Neunundzwanzig
Ich weiß nicht, wie ich meine Gefühle
beschreiben soll, als ich Spikes E-Mail las. Ich glaube, ich habe
jedes Gefühl durchlebt, das man nur durchleben kann. Entrüstung,
Ungläubigkeit, Wut, Ärger, Entsetzen, Schuld, Reue. Ich weiß, dass
ich mich mit dem festen Vorsatz, ihm kein Wort zu glauben, aufs
Bett gesetzt hatte. Meine Meinung stand fest. Er war in allen
Anklagepunkten schuldig.
Doch je länger ich las, umso mehr begannen sich
meine Vorurteile aufzulösen. Mit jeder Seite wurde die Beweislast
überwältigender. Bis kein Zweifel mehr bestand: Ich hatte ihn
verurteilt, und mein Urteil war falsch gewesen. Schrecklich,
schrecklich falsch. Die Zeitungsausschnitte brauchte ich nicht
einmal mehr anzusehen, um das zu wissen.
Trotzdem habe ich es getan. Die Überschriften
sprangen mir förmlich entgegen: VERRAT AN DER LIEBE... DER
FlÜCHTIGE BRÄUTIGAM … ER STAHL IHR HERZ UND IHR ERSPARTES …
Daneben waren Fotos eines Mannes mit braun
gefärbtem Haar und Schnurrbart zu sehen, doch es bestand kein
Zweifel, dass es Ernie war. Der nette, wehrlose Ernie. Das
unschuldige Opfer. Überlebender einer Eifersuchtsattacke von Spike,
einem Mann, der nur halb so alt war wie er.
Verdammt! Wie konnte ich mich nur so irren?
Ich sitze auf der Bettkante, atme durch,
versuche, die Nerven zu behalten. Mir schwirrt der Kopf. Ich habe
keine Ahnung, was ich tun soll. Am liebsten würde ich nach unten
laufen und Spike eine Mail schicken, in der ich mich entschuldige,
aber nach allem, was ich gesagt habe, nach all den Beschuldigungen
und meinem abscheulichen Verhalten ihm gegenüber erscheint mir das
ziemlich lahm. Eine E-Mail nach allem, was ich gesagt und getan
habe? Ganz ehrlich – ich könnte es ihm nicht verdenken, wenn er mir
an den Kopf werfen würde, ich solle mich zum Teufel scheren.
Vielleicht sollte ich das Ganze auf sich beruhen
lassen. Schließlich habe ich schon genug Schaden angerichtet. Ich
könnte es einfach vergessen. So tun, als wäre es nie
geschehen.
Aber es ist
geschehen.
Reue ergreift mich. Ich denke an Ernie, daran, wie
nett ich ihn fand und wie schnell ich bereit war, seine Geschichten
über Spike zu glauben. Warum? Weil ich sie glauben wollte. Weil sie meiner Meinung über ihn
entsprachen, weil sie meinen ersten Eindruck bestätigten. Ich
wollte Recht haben.
Und trotzdem hättest du dich nicht gründlicher
irren können, stimmt’s, Emily?
Ich spüre, wie mich Gewissensbisse und Scham
überkommen – und Angst. Es ist ein beängstigender Gedanke, dass man
seinem eigenen Urteil nicht trauen kann. Dass Stolz und Vorurteil
einen vollkommen blind für die Wahrheit machen können. Das wirft
automatisch die Frage auf, wie oft man schon vorher falsch
geurteilt und es nur nie herausgefunden hat.
Mit einem Mal kommt mir das Zimmer zu eng vor. Ich
muss hier raus und frische Luft schnappen. Es ist so viel passiert,
dass ich nicht mehr klar denken kann – Spikes Enthüllungen über
Ernie, Mrs. McKenzies Mail …
Ich ziehe meine Stiefel und den dicken Wintermantel
an und gehe nach unten. An der Rezeption kann man Fahrräder
ausleihen, und ich suche mir ein schwarzes mit einem Weidenkörbchen
am Lenker aus. Es sieht mehr nach Miss Marple als nach Lance
Armstrong aus, aber ob ich cool aussehe oder nicht, ist im
Augenblick meine geringste Sorge. Ich schwinge mich in den Sattel
und mache mich auf den Weg aus der Stadt hinaus.
