Neunundzwanzig
Ich weiß nicht, wie ich meine Gefühle beschreiben soll, als ich Spikes E-Mail las. Ich glaube, ich habe jedes Gefühl durchlebt, das man nur durchleben kann. Entrüstung, Ungläubigkeit, Wut, Ärger, Entsetzen, Schuld, Reue. Ich weiß, dass ich mich mit dem festen Vorsatz, ihm kein Wort zu glauben, aufs Bett gesetzt hatte. Meine Meinung stand fest. Er war in allen Anklagepunkten schuldig.
Doch je länger ich las, umso mehr begannen sich meine Vorurteile aufzulösen. Mit jeder Seite wurde die Beweislast überwältigender. Bis kein Zweifel mehr bestand: Ich hatte ihn verurteilt, und mein Urteil war falsch gewesen. Schrecklich, schrecklich falsch. Die Zeitungsausschnitte brauchte ich nicht einmal mehr anzusehen, um das zu wissen.
Trotzdem habe ich es getan. Die Überschriften sprangen mir förmlich entgegen: VERRAT AN DER LIEBE... DER FlÜCHTIGE BRÄUTIGAM … ER STAHL IHR HERZ UND IHR ERSPARTES …
Daneben waren Fotos eines Mannes mit braun gefärbtem Haar und Schnurrbart zu sehen, doch es bestand kein Zweifel, dass es Ernie war. Der nette, wehrlose Ernie. Das unschuldige Opfer. Überlebender einer Eifersuchtsattacke von Spike, einem Mann, der nur halb so alt war wie er.
Verdammt! Wie konnte ich mich nur so irren?
 
Ich sitze auf der Bettkante, atme durch, versuche, die Nerven zu behalten. Mir schwirrt der Kopf. Ich habe keine Ahnung, was ich tun soll. Am liebsten würde ich nach unten laufen und Spike eine Mail schicken, in der ich mich entschuldige, aber nach allem, was ich gesagt habe, nach all den Beschuldigungen und meinem abscheulichen Verhalten ihm gegenüber erscheint mir das ziemlich lahm. Eine E-Mail nach allem, was ich gesagt und getan habe? Ganz ehrlich – ich könnte es ihm nicht verdenken, wenn er mir an den Kopf werfen würde, ich solle mich zum Teufel scheren.
Vielleicht sollte ich das Ganze auf sich beruhen lassen. Schließlich habe ich schon genug Schaden angerichtet. Ich könnte es einfach vergessen. So tun, als wäre es nie geschehen.
Aber es ist geschehen.
Reue ergreift mich. Ich denke an Ernie, daran, wie nett ich ihn fand und wie schnell ich bereit war, seine Geschichten über Spike zu glauben. Warum? Weil ich sie glauben wollte. Weil sie meiner Meinung über ihn entsprachen, weil sie meinen ersten Eindruck bestätigten. Ich wollte Recht haben.
Und trotzdem hättest du dich nicht gründlicher irren können, stimmt’s, Emily?
Ich spüre, wie mich Gewissensbisse und Scham überkommen – und Angst. Es ist ein beängstigender Gedanke, dass man seinem eigenen Urteil nicht trauen kann. Dass Stolz und Vorurteil einen vollkommen blind für die Wahrheit machen können. Das wirft automatisch die Frage auf, wie oft man schon vorher falsch geurteilt und es nur nie herausgefunden hat.
Mit einem Mal kommt mir das Zimmer zu eng vor. Ich muss hier raus und frische Luft schnappen. Es ist so viel passiert, dass ich nicht mehr klar denken kann – Spikes Enthüllungen über Ernie, Mrs. McKenzies Mail …
Ich ziehe meine Stiefel und den dicken Wintermantel an und gehe nach unten. An der Rezeption kann man Fahrräder ausleihen, und ich suche mir ein schwarzes mit einem Weidenkörbchen am Lenker aus. Es sieht mehr nach Miss Marple als nach Lance Armstrong aus, aber ob ich cool aussehe oder nicht, ist im Augenblick meine geringste Sorge. Ich schwinge mich in den Sattel und mache mich auf den Weg aus der Stadt hinaus.
