neben Sheila auf die bequeme Couch und schlug die Beine übereinander. »Ich freue mich«, fuhr sie fort, (dich wiederzusehen. Hoffentlich geht es dir gut.) Sie sieht ausgesprochen elend aus.
»Ich ...« Sheila spielte unsicher mit ihrer Handtasche. »Ich ...« (Warum bin ich gekommen?)
Augen: (Wegen Pete.)
Nicken: (Ja. Ja, das muß es gewesen sein. Manchmal weiß ich gar nicht, weshalb ich ... Aber wir haben ihn beide geliebt, nicht wahr?)
»Er hat sich immer nur deinetwegen Sorgen gemacht«, antwortete Helga tonlos. Und du hast ihm Kummer bereitet. Er hat ständig an dich gedacht.
Ich weiß. Das bedrückt mich auch am meisten. »Aber er war nicht mehr der gleiche Mann«, sagte Sheila. (Er hatte sich zu sehr verändert – wie die ganze Welt.
Obwohl ich ihn festzuhalten versuchte, entglitt er mir allmählich.) »Ich habe ihn schon vor seinem Tod verloren.«
»Nein. Du hast ihn immer besessen, denn er war nur für dich da.« Helga zuckte mit den Schultern. »Nun, das Leben geht weiter.« (Wir essen und atmen und schlafen und arbeiten, weil wir nichts anderes zu tun haben.)
»Du bist stark«, sagte Sheila. (Du hast mehr ertragen als ich.)
Helga schüttelte den Kopf.
»Du hast noch eine Zukunft.«
»Ja, vielleicht.«
Sheila lächelte schüchtern. (Ich bin glücklicher als du. Ich habe die Vergangenheit.)
»Vielleicht kommen sie doch wieder zurück«, meinte Helga. (Niemand weiß, was ihnen zugestoßen ist. Hast du genügend Mut, um auf ihn zu warten?)
»Nein«, antwortete Sheila. »Vielleicht kommen ihre Körper wirklich zurück«, (aber nicht Pete. Er hat sich zu sehr verändert, und ich kann nicht mehr mit ihm Schritt halten. Ich will aber auch nicht das Gefühl haben, daß ich ihn behindere.)
Helga legte Sheila die Hand auf den Arm. Wie dünn er geworden war! Sie fühlte die Knochen unter ihren Fingern. »Nur Geduld«, sagte sie. »Behandlungsmethoden« (für Fälle dieser Art werden täglich) »verbessert.« (In ein paar) »Jahren« (bist du wieder völlig) »normal.«
»Das bezweifle ich.«
In Helgas Augen zeigte sich eine gewisse Verachtung, die sie nicht völlig unterdrücken konnte. Willst du dich wirklich der Zukunft anpassen? Hast du wirklich den Ehrgeiz, Schritt zu halten? »Was« (bleibt dir noch, außer zu warten?) »Oder denkst du etwa an Selbstmord ...«
»Nein, nein, bestimmt nicht.« (Schließlich gibt es noch immer Berge, Täler, Flüsse, Sonne, Mond und Sterne.) »Ich finde irgendwo ... einen Platz.«
(Ich stehe mit) »Kearnes« (in Verbindung. Er scheint der Meinung zu sein, daß du) »Fortschritte« (gemacht hast.)
»Ja, natürlich.« Ich weiß jetzt, wie man seine wahren Gefühle verbirgt. In dieser neuen Welt gibt es zu viele neugierige Augen. »Aber ich wollte nicht« (nur von mir sprechen, Helga. Ich bin nur gekommen, um mich zu) »verabschieden.«
»Wo« (bist du zu erreichen? Ich muß mit dir in Verbindung bleiben, falls er wieder zurückkommt.)
»Ich schreibe« (und gebe dir meine Anschrift.)
»Am besten gibst du die Nachricht einem Telepathen.« (Das früher übliche System der Nachrichtenübermittlung ist überholt.)
Das also auch? Ich erinnere mich noch gut an den alten Mister Barneveldt, der in seiner blauen Uniform Briefe ausgetragen hat, als ich noch ein kleines Mädchen war. Er hat mir oft Bonbons geschenkt.
»Ich habe allmählich Hunger«, sagte Helga. (Gehen wir gemeinsam zum) »Mittagessen?«
(Nein, danke. Ich fühle mich nicht ganz wohl.) Sheila stand auf. »Adieu, Helga.« (Ich muß jetzt gehen.)
»Wir sehen uns bald wieder, Sheila.« (Und dann bist du so gesund wie früher.)
»Ja«, antwortete Sheila. »Dann geht es mir wieder gut. Auf Wiedersehen.«
Sie verließ das Büro und das Gebäude. Auf der Straße bewegten sich unterdessen mehr Menschen, zwischen denen sie untertauchen konnte. Ein Hauseingang auf der anderen Straßenseite bot ihr Schutz vor neugierigen Blicken.
