9. Kapitel
Felix Mandelbaum hatte kaum hinter seinem Schreibtisch Platz genommen, als die Gegensprechanlage zu summen begann. »Gantry«, kündigte seine Sekretärin an. Dem Tonfall ihrer Stimme nach mußte es sich um einen wichtigen Besucher handeln.
Gantry – er kannte niemand, der so hieß. Mandelbaum seufzte und sah aus dem Fenster. Über dem Park lag noch der Morgennebel, aber der Tag würde bestimmt wieder heiß werden.
Zwischen den Bäumen stand ein Panzer, der den rückwärtigen Eingang des Rathauses bewachte. Die Zeit der unkontrollierbaren Ausschreitungen schien vorüber zu sein: der Dritte-Baal-Kult zerfiel rasch, seitdem der Prophet letzte Woche verhaftet worden war; die Verbrecherbanden wurden nacheinander von der Bürgerwehr zerschlagen, die an Stärke und Erfahrung gewonnen hatte. Die Stadt selbst war wieder ruhiger geworden, aber niemand konnte beurteilen, wie es in den Vororten aussah. Wahrscheinlich würde es noch zu weiteren heftigen Kämpfen kommen, bevor dort ebenfalls alles unter Kontrolle war.
Mandelbaum lehnte sich in seinen Sessel zurück und zwang seine verkrampften Muskeln bewußt dazu, sich zu entspannen. Obwohl er nach außen hin so energisch wirkte, war er in letzter Zeit ständig übermüdet. Er hatte einfach zuviel zu tun und zu wenig Zeit zum Schlafen. Er betätigte den Summer und signalisierte damit, daß er bereit war, den Besucher jetzt zu empfangen.
Gantry war ein großer grobknochiger Mann, dessen guter Anzug ziemlich schlecht saß. Der Stimme nach schien er vom Land zu kommen. »Ich habe gehört, daß Sie jetzt Diktator der Stadt sind«, begann er.
»Nicht wirklich«, antwortete Mandelbaum lächelnd. »Ich beseitige nur die allgemeinen Schwierigkeiten im Auftrag des Bürgermeisters und des Stadtrates.«
»Kann schon sein. Aber wenn es Schwierigkeiten gibt, ist der Mann Boß, der mit ihnen fertig wird.«
Mandelbaum bestritt diese Tatsache keineswegs, denn im Grunde genommen hatte der Mann recht. Der Bürgermeister war voll und ganz mit Verwaltungsproblemen ausgelastet; Mandelbaum arbeitete als Koordinator der vielfältigen Interessen, die miteinander im Streit lagen, und der neue Stadtrat stimmte fast immer für die Lösungen, die er vorschlug.
»Setzen Sie sich doch«, forderte er Gantry auf. »Was kann ich für Sie tun?« Er wußte bereits, was der andere vorbringen würde, aber auf diese Weise gewann er Zeit.
»Ich vertrete die Farmer aus acht Bezirken. Sie haben mich hierher geschickt, um festzustellen, weshalb Ihre Leute uns ausrauben.«
»Ausrauben?« wiederholte Mandelbaum mit gut gespielter Überraschung.
