3. Kapitel
Überall gab es plötzlich Schwierigkeiten. Ein lauter Schrei lockte Archie Brock in das Hühnerhaus, wo Stan Wilmer einen Eimer Futter abgestellt hatte, um beide Fäuste in die Hüften stemmen zu können.
»Sieh dir das an!« rief er. »Sieh nur!«
Brock streckte den Kopf durch die Tür und pfiff leise zwischen den Zähnen. Ein halbes Dutzend toter Hühner lag in dem blutbespritzten Stroh, auf den Stangen gackerten nervös weitere acht oder neun Hennen. Das war alles. Die übrigen Hühner waren verschwunden.
»Jemand muß die Tür offengelassen haben«, sagte Brock. »Dann sind die Füchse gekommen.«
»Genau.« Wilmer zitterte geradezu vor Wut. »Irgendein verdammter ...«
Brock erinnerte sich daran, daß Wilmer für das Hühnerhaus verantwortlich war, erwähnte diese Tatsache aber nicht. Der andere kam selbst darauf und runzelte nachdenklich die Stirn.
»Ich weiß bestimmt, daß gestern abend noch alles in Ordnung war«, sagte er langsam. »Das ist das erstemal seit fünf Jahren, daß so etwas passiert.«
»Vielleicht hat jemand später die Tür aufgemacht?«
»Kann sein. Vielleicht ein Hühnerdieb. Aber dann hätten die Hunde eigentlich anschlagen müssen.« Wilmer zuckte mit den Schultern. »Na, jedenfalls hat jemand die Tür aufgemacht.«
»Und später sind die Füchse gekommen«, fügte Brock hinzu.
»Und die meisten Hühner haben sich wahrscheinlich in den Wald gerettet«, meinte Wilmer. »Jetzt brauchen wir bestimmt eine Woche, um sie wieder einzufangen – falls sie noch leben. Mein Gott!« Er stürmte hinaus und vergaß dabei, die Tür hinter sich zu schließen. Brock verriegelte sie an seiner Stelle und war selbst überrascht, daß er daran gedacht hatte.
Er seufzte und machte sich wieder an seine gewohnte Arbeit. Die Tiere waren heute alle nervös. Und sein eigener Kopf schien ebenfalls nicht ganz in Ordnung zu sein. Er erinnerte sich an die seltsamen Gedanken, die ihn seit zwei Tagen plagten. Vielleicht handelte es sich dabei um eine Art Fieber, das anstekkend wirkte.
Aber darüber konnte er sich später mit den anderen unterhalten. Vorläufig hatte er genügend Arbeit – die frisch gerodete Fläche sollte gepflügt werden. Die Traktoren waren alle schon auf den Feldern, deshalb mußte er die Pferde nehmen.
Das war ihm allerdings nur recht. Brock hatte Tiere gern; er hatte sich mit ihnen schon immer besser als mit den meisten Menschen verstanden, was allerdings nicht hieß, daß er in den letzten Jahren von Menschen schlecht behandelt worden wäre. In seiner Jugend war Archie oft von anderen gehänselt worden, weil er manches nicht konnte, was ihnen leicht fiel. Aber das lag schon Jahre zurück. Mr. Rossman hatte ihm erklärt, was er auf der Farm tun dürfe und solle, und seitdem war eigentlich alles in Ordnung gewesen. Jetzt konnte er wie jeder andere in die Kneipe gehen, wenn er in der Stadt war, und die anderen Männer nickten ihm freundlich zu.
Er blieb stehen und fragte sich, weshalb er eigentlich darüber nachdachte, obwohl er doch alles nur zu gut wußte, und warum ihm die Erinnerung daran weh tat. Mir fehlt doch nichts, dachte er. Ich bin vielleicht nicht sehr schlau, aber dafür stark. Mister Rossman sagt selbst, daß er keinen besseren Arbeiter als mich hat.
Er zuckte mit den Schultern und ging in den Stall, um die Pferde herauszuholen. Archie Brock war ein junger Mann, untersetzt, aber sehr muskulös, mit freundlichem Gesicht und kurzgeschnittenen roten Haaren. Sein blauer Overall war abgetragen, aber sauber; Mrs. Bergen, die Frau des Farminspektors, in dessen Haus Archie ein Zimmer hatte, sorgte dafür.