Es fühlt sich gut an. Ich sauge die kalte Luft in die Lungen und trete kräftig in die Pedale. Schon bald gehen die Straßen in schmale Wege über, und die Häuser weichen dem freien Feld. Ich fahre weiter. Ich achte nicht auf den Schmerz in meinem Hinterteil und meinem Knöchel, sondern konzentriere mich auf die gleichmäßige Bewegung der Pedale, spüre, wie der kalte Wind durch mein Haar fährt. Mit jedem Meter spüre ich, wie ich ruhiger werde. Ich lasse die Stadt hinter mir und fahre immer weiter den Hügel hinauf. Fahrradfahren hat so etwas Klares, Einfaches an sich. Man tritt, man kommt voran. Warum kann das Leben nicht immer so einfach sein?
Nach einer Weile wird das Brennen in meinen Oberschenkeln so heftig, dass ich absteige und mein Fahrrad an ein altes, in eine Steinmauer eingelassenes Tor lehne. Weiter oben befindet sich ein Wäldchen, und durch eine Lücke in den Baumwipfeln kann ich ein Schloss erkennen.Wow, das muss das Schloss sein, zu dem ich letzte Nacht mit Mr. Darcy geritten bin.Wie hieß es noch? Ach ja, jetzt fällt es mir wieder ein: Sham Castle, das Schein-Schloss – weil es in Wahrheit kein richtiges Schloss ist.
Ich mache mich auf den Weg. Der Hügel ist ziemlich steil, und als ich in den Wald komme, bin ich schon außer Atem. Ich gehe langsamer. Man kommt nur schwer voran. Der Pfad ist kaum zu sehen, und überall lauern Felsbrocken und Baumwurzeln – Gott allein weiß, wie ich es letzte Nacht hier auf dem Pferderücken hindurch geschafft habe, doch nach fünf Minuten gelange ich auf die andere Seite. Das Schloss liegt rechts von mir, allerdings sieht es bei Tageslicht vollkommen anders aus. Überhaupt nicht so, wie ich es in Erinnerung habe. Was letzte Nacht noch beeindruckend echt gewirkt hat, lässt jetzt auf den ersten Blick erkennen, dass es nichts als eine Kulisse ist.
Im Sommer wimmelt es hier wahrscheinlich vor Touristen, doch jetzt ist alles wie ausgestorben. Ich setze mich ins Gras, lehne den Kopf gegen das Gemäuer und genieße die
Aussicht. Umgeben von sieben Hügeln, liegt Bath unter mir. Seine georgianische Architektur, die von unten so groß und beeindruckend wirkt, sieht von hier aus wie ein Miniaturmodell aus dem Büro eines Stadtplaners aus.
Ich reibe meine verquollenen Augen und lege den Kopf in den Nacken, um den grauen Himmel zu betrachten. Es sieht nach Regen aus. Ein typischer Neujahrstag. Nur, dass er das nicht ist, oder? Heute ist überhaupt nichts typisch. Dieses schwermütige Gefühl kehrt wieder zurück, und ich seufze schwer. Ich kann nicht mehr darüber nachdenken. Ich bin so müde. Die Nachwirkungen der Party, die Gehirnerschütterung, all diese Neuigkeiten lösen das dringende Bedürfnis in mir aus, einfach für einen Moment die Augen zu schließen und alles andere hinter mir zu lassen.
 
Wenige Momente später spüre ich etwas Warmes auf meinem Gesicht und öffne die Augen, um festzustellen, dass die Sonne hinter einer Wolke hervortritt. Sonnenstrahlen brechen durch die blauen Lücken hindurch, und ich muss meine Augen mit der Hand abschirmen, um etwas erkennen zu können. Aus der Ferne sehe ich jemanden näher kommen. Ich blinzele, versuche ihn auszumachen. Es ist ein Mann, das erkenne ich, während er schnell näher kommt. Und er ist zu Pferd.
Mr. Darcy.
Überglücklich sehe ich zu, wie er heraufgaloppiert kommt. Seine Wangen sind vom Januarwind gerötet, seine Augen von den dichten, dunklen Augenbrauen fast vollständig verdeckt.
»Ich hoffte, Sie hier zu finden«, sagt er, als er absteigt und auf mich zukommt.