»Sie wissen genau, was ich damit meine. Nachdem wir es abgelehnt haben, uns mit Dollars bezahlen zu lassen, wollten Ihre Leute uns Schuldverschreibungen der Stadt aufschwatzen. Und als wir uns wieder geweigert haben, hieß es plötzlich, unsere Ernte würde beschlagnahmt.«
»Ich weiß«, sagte Mandelbaum. »Manche Leute sind eben schrecklich taktlos. Tut mir leid.«
Gantry kniff die Augen zusammen. »Garantieren Sie dafür, daß Ihre Leute nicht mit der Waffe in der Hand wiederkommen? Wir haben nämlich welche!«
»Haben Sie auch Panzer und Flugzeuge?« erkundigte Mandelbaum sich. Er wartete, bis der andere die Bedeutung dieser Frage erfaßt hatte, und sprach dann rasch weiter: »Hören Sie, Mister Gantry, im Augenblick leben noch sechs oder sieben Millionen Menschen in der Stadt. Wenn wir ihnen keine Lebensmittel verschaffen, müssen sie verhungern. Will Ihre Vereinigung wirklich sieben Millionen Kinder, Frauen und Männer verhungern lassen, obwohl die Scheunen der Farmer überquellen? Das kann ich nicht glauben. Sie sind doch anständige Menschen. Das brächten Sie nicht übers Herz.«
»Ich weiß nicht recht«, meinte Gantry zweifelnd. »Vergessen Sie nicht, daß wir schwer unter den Horden gelitten haben, die letzten Monat aus der Stadt geflohen sind ...«
»Glauben Sie mir, wir haben sie mit allen Mitteln zurückzuhalten versucht. Dabei haben wir nur einen Teilerfolg erzielt, weil die Panik zu groß war, aber wir haben immerhin verhindert, daß die gesamte Einwohnerschaft aufs Land hinausströmt.« Mandelbaum lehnte sich in seinen Sessel zurück und sah zur Decke auf. »Sie können natürlich stur bleiben und abwarten, bis die verdammten Städter alle verhungert sind. Aber das würden Sie vermutlich nicht mehr erleben. Früher oder später würden die Massen aus der Stadt fliehen und über die Farmer herfallen.«
»Ja, natürlich.« Gantry faltete seine großen roten Hände. Irgendwie fand er sich plötzlich in die Defensive gedrängt. »Wir wollen gar keine Schwierigkeiten machen«, versicherte er dann, »aber ... nun, wir erzeugen die Lebensmittel, aber Ihre Leute bezahlen uns nichts dafür. Sie nehmen einfach alles, was sie brauchen. Ihre Schuldverschreibungen sind nichts wert. Was können wir dafür kaufen?«
»Im Augenblick noch gar nichts«, gab Mandelbaum offen zu. »Aber das ist bestimmt nicht unsere Schuld. Wir haben die Produktion noch nicht wieder organisieren können. Wenn das erst einmal der Fall ist, sind die Schuldverschreibungen für Sie so gut wie bares Geld, denn dann bekommen Sie dafür Kleidung, Maschinen und so weiter. Aber wenn Sie uns verhungern lassen – wo bleibt dann Ihr Markt?«
»Darüber haben wir auch schon diskutiert«, antwortete Gantry. »Welche Garantie können Sie uns dafür geben, daß die Stadt ihren Verpflichtungen nachkommt?«
»Hören Sie, Mister Gantry, wir sind auf die Zusammenarbeit mit Ihnen angewiesen. Wir legen so großen Wert darauf, daß wir sogar bereit sind, einem Vertreter der Farmer Sitz und Stimme im Stadtrat zu geben. Wie könnten wir Sie dann noch hintergehen?«
»Hmmm ...« Gantry kniff nachdenklich die Augen zusammen. »Wie viele Mitglieder hat der Stadtrat insgesamt?«
Nach Abschluß der halbstündigen Verhandlung verließ Gantry die Stadt mit einem Angebot an die Farmer: Sie sollten vier Sitze im Stadtrat erhalten und bei allen Abstimmungen, die ihre Belange betrafen, ein spezielles Vetorecht haben. Mandelbaum war davon überzeugt, daß die Farmer darauf eingehen würden, denn diese Vereinbarung schien ein echter Erfolg für ihre Seite zu sein.
Er grinste vor sich hin. Wie ließ sich dieser Erfolg definieren? Das Vetorecht war praktisch bedeutungslos, denn die Politik der Stadt gegenüber den Farmern war ohnehin offen und ehrlich. Aber die Stadt, der Staat und das ganze Land würden davon profitieren, daß ein so großes Gebiet sich wieder zusammengeschlossen hatte. Vielleicht erhielten die Farmer nie einen reellen Gegenwert für ihre Lieferungen – die Gesellschaft veränderte sich so rasch, daß es unter Umständen schon in wenigen Jahren keine Städte mehr gab –, aber das war unwichtig, wenn auch bedauerlich. Im Augenblick zählte nur das Überleben von Tag zu Tag.
»North und Morgan«, kündigte seine Sekretärin an.
Mandelbaum richtete sich auf. Jetzt hatte er eine schwierigere Aussprache vor sich. Der Boß der Hafenarbeiter und der verrückte politische Theoretiker verfolgten ihre eigenen Ziele mit Unterstützung einer beachtlichen Anhängerschaft, die in beiden Fällen so groß war, daß ein gewaltsames Vorgehen wenig Erfolg versprach. Mandelbaum stand höflich auf, als die beiden Männer den Raum betraten.