Tom und Jerry, die beiden kräftigen Kaltblutpferde der Farm, waren an diesem Morgen ebenfalls unruhig, obwohl sie sonst durch nichts zu erschüttern waren. Brock sprach leise auf sie ein, während er sie im Hof festband, bis er den Pflug aus der Scheune geholt hatte.
Sein Hund Joe, ein goldbrauner irischer Setter, kam herbeigerannt und sprang an ihm hoch. Joe gehörte selbstverständlich Mr. Rossman, aber Brock hatte ihn aufgezogen, so daß Joe am liebsten in seiner Nähe blieb. »Platz, Joe, Platz! Was ist heute eigentlich in dich gefahren? Langsam, hörst du?«
Brock schob das Scheunentor zur Seite und zog den Pflug heraus, wobei er vor Anstrengung leise keuchte. Auf der ganzen Farm gab es keinen außer ihm, der das allein geschafft hätte. Er grinste, als er sah, daß die Pferde bei diesem Anblick unruhig auf den Boden stampften. Pferde waren wirklich faul – sie arbeiteten nur, wenn es nicht anders ging.
Er schob den Pflug hinter sie, brachte die Deichsel in die richtige Stellung und schirrte die Pferde an. Dann nahm er die Zügel in die Hand und schnalzte mit der Zunge. »Hü!«
Die Pferde bewegten sich nicht.
»Hü, Tom! Hü, Jerry!«
Tom machte einen Schritt rückwärts. »Oha! Oha!« Brock klatschte ihm die Zügel auf das breite Hinterteil. Tom schnaubte und stellte einen Huf auf die Deichsel. Sie zerbrach. Brock schüttelte sprachlos den Kopf. »Nur ... ein ... Zufall«, brachte er dann heraus. »Bestimmt nur ein Zufall.«
In der Scheune lag eine zweite Deichsel. Er holte sie, nahm einen Schraubenschlüssel mit und montierte verbissen die zerbrochene Deichsel ab.
»He! Halt! Halt, sage ich!«
Brock sah auf. Im gleichen Augenblick hörte er auch das Quieken und Grunzen. Ein schwarzes Etwas raste an ihm vorüber, dann noch eines und noch eines ... Die Schweine waren ausgerissen!
»Joe!« rief er und wunderte sich gleichzeitig darüber, daß er so rasch reagierte. »Hol sie zurück, Joe! Bring sie wieder her, Junge!« Der Hund rannte wie der Blitz davon, überholte das erste Schwein und schnappte nach ihm. Als das Tier grunzend in die entgegengesetzte Richtung lief, stürzte Joe sich sofort auf das nächste. Stan Wilmer kam heran. Sein Gesicht war weiß.
Brock hielt ein Schwein auf und schickte es zurück, aber das vierte Tier lief weiter und verschwand im Wald. Einige Minuten später standen die meisten Schweine wieder in ihrem Pferch, aber eine ganze Anzahl war verschwunden.
Wilmer fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn. »Ich habe es selbst gesehen«, stöhnte er dabei. »Mit eigenen Augen! Dabei ist es unmöglich!«
Brock holte tief Luft.
»Hast du gehört?« Wilmer griff nach seinem Arm. »Ich habe mit eigenen Augen gesehen, daß die Schweine das Tor geöffnet haben!«
»Was ...?« Brock schüttelte den Kopf.
»Ich habe es selbst gesehen! Ein Schwein hat sich auf die Hinterbeine gestellt und den Riegel mit der Schnauze nach oben gedrückt. Und die anderen haben zugesehen. Nein, nein, nein!«
Joe kam aus dem Wald zurück und trieb kläffend ein Schwein vor sich her. Wilmer drehte sich automatisch um, öffnete das Tor und ließ das Tier zu den anderen in den Pferch.
»Braver Junge!« Brock streichelte Joes Kopf. »Kluger Hund!«
»Eigentlich zu klug.« Wilmer kniff die Augen zusammen. »Hat der Hund das schon einmal gemacht?«
»Klar«, antwortete Brock unsicher.
Joe rannte in den Wald zurück.
»Ich wette, daß er nach dem nächsten Schwein sucht.« Wilmers Stimme klang erschrocken.