Lächelnd springe ich auf, um ihn zu begrüßen. Nach allem, was passiert ist, sehne ich mich mit einem Mal nach einer herzlichen Umarmung, danach, dass mich jemand an sich drückt und mir sagt, dass alles gut werden wird.
Impulsiv werfe ich meine Arme um ihn und berge mein Gesicht an seiner breiten Schulter. »Ich bin ja so froh, Sie zu sehen«, stoße ich hervor, schließe die Augen und atme seinen vertrauten Duft ein.
Seligkeit, gemischt mit Erleichterung, durchströmt mich. Wow, seine Schultern eignen sich tatsächlich perfekt, um sich daran auszuweinen, denke ich und spüre, wie sich die ganze Anspannung in meinem Körper in seiner Umarmung löst.
Obwohl er – Moment mal – mich eigentlich gar nicht umarmt. In dieser Sekunde registriere ich, wie steif er ist. In Wirklichkeit bin ich diejenige, die ihn umarmt. Er steht einfach nur kerzengerade da, als hätte er einen Besenstiel verschluckt, seine Hände fest an der Hosennaht.
Verlegen löse ich mich von ihm.
»Äh … frohes neues Jahr …«, sage ich lahm.
»Ja. In der Tat.« Mr. Darcy hüstelt peinlich berührt und starrt zu Boden. Zum ersten Mal beginne ich zu ahnen, wie es wäre, mit jemandem zusammen zu sein, der ständig vor sich hinbrütet und all diese unterdrückten Leidenschaften in sich trägt. Ich meine, im Buch hört sich das ja alles sehr attraktiv und sexy an, aber im wahren Leben will ich doch jemanden haben, der mich fest in seine Arme schließen kann.
»Ich habe nach Ihnen gesucht«, erklärt er und verschränkt die Hände hinter seinem Rücken – eine Geste, bei der man kein Experte in Körpersprache sein muss, um zu verstehen, dass er sich angesichts meines öffentlichen Gefühlsausbruchs höchst unwohl fühlt.
Andererseits kann er ja nichts dafür, oder? Er tut mir fast ein bisschen leid.Vermutlich liefen die Ladys in seiner Zeit nicht durch die Gegend und warfen sich Männern in die Arme, in der Erwartung, fest gedrückt zu werden. Stattdessen bestickten sie artig ihre Tüchlein oder so.
Er schluckt, sieht auf und blickt mir in die Augen. »Ich habe mir große Sorgen um Sie gemacht, Emily. Gestern Nacht bin ich zu den Ställen zurückgeritten, in der Hoffnung, dass Sie wohlbehalten zurückgekommen sind. Als ich Lightning fand, aber keine Spur von Ihnen, bin ich zu Ihrem Hotel geritten. Doch da auch kein Licht mehr in Ihrem Fenster brannte und es inzwischen auch schon recht spät war -«, er holt tief Luft und sammelt sich. »Es erleichtert mich ungeheuer, Sie bei guter Gesundheit zu finden.«
Oh Gott. Bei allem, was seitdem passiert ist, habe ich vollkommen vergessen, dass er das letzte Mal, als ich ihn gesehen habe, von seinem Pferd abgeworfen worden war. Und ich habe nicht einmal gefragt, wie es ihm geht. Ja, schlimmer noch, bis zu diesem Augenblick habe ich nicht einmal darüber nachgedacht.
»Danke sehr.« Ich lächle dankbar. »Aber was ist mit Ihnen? Ich habe gesehen, wie Sie vom Pferd gefallen sind -«
»Abgeworfen«, fährt er mich aufgebracht an.
»Oh ja, richtig, abgeworfen«, wiederhole ich leicht pikiert über seine brüske Zurechtweisung.
»Glücklicherweise bin ich ein recht geübter Reiter und konnte daher eine Verletzung vermeiden.«
»Was für ein Glück!«
»Oh, das hatte nichts mit Glück zu tun«, erklärt er überheblich.
Merk dir das, Emily.
Eine Zeile aus Stolz und Vorurteil über Mr. Darcy kommt mir plötzlich in den Sinn: »Dass ein so vornehmer junger Mann von Familie und Vermögen und mit vielen anderen Vorzügen eine gute Meinung von sich selbst hat, wundert mich gar nicht. Ich finde, es ist sein gutes Recht, stolz zu sein.«
Das finde ich aber nicht, denke ich verärgert.