Es fühlt sich gut an. Ich sauge die kalte Luft in
die Lungen und trete kräftig in die Pedale. Schon bald gehen die
Straßen in schmale Wege über, und die Häuser weichen dem freien
Feld. Ich fahre weiter. Ich achte nicht auf den Schmerz in meinem
Hinterteil und meinem Knöchel, sondern konzentriere mich auf die
gleichmäßige Bewegung der Pedale, spüre, wie der kalte Wind durch
mein Haar fährt. Mit jedem Meter spüre ich, wie ich ruhiger werde.
Ich lasse die Stadt hinter mir und fahre immer weiter den Hügel
hinauf. Fahrradfahren hat so etwas Klares, Einfaches an sich. Man
tritt, man kommt voran. Warum kann das Leben nicht immer so einfach
sein?
Nach einer Weile wird das Brennen in meinen
Oberschenkeln so heftig, dass ich absteige und mein Fahrrad an ein
altes, in eine Steinmauer eingelassenes Tor lehne. Weiter oben
befindet sich ein Wäldchen, und durch eine Lücke in den Baumwipfeln
kann ich ein Schloss erkennen.Wow, das muss das Schloss sein, zu
dem ich letzte Nacht mit Mr. Darcy geritten bin.Wie hieß es noch?
Ach ja, jetzt fällt es mir wieder ein: Sham Castle, das
Schein-Schloss – weil es in Wahrheit kein richtiges Schloss
ist.
Ich mache mich auf den Weg. Der Hügel ist ziemlich
steil, und als ich in den Wald komme, bin ich schon außer Atem. Ich
gehe langsamer. Man kommt nur schwer voran. Der Pfad ist kaum zu
sehen, und überall lauern Felsbrocken und Baumwurzeln – Gott allein
weiß, wie ich es letzte Nacht hier auf dem Pferderücken hindurch
geschafft habe, doch nach fünf Minuten gelange ich auf die andere
Seite. Das Schloss liegt rechts von mir, allerdings sieht es bei
Tageslicht vollkommen anders aus. Überhaupt nicht so, wie ich es in
Erinnerung habe. Was letzte Nacht noch beeindruckend echt gewirkt
hat, lässt jetzt auf den ersten Blick erkennen, dass es nichts als
eine Kulisse ist.
Im Sommer wimmelt es hier wahrscheinlich vor
Touristen, doch jetzt ist alles wie ausgestorben. Ich setze mich
ins Gras, lehne den Kopf gegen das Gemäuer und genieße die
Aussicht. Umgeben von sieben Hügeln, liegt Bath
unter mir. Seine georgianische Architektur, die von unten so groß
und beeindruckend wirkt, sieht von hier aus wie ein Miniaturmodell
aus dem Büro eines Stadtplaners aus.
Ich reibe meine verquollenen Augen und lege den
Kopf in den Nacken, um den grauen Himmel zu betrachten. Es sieht
nach Regen aus. Ein typischer Neujahrstag. Nur, dass er das nicht
ist, oder? Heute ist überhaupt nichts typisch. Dieses schwermütige
Gefühl kehrt wieder zurück, und ich seufze schwer. Ich kann nicht
mehr darüber nachdenken. Ich bin so müde. Die Nachwirkungen der
Party, die Gehirnerschütterung, all diese Neuigkeiten lösen das
dringende Bedürfnis in mir aus, einfach für einen Moment die Augen
zu schließen und alles andere hinter mir zu lassen.
Wenige Momente später spüre ich etwas Warmes auf
meinem Gesicht und öffne die Augen, um festzustellen, dass die
Sonne hinter einer Wolke hervortritt. Sonnenstrahlen brechen durch
die blauen Lücken hindurch, und ich muss meine Augen mit der Hand
abschirmen, um etwas erkennen zu können. Aus der Ferne sehe ich
jemanden näher kommen. Ich blinzele, versuche ihn auszumachen. Es
ist ein Mann, das erkenne ich, während er schnell näher kommt. Und
er ist zu Pferd.
Mr. Darcy.
Überglücklich sehe ich zu, wie er heraufgaloppiert
kommt. Seine Wangen sind vom Januarwind gerötet, seine Augen von
den dichten, dunklen Augenbrauen fast vollständig verdeckt.
»Ich hoffte, Sie hier zu finden«, sagt er, als er
absteigt und auf mich zukommt.