»Klar. Er ist eben ein kluger Hund.«
»Das muß ich Bill Bergen erzählen.« Wilmer drehte sich auf dem Absatz um. Brock zuckte mit den Schultern und machte sich wieder an seine Arbeit. Bis er damit fertig war, hatte Joe zwei weitere Schweine zurückgetrieben und hielt jetzt Wache vor dem Pferch.
»Guter Junge«, sagte Brock. »Dafür bekommst du einen schönen Knochen.«
Er spannte die beiden Pferde ein. »Los, ihr Halunken! Hü!«
Die Pferde gingen langsam rückwärts. »He!« kreischte Brock.
Diesmal gaben sie sich nicht mit der Deichsel zufrieden, sondern stiegen langsam über den Pflug hinweg, bis die Pflugschar unter ihrem Gewicht aus der Halterung brach. Brock schüttelte ungläubig den Kopf.
»Nein«, murmelte er vor sich hin.
Wilmer bekam fast einen Anfall, als er die Geschichte mit den Pferden hörte. Bergen pfiff nur leise vor sich hin. »Ich weiß nicht recht ...« Er zuckte mit den Schultern. »Am besten vermeiden wir jede Arbeit mit Tieren, die nicht unbedingt erforderlich ist. Dann verschließen wir alle Gatter und kontrollieren die Zäune. Ich gehe jetzt zu dem Alten und frage, was wir sonst unternehmen sollen.«
»Von jetzt ab trage ich ein Gewehr«, sagte Wilmer.
»Vielleicht gar keine schlechte Idee«, meinte Bergen.
Während Archie Brock den ihm zugeteilten Abschnitt des Zaunes überprüfte, hatte er das unbehagliche Gefühl, eine Stille vor dem Sturm zu erleben. Nirgendwo war ein Tier zu sehen, weder Vögel noch Hasen noch Eichhörnchen ließen sich blicken. Brock überlegte sich, daß diese völlige Stille eigentlich unnatürlich war.
Er konnte sich vorstellen, daß die Leute es mit der Angst zu tun bekamen, wenn alle Tiere plötzlich schlauer wurden. Wie konnten sie dann noch erwarten, daß die Tiere sich wie bisher einsperren, zur Arbeit benützen, melken und schlachten lassen würden? Wenn man sich vorstellte, daß Tom und Jerry ... Aber die beiden waren doch so freundlich!
Und wurden die Menschen nicht auch klüger? Brock hatte den Eindruck, in den letzten Tagen mehr Gespräche als früher gehört zu haben, die sich nicht nur mit dem Wetter und den Nachbarn befaßten, sondern auch mit den bevorstehenden Wahlen oder technischen Problemen. Natürlich hatten die Leute schon immer über solche Dinge gesprochen, aber waren nie lange dabeigeblieben. Und Mrs. Bergen, die doch sonst nur vor dem Fernsehgerät saß, hatte sogar ein Magazin gelesen.
Ich werde auch klüger!
Diese Erkenntnis traf Brock wie ein Keulenschlag. Er blieb vor Überraschung unbeweglich stehen. Joe kam heran und beschnüffelte seine Hand.
Ich werde klüger.
Natürlich – das mußte so sein. Er hatte in letzter Zeit mehr als früher nachgedacht, hatte sich an alle möglichen Ereignisse erinnert und öfter als je zuvor gesprochen – was sollte das anderes sein? Die ganze Welt wurde klüger.
Ich kann lesen, überlegte er sich. Nicht sehr gut, aber ich kenne das Alphabet und kann ein Micky-Maus-Heft lesen. Vielleicht versuche ich es jetzt einmal mit einem wirklichen Buch.
In Büchern standen die Antworten auf alle Fragen, die ihn plötzlich bedrückten – Sonne, Mond und Sterne, weshalb gab es vier Jahreszeiten, wozu wurde ein Präsident gewählt, wie kam es zu Kriegen, wer lebte auf der anderen Seite der Welt ...
Er schüttelte den Kopf, als könne er nicht begreifen, was plötzlich in ihn gefahren war. Bisher hatte er sich noch nie mit solchen Problemen beschäftigt. Dinge passierten und wurden sofort wieder vergessen. Aber ... Er sah sich fragend um. Wer bin ich? Was tue ich hier?
Eine ungeheure Erregung ließ ihn nicht mehr los. Er lehnte sich an einen Baum, weil seine Knie nachzugeben drohten. Bitte, lieber Gott, laß es wahr sein. Bitte, mach mich wie die anderen.