»Und haben Sie bereits zu Mittag gegessen?«, erkundigt er sich.
Sein Ton ist wieder höflicher, trotzdem bin ich in Versuchung, bockig zu sein und die Frage zu bejahen, weil ich über seine Überheblichkeit noch immer ein wenig ärgerlich bin. Arroganz ist eine der Eigenschaften, die mich am meisten auf die Palme bringen. Andererseits habe ich heute außer der Tasse Kaffee beim Frühstück noch nichts in den Magen bekommen.Wie auf ein Stichwort gibt er ein leises, vorwurfsvolles Grummeln von sich.
»Nein, noch nicht«, murmle ich.
»Exzellent. Ich habe uns eine Kleinigkeit mitgebracht.« Er nickt und geht mit weit ausholenden Schritten zu seinem Pferd hinüber.
Bestürzung erfasst mich. Oh nein, nicht schon wieder. Ich glaube nicht, dass mein Hintern einen weiteren Ausritt durchsteht. Diesmal werde ich es gleich sagen und mich weigern.
»Kein Grund, so besorgt dreinzuschauen«, fügt er beim Anblick meiner Miene hinzu, »es ist nicht wie die letzte Überraschung.«
Er hebt einen kleinen Weidenpicknickkorb herunter und zieht eine dicke Wolldecke aus einer seiner Satteltaschen. Er faltet sie auseinander und legt sie auf den Boden, sorgsam darauf bedacht, dass kein Fältchen darauf zu sehen ist. Dann löst er die Lederriemen um den Picknickkorb und beginnt, verschiedene Dinge auszupacken. »Wir haben etwas Brot,Weintrauben, Käse, Gänseleberpastete und eine Flasche Bordeaux, um das alles herunterzuspülen …«
»Oh, wow.« Ich bin ziemlich beeindruckt.
»… hier sind auch Besteck und Teller...«, fährt er fort.
Vergessen Sie Plastikgeschirr. Er hat echte Silbermesser und -gabeln und weißes Porzellan mitgebracht.
»… und noch eine Kleinigkeit für Sie, damit Sie nicht frieren«, ergänzt er und rollt einen großen Pelz aus.
»Wie nett von Ihnen«, erkläre ich lächelnd, während mich eine Woge der Zuneigung erfasst. Er kann manchmal ein bisschen arrogant sein? Na und? Er ist ebenso aufmerksam und rücksichtsvoll, sage ich mir, während er sich neben mich ins Gras setzt und den Pelz über meine Beine breitet.
Sorgfältig beginnt er, die Teller zu arrangieren, zieht ein schmales Silbermesser mit Perlmuttgriff hervor und schneidet mit chirurgischer Präzision kleine Käsestückchen und dünne Brotscheiben ab. Dann öffnet er das Glas mit der Pastete, schüttelt eine gestärkte weiße Serviette auseinander und wischt sorgfältig den Rand ab, um auch noch den letzten unsichtbaren Klecks Pastete zu entfernen. Dann kommen die Trauben an die Reihe. Jede einzelne wird begutachtet, bevor er jeweils genau drei Beeren abpflückt und sie künstlerisch vollendet auf dem Teller dekoriert.
Fasziniert beobachte ich ihn. Meine Güte, denke ich, als er mir meinen Teller reicht, alles so sauber und ordentlich.
»Vielen Dank.« Lächelnd schiebe ich mir eine Traube in den Mund. Mmhm, lecker. Ich breche ein Stück Käse und Brot ab, ehe ich einen Blick zu Mr. Darcy hinüberwerfe, der mit Messer und Gabel eine Beere in exakt zwei Hälften teilt und ein kleines Stückchen Käse abschneidet, ehe er beides mit der Gabel aufspießt und es sich vorsichtig in den Mund schiebt.
Seine Manieren sind tadellos. Peinlich berührt stopfe ich mir schnell den Rest des Käses und des Brotes in den Mund, bevor er es merkt, wobei die Krümel auf meinen Mantel rieseln. Oh Gott, ich bin ein solches Schwein! Als ich die Krümel abklopfe, bemerke ich, dass er mich fragend mustert.