Sheila empfand zu ihrer eigenen Überraschung keinerlei Abschiedsstimmung, sondern nur eine betäubende Leere, als wögen Kummer und Einsamkeit und Verwirrung einander völlig auf. Ab und zu strich einer dieser Schatten an ihr vorüber, aber sie erschrak nicht mehr vor ihnen. Statt dessen bedauerte sie diese Geister fast. Arme Geister! Sie würden bald sterben.
Sie sah Helga aus dem Institut kommen und beobachtete sie, während sie die Straße entlangging, um irgendwo allein zu Mittag zu essen, bevor sie wieder an die Arbeit zurückkehrte. Sheila lächelte und schüttelte den Kopf. Arme tüchtige Helga!
Dann erschienen Grunewald und Manzelli auf der Straße; die beiden Männer waren so in ihr Gespräch vertieft, daß sie kaum auf ihre Umgebung achteten, während sie in die gleiche Richtung wie Helga gingen. Sheilas Herz schlug rascher. Ihre Hände fühlten sich plötzlich eiskalt an. Sie wartete ungeduldig, bis die beiden Männer um die nächste Ecke gebogen waren, und betrat dann das Institut ein zweitesmal an diesem Morgen.
Ihre Absätze klapperten unnatürlich laut auf den Steintreppen. Sheila atmete tief, als könne sie dadurch ihr Herz zur Ruhe zwingen. Als sie den siebenten Stock erreicht hatte, blieb sie einen Augenblick lang horchend stehen und rannte erst dann durch den langen Korridor auf das Laboratorium zu.
Die Tür stand weit offen. Sheila zögerte nochmals und starrte den Versuchsaufbau auf einem der Tische an. Hatte Grunewald nicht von einem phantastischen Plan erzählt, mit dessen Hilfe er ...? Aber das war jetzt nicht mehr wichtig. Es konnte nicht funktionieren. Grunewald, Manzelli und die übrigen Revisionisten waren alle verrückt geworden.
Bin ich wahnsinnig? fragte sie sich. Falls das zutraf, hatte sie sich eine erstaunliche Willenskraft bewahrt. Ihr Vorhaben erforderte mehr Entschlossenheit als ein bloßer Selbstmord, bei dem man schließlich nur die Pistole an die Schläfe zu setzen und abzudrücken brauchte.
Der Elektroschock-Apparat lag wie ein gepanzertes Urwelttier neben dem Tisch. Sheila arbeitete rasch und machte die notwendigen Einstellungen. Sie hatte sich noch gut an Petes wütende Proteste gegen den Gebrauch der Maschine erinnert, und Kearnes hatte ihr bereitwillig alle Fachbücher über dieses Gebiet verschafft, weil er sich freute, daß sie endlich einmal für etwas Interesse zeigte. Sheila lächelte vor sich hin. Armer Kearnes! Wie sie ihn überlistet hatte!
Die Maschine summte leise, dann leuchtete das grüne Licht auf, das ihre Betriebsbereitschaft anzeigte. Sheila nahm ein kleines Paket aus ihrer Handtasche und öffnete es. Spritze, Nadel, Ampullen mit einem Betäubungsmittel, Elektrodenpaste, Schnur für den Schalter, damit sie ihn mit den Zähnen betätigen konnte. Und einen Zeitschalter für die Stromversorgung der Maschine. Sie mußte schätzen, wieviel Zeit der notwendige Vorgang beanspruchte, denn sie würde bewußtlos sein, wenn die Behandlung beendet war.
Vielleicht stellte sich die gewünschte Wirkung nicht ein. Wahrscheinlich zerstörte sie nur ihr Gehirn. Aber was machte das schon aus?
Sie sah aus dem Fenster, während sie sich das Betäubungsmittel injizierte. »Adieu, Sonne, adieu, blauer Himmel, Wolken, Regen, Vogelstimmen, Wind und Sterne. Adieu und vielen Dank.«
Sie streckte sich auf dem Tisch aus und legte die Elektroden an, die kalt auf ihrer Haut lagen. Die meisten Anschnallgurte waren leicht zu befestigen, aber der rechte Arm ... nun, sie hatte sich darauf vorbereitet, sie hatte einen langen Gurt mitgebracht, der um den Tisch lief, und ein Vorhängeschloß, das sie zuschnappen konnte. Jetzt war auch der rechte Arm so unbeweglich wie ihr ganzer Körper.
Als das Betäubungsmittel zu wirken begann, verschwamm der Raum allmählich vor ihren Augen. Aber der Schlaf war nur ein willkommener Freund.
Jetzt! Ein kurzer Ruck mit den Zähnen ...
DONNER UND FEUER UND BETÄUBENDE DUNKELHEIT
ZERSTÖRUNG UND ANGST UND LICHTBLITZE
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