Dann richtete er sich auf und überprüfte weiter den Zaun, wie Mr. Bergen es ihm aufgetragen hatte.
Abends, nachdem er seine Arbeit getan hatte, zog er sich seinen besten Anzug an und ging zu dem großen Haus hinüber. Mr. Rossman saß auf der Terrasse, rauchte seine Pfeife und hatte ein Buch auf dem Schoß liegen. Brock blieb mit der Mütze in der Hand vor ihm stehen.
»Hallo, Archie«, sagte Mr. Rossman. »Wie geht es dir?«
»Gut, danke«, antwortete Brock. Er drehte die Mütze zwischen den Händen. »Haben Sie einen Augenblick Zeit für mich, Mister Rossman?«
»Selbstverständlich.« Der Farmer wies auf einen Stuhl neben sich. »Hier, nimm Platz.«
»Vielen Dank. Ich ...« Brock fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. »Ich möchte Sie etwas fragen.«
»Nur weiter, Archie.« Mr. Rossman lehnte sich in seinen Sessel zurück. Brocks Eltern hatten einen kleines Stück Land von ihm gepachtet, und als feststand, daß Archie es nie sehr weit bringen würde, hatte Rossman sich um den Jungen gekümmert. Das war einer der Züge, die diesen Millionär, der in seiner Freizeit Gutsbesitzer spielte und Rosen züchtete, so sympathisch machten. »Alles in Ordnung?«
»Nun, es ... äh ... handelt sich um die Veränderung hier.«
»Ja?« Rossman beugte sich nach vorn. »Welche Veränderung?«
»Sie wissen schon. Die Tiere sind plötzlich schlauer geworden.«
»Richtig.« Rossman zündete seine Pfeife neu an. »Hast du eine Veränderung an dir bemerkt, Archie?«
»Ja. Ich glaube es wenigstens.«
Rossman nickte. »Sonst wärst du heute abend nicht hierher gekommen.«
»Was ist eigentlich los, Mister Rossman? Was ist passiert?«
»Ich weiß es nicht, Archie. Das weiß kein Mensch.« Der alte Mann schüttelte langsam den Kopf. »Vielleicht wird endlich alles richtig.«
»Sie wissen es nicht ...«
»Nein. Das weiß kein Mensch. Aber vielleicht erfahre ich bald mehr darüber, wenn ich mit den Wissenschaftlern in meinem Institut spreche ...«
»Sie fahren fort?«
Rossman schüttelte lächelnd den Kopf. »Armer Archie. Diese Hilflosigkeit ist schrecklich, nicht wahr? Ich glaube manchmal, daß wir Menschen nur deshalb den Tod so sehr fürchten – nicht etwa darum, weil er so endgültig ist, sondern vielmehr deswegen, weil wir nichts gegen ihn tun können. Niemand kann ihn aufhalten.«
Er runzelte nachdenklich die Stirn. »Ja«, sagte er dann, »ich spüre es auch. Und es ist nicht sehr angenehm. Die Nervosität und die Alpträume sind rein psychologisch bedingt, nehme ich an – aber die Gedanken! Ich habe mir immer eingebildet, meiner Familie und dem Land gut gedient zu haben, aber jetzt kommt es mir manchmal vor, als hätte ich mein Leben geradezu vergeudet.« Er lächelte nochmals. »Ich hoffe nur, daß ich das Ende dieser Entwicklung noch erlebe. Das müßte wirklich interessant sein!«
Brock hatte Tränen in den Augen. »Was kann ich tun?« fragte er leise.
»Tun? Leben. Von Tag zu Tag leben. Was kann ein Mensch sonst tun?« Rossman stand auf und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Aber du mußt weiterhin denken, Archie. Solid und vernünftig, wie es zu deiner ganzen Art paßt. Laß dir nichts von anderen einreden, mach deine Fehler selbst, wenn es gar nicht anders geht. Nur so bleibst du unabhängig.«
Brock hatte nicht alles verstanden, aber er nickte trotzdem. »Ich hätte mir gern ein Buch geliehen«, sagte er schüchtern. »Vielleicht kann ich jetzt eines lesen.«
»Selbstverständlich, Archie. Komm, wir gehen in die Bibliothek und suchen eines für den Anfang ...«