»Chaotischer Esser!«, erkläre ich mit einem dümmlichen Lachen.
Ich warte darauf, dass er einstimmt, doch stattdessen sagt er nur: »Das sehe ich«, und isst weiter.
Leichtes Unbehagen beschleicht mich, aber ich schiebe es beiseite und greife nach Messer und Gabel. Ich will es ihm nachtun und spieße eine Traube mit meiner Gabel auf, doch als die Zinken die Haut durchstechen, spritzen prompt Saft und Kerne nach allen Seiten. Und landen auf Mr. Darcys weißem Hemd. Na ja, das musste ja so kommen, oder?
»Oh, Scheiße«, stöhne ich entsetzt.
Er runzelt die Stirn, legt sein Messer beiseite und beginnt, den gestärkten weißen Baumwollstoff mit seiner Serviette abzutupfen.
»Meine Güte, das tut mir ja so leid«, entschuldige ich mich weiter.
»Alles in bester Ordnung, kein Grund zur Besorgnis«, sagt er, immer noch tupfend.
»Ich bin sicher, die Flecken lassen sich auswaschen«, versuche ich ihn zu beruhigen.
»In der Tat«, nickt er, gießt etwas Wasser auf die Serviette und wendet sich wieder dem Fleck zu.
Den man sowieso kaum noch sehen kann, denke ich, als ich ihn weiter herumfummeln sehe. Mittlerweile regt sich wieder ein Anflug vonVerärgerung in mir. Jetzt übertreibt er aber ein wenig, oder nicht? Ich meine, es ist doch bloß ein Spritzer Traubensaft.
»Wenn Sie nach Hause kommen, geben Sie einfach ein bisschen Salz darauf und weichen es im Waschbecken ein …«
»Vielen Dank, ich werde es einem der Bediensteten vorschlagen.«
»Bedienstete?«, quieke ich. Meine Güte, ich hatte ja völlig vergessen, wie piekfein der Mann ist.Wer um alles in der Welt hat außer der Queen noch Bedienstete?
»Natürlich«, antwortet er. »Gewiss haben doch auch Sie Bedienstete zu Hause in Amerika?«
Die Vorstellung ist so komisch, dass ich ein Lachen unterdrücken muss. Ich versuche, mir ein Leben mit einem Butler und einem knicksenden Hausmädchen in meinem kleinen New Yorker Apartment vorzustellen. Es gelingt mir nicht. Es wäre nie im Leben genug Platz.
»Eigentlich nicht. Man bekommt heutzutage einfach kein Personal mehr für so etwas«, witzele ich grinsend.
Nicht einmal der Anflug eines Lächelns. Allerdings ist er auch beschäftigt damit, mir ein Glas Wein einzuschenken, und hat mich wahrscheinlich nicht gehört, denke ich, während ich beobachte, wie gewandt er die Flasche dreht, damit kein Tropfen daneben geht. Genau so, wie ich es aus dem Restaurant kenne.
Die nächsten Minuten bringe ich damit zu, eine weitere Traube um meinen Teller zu jagen, ehe ich aufgebe und genervt mein Besteck beiseitelege. Ich meine, wir sind hier schließlich bei einem Picknick und nicht in einem superschicken Gourmettempel, oder? Ich breche ein Stück vom Brot ab und benutze es, um die Pastete aus dem Glas zu schaufeln. »Oh, das ist ja köstlich«, erkläre ich begeistert. »Haben Sie das selbst gemacht?«
»Nein, mein Koch.«
Ach ja, klar. Wieder die Bediensteten. Die hatte ich schon wieder vergessen.
»Ich muss mir das Rezept besorgen«, sage ich, als Versuch, die Stimmung etwas aufzulockern. »Und es mit nach Amerika nehmen.«
»Wann reisen Sie ab?«
»In ein paar Tagen. Morgen fahren wir nach Norden, um Lyme Park kennen zu lernen, und am Mittwochabend geht es nach New York zurück.«
»Können Sie Ihren Aufenthalt denn nicht verlängern?«
»Das würde ich gern -«, sage ich, als mir Mrs. McKenzies Mail wieder einfällt. »Aber, nein, ich kann nicht.« Mit einem Mal beschleicht mich die vertraute Besorgnis wieder. Ich nehme einen großen Schluck Wein und starre in mein Glas.