Lächelnd springe ich auf, um ihn zu begrüßen. Nach
allem, was passiert ist, sehne ich mich mit einem Mal nach einer
herzlichen Umarmung, danach, dass mich jemand an sich drückt und
mir sagt, dass alles gut werden wird.
Impulsiv werfe ich meine Arme um ihn und berge mein
Gesicht an seiner breiten Schulter. »Ich bin ja so froh, Sie zu
sehen«, stoße ich hervor, schließe die Augen und atme seinen
vertrauten Duft ein.
Seligkeit, gemischt mit Erleichterung, durchströmt
mich. Wow, seine Schultern eignen sich tatsächlich perfekt, um sich
daran auszuweinen, denke ich und spüre, wie sich die ganze
Anspannung in meinem Körper in seiner Umarmung löst.
Obwohl er – Moment mal – mich eigentlich gar nicht
umarmt. In dieser Sekunde registriere ich, wie steif er ist. In
Wirklichkeit bin ich diejenige, die ihn umarmt. Er steht einfach
nur kerzengerade da, als hätte er einen Besenstiel verschluckt,
seine Hände fest an der Hosennaht.
Verlegen löse ich mich von ihm.
»Äh … frohes neues Jahr …«, sage ich lahm.
»Ja. In der Tat.« Mr. Darcy hüstelt peinlich
berührt und starrt zu Boden. Zum ersten Mal beginne ich zu ahnen,
wie es wäre, mit jemandem zusammen zu sein, der ständig vor sich
hinbrütet und all diese unterdrückten Leidenschaften in sich trägt.
Ich meine, im Buch hört sich das ja alles sehr attraktiv und sexy
an, aber im wahren Leben will ich doch jemanden haben, der mich
fest in seine Arme schließen kann.
»Ich habe nach Ihnen gesucht«, erklärt er und
verschränkt die Hände hinter seinem Rücken – eine Geste, bei der
man kein Experte in Körpersprache sein muss, um zu verstehen, dass
er sich angesichts meines öffentlichen Gefühlsausbruchs höchst
unwohl fühlt.
Andererseits kann er ja nichts dafür, oder? Er tut
mir fast ein bisschen leid.Vermutlich liefen die Ladys in seiner
Zeit nicht durch die Gegend und warfen sich Männern in die Arme, in
der Erwartung, fest gedrückt zu werden. Stattdessen bestickten sie
artig ihre Tüchlein oder so.
Er schluckt, sieht auf und blickt mir in die Augen.
»Ich habe mir große Sorgen um Sie gemacht, Emily. Gestern Nacht bin
ich zu den Ställen zurückgeritten, in der Hoffnung, dass Sie
wohlbehalten zurückgekommen sind. Als ich Lightning fand, aber
keine Spur von Ihnen, bin ich zu Ihrem Hotel geritten. Doch da auch
kein Licht mehr in Ihrem Fenster brannte und es inzwischen auch
schon recht spät war -«, er holt tief Luft und sammelt sich. »Es
erleichtert mich ungeheuer, Sie bei guter Gesundheit zu
finden.«
Oh Gott. Bei allem, was seitdem passiert ist, habe
ich vollkommen vergessen, dass er das letzte Mal, als ich ihn
gesehen habe, von seinem Pferd abgeworfen worden war. Und ich habe
nicht einmal gefragt, wie es ihm geht. Ja, schlimmer noch, bis zu
diesem Augenblick habe ich nicht einmal darüber nachgedacht.
»Danke sehr.« Ich lächle dankbar. »Aber was ist mit
Ihnen? Ich habe gesehen, wie Sie vom Pferd gefallen sind -«
»Abgeworfen«, fährt er mich aufgebracht an.
»Oh ja, richtig, abgeworfen«, wiederhole ich leicht
pikiert über seine brüske Zurechtweisung.
»Glücklicherweise bin ich ein recht geübter Reiter
und konnte daher eine Verletzung vermeiden.«
»Was für ein Glück!«
»Oh, das hatte nichts mit Glück zu tun«, erklärt er
überheblich.
Merk dir das, Emily.
Eine Zeile aus Stolz und
Vorurteil über Mr. Darcy kommt mir plötzlich in den Sinn:
»Dass ein so vornehmer junger Mann von Familie
und Vermögen und mit vielen anderen Vorzügen eine gute Meinung von
sich selbst hat, wundert mich gar nicht. Ich finde, es ist sein
gutes Recht, stolz zu sein.«
Das finde ich aber nicht,
denke ich verärgert.