North war untersetzt, aber kräftig gebaut, sein Gesicht wirkte unter der dicken Fettschicht hart und brutal; Morgan war schlanker und sah auf den ersten Blick weniger gefährlich aus, aber die brennenden Augen unter der hohen Stirn verrieten den rücksichtslosen Fanatiker. Die beiden Männer starrten sich wütend an und wandten sich dann aufgebracht an Mandelbaum. North drückte ihre Gefühle aus, als er knurrte: »Warum haben Sie uns gleichzeitig hereingeholt? Ich wollte allein mit Ihnen sprechen.«
»Tut mir leid«, antwortete Mandelbaum, obwohl er absichtlich dafür gesorgt hatte, »das muß ein Versehen sein. Aber warum nehmen Sie nicht beide einen Augenblick Platz? Vielleicht werden wir uns trotzdem irgendwie einig.«
»Für uns kann es kein ›Irgendwie‹ geben«, sagte Morgan scharf. »Meine Anhänger und ich haben nicht die Absicht, noch lange geduldig zuzusehen, wie dieser Stadtrat hartnäckig die Prinzipien des Dynapsychismus unbeachtet läßt. Ich warne Sie, wenn Sie nicht bald für eine vernünftige Reorganisation sorgen, werden wir ...«
North drängte ihn beiseite und wandte sich an Mandelbaum. »Hören Sie, im Hafen liegen fast hundert Schiffe, während die Ostküste und Europa wieder Handel treiben möchten. Meine Leute haben es allmählich satt, daß niemand auf sie hört.«
»Wir haben in letzter Zeit nicht mehr viel aus Europa gehört«, sagte Mandelbaum entschuldigend. »Und die ganze Lage ist so unsicher, daß wir nicht einmal den Versuch unternehmen können, mit anderen Städten an der Ostküste Handel zu treiben. Womit sollen wir außerdem handeln? Wer beschafft Treibstoff für die Schiffe? Tut mir leid, aber ...« In Gedanken fuhr er fort: Die eigentliche Schwierigkeit liegt
darin, daß du selbst unzufrieden bist, weil du keine Schmiergelder mehr bekommst.
»Daran ist nur die unglaubliche Sturheit der gegenwärtigen Machthaber schuld«, erklärte Morgan. »Ich habe bereits zwingend bewiesen, daß eine soziale Integration auf Grund der von mir entdeckten psychologischen Prinzipien innerhalb kürzester Zeit ...«
Und du lebst davon, daß es noch zu viele Menschen gibt, die deine Machtgier unterstützen, weil sie selbst nach der endgültigen Antwort suchen, dachte Mandelbaum gelassen. Du sprichst wie ein Intellektueller, deshalb halten sie dich für einen; eine gewisse Schicht hält noch immer nach einem Mann auf einem weißen Pferd Ausschau, aber er soll möglichst ein wissenschaftliches Werk unter dem Arm haben. Du und Lenin!
»Entschuldigen Sie«, sagte er laut. »Was schlagen Sie vor, Mister North?«
»New York hat als Hafenstadt begonnen und wird früher oder später wieder ein großer Hafen sein. Diesmal muß dafür gesorgt werden, daß die Arbeiter, die für das Funktionieren des Hafens verantwortlich sind, auch ein Mitspracherecht bekommen, das ihnen zusteht!«
Du willst also auch Diktator werden, überlegte Mandelbaum, bevor er laut sagte: »Vielleicht haben Sie beide nicht einmal unrecht, meine Herren. Aber wir können nicht alle Wünsche gleichzeitig erfüllen, was ihnen klar sein dürfte. Ich glaube allerdings, daß Ihre Gedankengänge nicht wesentlich voneinander abweichen. Weshalb schließen Sie sich nicht zu einer gemeinsamen Front zusammen? Dann könnte ich Ihre Vorschläge vor dem Stadtrat mit wesentlich mehr Überzeugungskraft vertreten.«
Morgan lief rot an. »Diese Ansammlung schwitzender menschlicher Maschinen ...«, begann er.