»Was ist denn, Emily? Sie sehen besorgt aus.«
Mr. Darcys Ton ist freundlich, aber ich antworte nicht. Stattdessen blicke ich in die burgunderrote Flüssigkeit und frage mich, wo um alles in der Welt ich anfangen soll. Spike, Ernie, Mr. McKenzie …
»Es sieht ganz so aus, als würde ich meinen Job in der Buchhandlung verlieren«, höre ich mich nach einer Weile heraussprudeln. »Mein Boss, Mr. McKenzie, verkauft vielleicht das Geschäft. Es geht ihm nicht gut, das verstehe ich, aber -« Ich seufze verzagt. »Ich weiß nicht, was ich machen soll.«
Es fühlt sich gut an, es endlich einmal laut ausgesprochen zu haben.
»Sie sind in Diensten?«
Ich blicke auf und sehe, dass Mr. Darcy mich mit höchster Verwunderung anschaut. Diese Tatsache scheint ihn sogar noch viel mehr zu verwundern als alles andere, was in den letzten paar Tagen passiert ist.
»Ja. In einer der besten Buchhandlungen New Yorks. McKenzie’s«, erwidere ich voller Stolz. Ich kann nicht anders. Das passiert mir jedes Mal.
»Sie arbeiten in einer Buchhandlung?«, wiederholt er ungläubig.
Ich bin nicht sicher, was ich erwartet habe, aber es war eher etwas in Richtung Mitgefühl und Verständnis.
»Na ja, im Augenblick jedenfalls.«
»Aber Sie erhalten doch gewiss eine Apanage von Ihrer Familie. Einen Treuhandfonds, vielleicht?«
»Ich fürchte, nein«, antworte ich und muss beim Gedanken an meine Eltern grinsen. Ein Treuhandfonds? Ich bekomme ja nicht einmal eine Postkarte zu Weihnachten.
»Und selbst wenn es so wäre, würde ich doch immer noch arbeiten gehen wollen. Ich liebe meine Arbeit.«
Mr. Darcy fährt sich mit den Fingern durchs Haar und mustert mich. Es scheint ihm große Mühe zu bereiten, meine Worte zu verdauen.
»Ich muss gestehen, Emily, ich bin schockiert«, erklärt er nach einer Weile.
Die Missbilligung in seiner Stimme ist unüberhörbar, und ich spüre, wie mein Lächeln erstarrt.
»Eine wohlerzogene Dame wie Sie sollte nicht arbeiten.«
Ich versteife mich. »Aber was ist denn mit Ihren Bediensteten? Sind unter ihnen keine Frauen?«, kontere ich, versuche jedoch, ruhig zu bleiben.
»Nun ja, selbstverständlich. Aber eine Stellung in einem Haushalt anzunehmen, ist für die unteren Klassen doch ebenso akzeptabel wie notwendig.«
Jetzt bin ich diejenige, die ihn verwundert anblickt. »Bedienstete«, war schon schlimm genug, aber hat er eben »die unteren Klassen« gesagt? Ich starre ihn ungläubig an, kann nicht glauben, was ich da höre. Ich wusste, dass er ein feiner Pinkel ist, aber ich hatte ja keine Ahnung, dass er ein solcher Snob sein könnte.
»Eine Frau gehört ins Haus. Als Ehefrau und als Mutter.«
Ja. Das hat er wirklich gesagt!
»Aber das ist doch absolut sexistisch!«, rufe ich.
Er schaut mich bestürzt an, als hätte er das Wort noch nie gehört.
Wahrscheinlich hat er das auch noch nie, wird mir plötzlich klar.Wahrscheinlich weiß er noch nicht einmal, was es bedeutet. Wenn das so ist, kann ich wohl kaum wütend auf ihn sein, oder? Ich meine, es ist nicht seine Schuld, dass er von all dem keine Ahnung hat. Daraus kann ich ihm beim besten Willen keinen Vorwurf machen.