»Und haben Sie bereits zu Mittag gegessen?«,
erkundigt er sich.
Sein Ton ist wieder höflicher, trotzdem bin ich in
Versuchung, bockig zu sein und die Frage zu bejahen, weil ich über
seine Überheblichkeit noch immer ein wenig ärgerlich bin. Arroganz
ist eine der Eigenschaften, die mich am meisten auf die Palme
bringen. Andererseits habe ich heute außer der Tasse Kaffee beim
Frühstück noch nichts in den Magen bekommen.Wie auf ein Stichwort
gibt er ein leises, vorwurfsvolles Grummeln von sich.
»Nein, noch nicht«, murmle ich.
»Exzellent. Ich habe uns eine Kleinigkeit
mitgebracht.« Er nickt und geht mit weit ausholenden Schritten zu
seinem Pferd hinüber.
Bestürzung erfasst mich. Oh nein, nicht schon
wieder. Ich glaube nicht, dass mein Hintern einen weiteren Ausritt
durchsteht. Diesmal werde ich es gleich sagen und mich
weigern.
»Kein Grund, so besorgt dreinzuschauen«, fügt er
beim Anblick meiner Miene hinzu, »es ist nicht wie die letzte
Überraschung.«
Er hebt einen kleinen Weidenpicknickkorb herunter
und zieht eine dicke Wolldecke aus einer seiner Satteltaschen. Er
faltet sie auseinander und legt sie auf den Boden, sorgsam darauf
bedacht, dass kein Fältchen darauf zu sehen ist. Dann löst er die
Lederriemen um den Picknickkorb und beginnt, verschiedene Dinge
auszupacken. »Wir haben etwas Brot,Weintrauben, Käse,
Gänseleberpastete und eine Flasche Bordeaux, um das alles
herunterzuspülen …«
»Oh, wow.« Ich bin ziemlich beeindruckt.
»… hier sind auch Besteck und Teller...«, fährt er
fort.
Vergessen Sie Plastikgeschirr. Er hat echte
Silbermesser und -gabeln und weißes Porzellan mitgebracht.
»… und noch eine Kleinigkeit für Sie, damit Sie
nicht frieren«, ergänzt er und rollt einen großen Pelz aus.
»Wie nett von Ihnen«, erkläre ich lächelnd, während
mich eine Woge der Zuneigung erfasst. Er kann manchmal ein bisschen
arrogant sein? Na und? Er ist ebenso aufmerksam und rücksichtsvoll,
sage ich mir, während er sich neben mich ins Gras setzt und den
Pelz über meine Beine breitet.
Sorgfältig beginnt er, die Teller zu arrangieren,
zieht ein schmales Silbermesser mit Perlmuttgriff hervor und
schneidet mit chirurgischer Präzision kleine Käsestückchen und
dünne Brotscheiben ab. Dann öffnet er das Glas mit der Pastete,
schüttelt eine gestärkte weiße Serviette auseinander und wischt
sorgfältig den Rand ab, um auch noch den letzten unsichtbaren
Klecks Pastete zu entfernen. Dann kommen die Trauben an die Reihe.
Jede einzelne wird begutachtet, bevor er jeweils genau drei Beeren
abpflückt und sie künstlerisch vollendet auf dem Teller
dekoriert.
Fasziniert beobachte ich ihn. Meine Güte, denke
ich, als er mir meinen Teller reicht, alles so sauber und
ordentlich.
»Vielen Dank.« Lächelnd schiebe ich mir eine Traube
in den Mund. Mmhm, lecker. Ich breche ein Stück Käse und Brot ab,
ehe ich einen Blick zu Mr. Darcy hinüberwerfe, der mit Messer und
Gabel eine Beere in exakt zwei Hälften teilt und ein kleines
Stückchen Käse abschneidet, ehe er beides mit der Gabel aufspießt
und es sich vorsichtig in den Mund schiebt.
Seine Manieren sind tadellos. Peinlich berührt
stopfe ich mir schnell den Rest des Käses und des Brotes in den
Mund, bevor er es merkt, wobei die Krümel auf meinen Mantel
rieseln. Oh Gott, ich bin ein solches Schwein! Als ich die Krümel
abklopfe, bemerke ich, dass er mich fragend mustert.