North ballte die Fäuste. »Keine Frechheiten, sonst ziehe ich Ihnen den Scheitel gerade!«
»Beherrschen Sie sich, meine Herren«, mahnte Mandelbaum. »Sie wollen doch beide eine besser integrierte Regierung, nicht wahr? Meiner Meinung nach ...«
Hmmm. Der gleiche Gedanke blitzte in zwei Augenpaaren auf. Es war verblüffend einfach gewesen, ihn den beiden Männern zu suggerieren. Vielleicht können wir gemeinsam ... und dann kann ich ihn irgendwie beseitigen ...
Die Diskussion dauerte noch längere Zeit, endete aber schließlich damit, daß Morgan und North den Raum in schöner Eintracht verließen. Mandelbaum spürte förmlich, mit welcher Verachtung die beiden auf ihn herabsahen, weil sie ihn für einen unfähigen Trottel hielten, der sich hatte überrumpeln lassen.
Mandelbaum überlegte sich, wie traurig es doch war, daß die Menschen sich kaum geändert hatten.
Der Träumer baute nur noch wildere Luftschlösser; der Arbeiterführer war noch immer von seiner sinnlosen Geldgier besessen, ohne sie überwinden zu können. Aber das würde nicht mehr lange dauern. Schon in wenigen Monaten würde es keine Norths und keine Morgans mehr geben. Die Veränderung, die in ihnen und allen anderen Menschen vor sich gegangen war, würde sie von innen heraus zerstören. Aber in der Zwischenzeit waren sie gefährliche Raubtiere, vor denen andere Menschen geschützt werden mußten.
Mandelbaum griff nach dem Telefonhörer und wählte eine Nummer, die nur er kannte. »Hallo, Bowers? Wie geht es bei Ihnen? Hören Sie, ich habe den Ideologen und den Hafenboß zusammengebracht. Wahrscheinlich gründen sie gemeinsam eine Art Volksfront, um Sitze im Stadtrat zu bekommen, von denen aus sie ihren Staatsstreich oder ihre Palastrevolution inszenieren können ... Richtig. Verständigen Sie unsere Leute auf beiden Seiten. Ich brauche bis morgen einen vollständigen Bericht. Unsere Leute sollen die beiden Anführer unauffällig gegeneinander aufbringen ... Ja, das Bündnis ist auf keinen Fall stabil genug. Wenn wir die beiden auf die richtigen Ideen bringen, begraben sie das Kriegsbeil bestimmt – in dem anderen. Nachdem die Bürgerwehr mit den Versprengten dieses Bandenkrieges aufgeräumt hat, können wir mit unserem Werbefeldzug für gesunden Menschenverstand beginnen ... Ja, ich weiß, daß wir vorsichtig sein müssen, aber wenn wir keine Dummheiten machen, müßte alles wie geplant klappen.«
Nachdem er den Hörer aufgelegt hatte, runzelte er traurig und nachdenklich die Stirn. Er hatte eben einige Dutzend Menschen zum Tod verurteilt, die nur verwirrt oder irregeführt waren. Aber das war nicht zu vermeiden. Der Preis war nicht zu hoch, wenn es um das Leben und die Freiheit von Millionen ging.
Mandelbaum schüttelte den Kopf und warf einen Blick auf seinen Terminkalender. Der Abgesandte aus Albany, der Hauptstadt des Staates New York, war erst in einer Stunde fällig. Das würde kein leichtes Gespräch werden. Die Stadt verstieß täglich gegen unzählige Staats- und Bundesgesetze, was sich selbst bei bestem Willen nicht vermeiden ließ, und der Gouverneur kochte vor Zorn darüber. Er wollte den gesamten Staat wieder unter seine Kontrolle bringen. Dieser Wunsch war verständlich, aber die Zeit dafür war einfach noch nicht gekommen; und wenn sie endlich einmal reif war, würden die alten Regierungsformen ohnehin unbedeutend geworden sein. Trotzdem war der Mann aus Albany bestimmt nicht leicht davon zu überzeugen.
Aber inzwischen hatte Mandelbaum eine Stunde Freizeit. Er zögerte, weil er sich nicht entschließen konnte, ob er an dem neuen Rationierungssystem oder an dem Plan zur Aufrechterhaltung von Recht und Gesetz in New Jersey arbeiten sollte. Aber dann legte er beide Schriftstücke in den Schreibtisch und befaßte sich statt dessen mit einem Bericht über die Schwierigkeiten der Wasserversorgung.