»Sie wollen doch gewiss nicht behaupten, dass Frauen ihren Lebensunterhalt ebenso verdienen sollten wie Männer?«, fragt er übertrieben betont.
Ich nehme alles zurück. Ich kann.
»Natürlich!«, herrsche ich ihn aufgebracht an. »Warum sollten Frauen nicht genauso arbeiten wie Männer? Meine Karriere ist mir sehr wichtig.«
»Offensichtlich ist das in Amerika so«, erklärt er ernst. »Aber wir hier sehen die Dinge etwas anders. Und, wie ich sagen muss, schicklicher.«
»Schwachsinn!«
Schlagartig wird er kreidebleich und ringt sichtlich um Fassung. Mit einem Mal sehe ich Spike wieder vor mir, wie er die Beherrschung verloren hat. Unwillkürlich wünscht sich ein Teil von mir, Mr. Darcy würde dasselbe tun. Aber natürlich würde er es niemals dazu kommen lassen. Er ist stets so verdammt beherrscht. Früher fand ich so etwas sexy, aber jetzt empfinde ich es nur noch als frustrierend.
Ärger flackert in seinen Augen auf, und als ich in ihre dunkle Tiefe blicke, muss ich mit einem Mal an all die Monate und Jahre denken, in denen ich davon geträumt habe, Mr. Darcy zu begegnen.Wie ich mir gewünscht habe, dass jeder Mann so sein möge wie er.
Und jetzt sitzen wir hier. Zusammen. Und streiten.
»Ich wollte nicht so bissig sein«, fange ich an. Erst Spike und jetzt Mr. Darcy. Was ist eigentlich los mit mir? »Es ist nur -« Ich unterbreche mich.
›Nur was, Emily?‹ Schon wieder diese Stimme. Nur dass sie dieses Mal hartnäckiger ist. Dass er sich wie ein selbstsüchtiger, sexistischer Idiot verhält? Ein hochnäsiger Snob? Ein totaler Langweiler?
»Ich sollte allmählich zurückgehen«, ende ich leise und versuche, die Stimme in meinem Innern zum Schweigen zu bringen.
»Ich verstehe.« Er nickt düster. »Ich habe auch noch Angelegenheiten, denen ich mich widmen muss.« Er seufzt tief, als brodle es mächtig unter der Oberfläche, und dann wendet er den Blick von mir ab und blickt ins Tal hinunter. »Ich habe ganz vergessen, wie schön der Blick auf die Stadt von hier oben ist«, sagt er nach einer Weile leise.
Ich folge seinem Blick. Er hat Recht. Es ist fantastisch. »Ja, es ist überwältigend«, murmele ich zustimmend.
Einen Moment lang sitzen wir da und bewundern den majestätischen Anblick, der sich uns bietet – die sanften Hügel vor dem Hintergrund des unendlichen Horizonts. Es ist friedlich. Niemand ist in der Nähe. Nur wir zwei.
Aus dem Augenwinkel bemerke ich, wie Mr. Darcy sich mir mit gefurchter Stirn zuwendet. »Vielleicht können wir noch einen Moment länger hier sitzen bleiben?«
Ich starre weiter auf den Horizont. Er ist so weit, dass alles wieder in die richtige Perspektive gerückt wird. Ist es wirklich wichtig, ob ich Mr. Darcys Ansichten teile? Ich meine, natürlich hat er in bestimmten Punkten eine andere Meinung als ich, das ist doch nur verständlich. Wir kommen aus zwei vollkommen unterschiedlichen Welten. Stimmt’s?
»Ich denke, ich kann noch ein paar Minuten erübrigen«, sage ich schließlich und sehe ihm dabei in die Augen.
»Hervorragend.«
Er greift nach meiner Hand, doch obwohl er seine Finger mit meinen verschränkt, bin ich immer noch irritiert wegen unseres Streits. Unsere Meinungen sind so verschieden. Zu verschieden. Ich weiß nicht, ob ich mich jemals mit Mr. Darcys Meinungen aussöhnen könnte. Und, was noch viel wichtiger ist, ob ich es überhaupt will.
Betrübt lege ich meinen Kopf an seine Schulter und bringe die nagenden Zweifel zum Schweigen.
Zumindest für den Augenblick.
Ein Mann wie Mr Darcy
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