»Chaotischer Esser!«, erkläre ich mit einem
dümmlichen Lachen.
Ich warte darauf, dass er einstimmt, doch
stattdessen sagt er nur: »Das sehe ich«, und isst weiter.
Leichtes Unbehagen beschleicht mich, aber ich
schiebe es beiseite und greife nach Messer und Gabel. Ich will es
ihm nachtun und spieße eine Traube mit meiner Gabel auf, doch als
die Zinken die Haut durchstechen, spritzen prompt Saft und Kerne
nach allen Seiten. Und landen auf Mr. Darcys weißem Hemd. Na ja,
das musste ja so kommen, oder?
»Oh, Scheiße«, stöhne ich entsetzt.
Er runzelt die Stirn, legt sein Messer beiseite und
beginnt, den gestärkten weißen Baumwollstoff mit seiner Serviette
abzutupfen.
»Meine Güte, das tut mir ja so leid«, entschuldige
ich mich weiter.
»Alles in bester Ordnung, kein Grund zur
Besorgnis«, sagt er, immer noch tupfend.
»Ich bin sicher, die Flecken lassen sich
auswaschen«, versuche ich ihn zu beruhigen.
»In der Tat«, nickt er, gießt etwas Wasser auf die
Serviette und wendet sich wieder dem Fleck zu.
Den man sowieso kaum noch sehen
kann, denke ich, als ich ihn weiter herumfummeln sehe.
Mittlerweile regt sich wieder ein Anflug vonVerärgerung in mir.
Jetzt übertreibt er aber ein wenig, oder nicht? Ich meine, es ist
doch bloß ein Spritzer Traubensaft.
»Wenn Sie nach Hause kommen, geben Sie einfach ein
bisschen Salz darauf und weichen es im Waschbecken ein …«
»Vielen Dank, ich werde es einem der Bediensteten
vorschlagen.«
»Bedienstete?«, quieke ich.
Meine Güte, ich hatte ja völlig vergessen, wie piekfein der Mann
ist.Wer um alles in der Welt hat außer der Queen noch
Bedienstete?
»Natürlich«, antwortet er. »Gewiss haben doch auch
Sie Bedienstete zu Hause in Amerika?«
Die Vorstellung ist so komisch, dass ich ein Lachen
unterdrücken muss. Ich versuche, mir ein Leben mit einem Butler und
einem knicksenden Hausmädchen in meinem kleinen New Yorker
Apartment vorzustellen. Es gelingt mir nicht. Es wäre nie im Leben
genug Platz.
»Eigentlich nicht. Man bekommt heutzutage einfach
kein Personal mehr für so etwas«, witzele ich grinsend.
Nicht einmal der Anflug eines Lächelns. Allerdings
ist er auch beschäftigt damit, mir ein Glas Wein einzuschenken, und
hat mich wahrscheinlich nicht gehört, denke ich, während ich
beobachte, wie gewandt er die Flasche dreht, damit kein Tropfen
daneben geht. Genau so, wie ich es aus dem Restaurant kenne.
Die nächsten Minuten bringe ich damit zu, eine
weitere Traube um meinen Teller zu jagen, ehe ich aufgebe und
genervt mein Besteck beiseitelege. Ich meine, wir sind hier
schließlich bei einem Picknick und nicht in einem superschicken
Gourmettempel, oder? Ich breche ein Stück vom Brot ab und benutze
es, um die Pastete aus dem Glas zu schaufeln. »Oh, das ist ja
köstlich«, erkläre ich begeistert. »Haben Sie das selbst
gemacht?«
»Nein, mein Koch.«
Ach ja, klar. Wieder die Bediensteten. Die hatte
ich schon wieder vergessen.
»Ich muss mir das Rezept besorgen«, sage ich, als
Versuch, die Stimmung etwas aufzulockern. »Und es mit nach Amerika
nehmen.«
»Wann reisen Sie ab?«
»In ein paar Tagen. Morgen fahren wir nach Norden,
um Lyme Park kennen zu lernen, und am Mittwochabend geht es nach
New York zurück.«
»Können Sie Ihren Aufenthalt denn nicht
verlängern?«
»Das würde ich gern -«, sage ich, als mir Mrs.
McKenzies Mail wieder einfällt. »Aber, nein, ich kann nicht.« Mit
einem Mal beschleicht mich die vertraute Besorgnis wieder. Ich
nehme einen großen Schluck Wein und starre in mein Glas.
»Was ist denn, Emily? Sie sehen besorgt aus.«
Mr. Darcys Ton ist freundlich, aber ich antworte
nicht. Stattdessen blicke ich in die burgunderrote Flüssigkeit und
frage mich, wo um alles in der Welt ich anfangen soll. Spike,
Ernie, Mr. McKenzie …
»Es sieht ganz so aus, als würde ich meinen Job in
der Buchhandlung verlieren«, höre ich mich nach einer Weile
heraussprudeln. »Mein Boss, Mr. McKenzie, verkauft vielleicht das
Geschäft. Es geht ihm nicht gut, das verstehe ich, aber -« Ich
seufze verzagt. »Ich weiß nicht, was ich machen soll.«
Es fühlt sich gut an, es endlich einmal laut
ausgesprochen zu haben.
»Sie sind in Diensten?«
Ich blicke auf und sehe, dass Mr. Darcy mich mit
höchster Verwunderung anschaut. Diese Tatsache scheint ihn sogar
noch viel mehr zu verwundern als alles andere, was in den letzten
paar Tagen passiert ist.
»Ja. In einer der besten Buchhandlungen New Yorks.
McKenzie’s«, erwidere ich voller Stolz. Ich kann nicht anders. Das
passiert mir jedes Mal.
»Sie arbeiten in einer Buchhandlung?«, wiederholt
er ungläubig.
Ich bin nicht sicher, was ich erwartet habe, aber
es war eher etwas in Richtung Mitgefühl und Verständnis.
»Na ja, im Augenblick jedenfalls.«
»Aber Sie erhalten doch gewiss eine Apanage von
Ihrer Familie. Einen Treuhandfonds, vielleicht?«
»Ich fürchte, nein«, antworte ich und muss beim
Gedanken an meine Eltern grinsen. Ein
Treuhandfonds? Ich bekomme ja nicht einmal eine Postkarte zu
Weihnachten.
»Und selbst wenn es so wäre, würde ich doch immer
noch arbeiten gehen wollen. Ich liebe meine Arbeit.«
Mr. Darcy fährt sich mit den Fingern durchs Haar
und mustert mich. Es scheint ihm große Mühe zu bereiten, meine
Worte zu verdauen.
»Ich muss gestehen, Emily, ich bin schockiert«,
erklärt er nach einer Weile.
Die Missbilligung in seiner Stimme ist
unüberhörbar, und ich spüre, wie mein Lächeln erstarrt.
»Eine wohlerzogene Dame wie Sie sollte nicht
arbeiten.«
Ich versteife mich. »Aber was ist denn mit Ihren
Bediensteten? Sind unter ihnen keine Frauen?«, kontere ich,
versuche jedoch, ruhig zu bleiben.
»Nun ja, selbstverständlich. Aber eine Stellung in
einem Haushalt anzunehmen, ist für die unteren Klassen doch ebenso
akzeptabel wie notwendig.«
Jetzt bin ich diejenige, die ihn verwundert
anblickt. »Bedienstete«, war schon schlimm genug, aber hat er eben
»die unteren Klassen« gesagt? Ich starre
ihn ungläubig an, kann nicht glauben, was ich da höre. Ich wusste,
dass er ein feiner Pinkel ist, aber ich hatte ja keine Ahnung, dass
er ein solcher Snob sein könnte.
»Eine Frau gehört ins Haus. Als Ehefrau und als
Mutter.«
Ja. Das hat er wirklich gesagt!
»Aber das ist doch absolut sexistisch!«, rufe
ich.
Er schaut mich bestürzt an, als hätte er das Wort
noch nie gehört.
Wahrscheinlich hat er das auch noch nie, wird mir
plötzlich klar.Wahrscheinlich weiß er noch nicht einmal, was es
bedeutet. Wenn das so ist, kann ich wohl kaum wütend auf ihn sein,
oder? Ich meine, es ist nicht seine Schuld, dass er von all dem
keine Ahnung hat. Daraus kann ich ihm beim besten Willen keinen
Vorwurf machen.
»Sie wollen doch gewiss nicht behaupten, dass
Frauen ihren Lebensunterhalt ebenso verdienen sollten wie Männer?«,
fragt er übertrieben betont.
Ich nehme alles zurück. Ich kann.
»Natürlich!«, herrsche ich ihn aufgebracht an.
»Warum sollten Frauen nicht genauso arbeiten wie Männer? Meine
Karriere ist mir sehr wichtig.«
»Offensichtlich ist das in Amerika so«, erklärt er
ernst. »Aber wir hier sehen die Dinge etwas anders. Und, wie ich
sagen muss, schicklicher.«
»Schwachsinn!«
Schlagartig wird er kreidebleich und ringt
sichtlich um Fassung. Mit einem Mal sehe ich Spike wieder vor mir,
wie er die Beherrschung verloren hat. Unwillkürlich wünscht sich
ein Teil von mir, Mr. Darcy würde dasselbe tun. Aber natürlich
würde er es niemals dazu kommen lassen. Er ist stets so verdammt
beherrscht. Früher fand ich so etwas sexy, aber jetzt empfinde ich
es nur noch als frustrierend.
Ärger flackert in seinen Augen auf, und als ich in
ihre dunkle Tiefe blicke, muss ich mit einem Mal an all die Monate
und Jahre denken, in denen ich davon geträumt habe, Mr. Darcy zu
begegnen.Wie ich mir gewünscht habe, dass jeder Mann so sein möge
wie er.
Und jetzt sitzen wir hier. Zusammen. Und streiten.
»Ich wollte nicht so bissig sein«, fange ich an.
Erst Spike und jetzt Mr. Darcy. Was ist eigentlich los mit mir? »Es
ist nur -« Ich unterbreche mich.
›Nur was, Emily?‹ Schon wieder diese Stimme. Nur
dass sie dieses Mal hartnäckiger ist. Dass er sich wie ein
selbstsüchtiger, sexistischer Idiot verhält? Ein hochnäsiger Snob?
Ein totaler Langweiler?
»Ich sollte allmählich zurückgehen«, ende ich leise
und versuche, die Stimme in meinem Innern zum Schweigen zu
bringen.
»Ich verstehe.« Er nickt düster. »Ich habe auch
noch Angelegenheiten, denen ich mich widmen muss.« Er seufzt tief,
als brodle es mächtig unter der Oberfläche, und dann wendet er den
Blick von mir ab und blickt ins Tal hinunter. »Ich habe ganz
vergessen, wie schön der Blick auf die Stadt von hier oben ist«,
sagt er nach einer Weile leise.
Ich folge seinem Blick. Er hat Recht. Es ist
fantastisch. »Ja, es ist überwältigend«, murmele ich
zustimmend.
Einen Moment lang sitzen wir da und bewundern den
majestätischen Anblick, der sich uns bietet – die sanften Hügel vor
dem Hintergrund des unendlichen Horizonts. Es ist friedlich.
Niemand ist in der Nähe. Nur wir zwei.
Aus dem Augenwinkel bemerke ich, wie Mr. Darcy sich
mir mit gefurchter Stirn zuwendet. »Vielleicht können wir noch
einen Moment länger hier sitzen bleiben?«
Ich starre weiter auf den Horizont. Er ist so weit,
dass alles wieder in die richtige Perspektive gerückt wird. Ist es
wirklich wichtig, ob ich Mr. Darcys Ansichten teile? Ich meine,
natürlich hat er in bestimmten Punkten eine andere Meinung als ich,
das ist doch nur verständlich. Wir kommen aus zwei vollkommen
unterschiedlichen Welten. Stimmt’s?
»Ich denke, ich kann noch ein paar Minuten
erübrigen«, sage ich schließlich und sehe ihm dabei in die
Augen.
»Hervorragend.«
Er greift nach meiner Hand, doch obwohl er seine
Finger mit meinen verschränkt, bin ich immer noch irritiert wegen
unseres Streits. Unsere Meinungen sind so verschieden. Zu
verschieden. Ich weiß nicht, ob ich mich jemals mit Mr. Darcys
Meinungen aussöhnen könnte. Und, was noch viel wichtiger ist, ob
ich es überhaupt will.
Betrübt lege ich meinen Kopf an seine Schulter und
bringe die nagenden Zweifel zum Schweigen.
Zumindest für den Augenblick.