Acht
Bestürzt starre ich ihn an.
Was zum …?
Einen Moment lang bin ich zu verblüfft, um
irgendetwas zu erwidern. Ich weiß nicht, wie ich reagieren
soll.
Dann breche ich in Gelächter aus.
»Oh, haha, sehr witzig! Jetzt hab ich’s kapiert.«
Ich grinse breit. »Das ist eines dieser Museen mit Leuten, die sich
in Kostüme werfen und Rollenspiele machen, und Sie sind einer
davon, richtig?«
Mit einem Mal ergibt alles einen Sinn. Die
Kleidung. Seine Förmlichkeit. Die merkwürdig altmodische
Ausdrucksweise.
»Rollenspiel?«, wiederholt
er verwirrt. »Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz.«
Ich muss sagen, er spielt den Mr. Darcy wirklich
gut. Er ist genau so, wie ich ihn mir vorstelle. Und sieht genauso
gut aus. Ja, sogar besser. »Ja, ich habe eine ganze Weile
gebraucht, um draufzukommen«, gestehe ich. »Sie haben mich wirklich
reingelegt.«
»Reingelegt? Wo hinein?«, antwortet er
unschuldig.
»Ach, Sie wissen schon, mit den schrägen Klamotten
und so …«
Verblüfft sieht er an sich herunter, ehe er wieder
mich ansieht. »Verzeihen Sie, ich wollte es nicht erwähnen, aber
ich dachte genau dasselbe von Ihnen.« Er hält inne, offenbar um Mut
zu fassen, ehe er fortfährt. »Ich möchte ja nicht unhöflich
erscheinen, aber sind das Hosen, die Sie da
tragen?«
Jetzt sehe ich an mir herunter und bereue sofort
meine Kleiderwahl. Ich trage meine alten, ausgebeulten rosa
Cordhosen. Stella beschwört mich seit Jahren, sie endlich
wegzuwerfen, aber ich habe nie auf sie gehört. Sie sind ungefähr
zwei Größen zu groß für mich und folglich unglaublich bequem – und
aus demselben Grund das absolute Gegenteil von schmeichelhaft für
die Figur.
Ich werde unsicher. Er hat Recht. Was zum Teufel
habe ich da an? Das sind keine Hosen. Hosen – das hört sich nach
modisch und figurbetont an. Das hier ist keins von beidem. Ich sehe
grauenhaft darin aus. Als hätte ich einen Kartoffelsack an.
»Ach, die alten Dinger?« Ich versuche das Drama
herunterzuspielen und so zu tun, als würde es mich nicht kümmern.
Meine Güte, ist es nicht immer dasselbe? Warum trifft man nie
jemanden, der auch nur annähernd in Frage kommt, wenn man Make-up
aufgelegt und sich die Haare geföhnt hat, aber läuft grundsätzlich
jemandem über den Weg, wenn man einfach so aus dem Haus geht. Das
muss irgendein grässliches Gesetz des Universums sein. So wie bei
diesen Gutscheinaktionen. Vorher findet man alles in diesem Laden,
aber sobald man den Gutschein in der Hand hält, gibt es unter
Garantie nichts mehr, was einem gefällt. Absolut nichts. Das ist so
was von unfair.
Und jetzt das. Unter dieser
viktorianischen Kostümierung ist er offensichtlich einer dieser
wirklich trendigen Typen. Jetzt fällt es mir auf. Mit den langen
Koteletten und dem dunklen, lockigen Haar, das ihm in die Stirn
fällt, sieht er aus wie einer von Stellas Freunden. Und ich weiß
mit Sicherheit, dass Haare so etwas nicht ohne anständige Nachhilfe
machen.
»Die sind aus dem Schlussverkauf, es gab sie nur
nicht mehr in meiner Größe...«, blubbere ich, wie immer, wenn ich
jemanden attraktiv finde. Als würde sich meine Zunge selbst
aufziehen, wie eine Spieluhr. »...aber sie waren von 50 Mäusen auf
15 runtergesetzt, da konnte ich nicht Nein sagen.«
Und das ist noch so eine Angewohnheit von mir – den
Leuten erzählen, wie viel ich wofür bezahlt habe, als hätte ich es
nötig, mich zu brüsten, was für eine tolle Schnäppchenjägerin ich
bin. Als mir klar wird, dass ich es schon wieder getan habe, krümme
ich mich innerlich.
»Mäuse?«
»Ach, das habe ich ja ganz vergessen. Hier wird ja
mit Pfund bezahlt...«, korrigiere ich mich und überschlage die
Summe kurz im Kopf. »Also das sind wahrscheinlich etwa 10 Pfund.
Oder Sterling«, füge ich hinzu, stolz darauf, dass ich den
britischen Zungenschlag allmählich drauf habe.
»Ich denke, da muss ein Irrtum vorliegen.«
»Ehrlich? Oh, durchaus möglich. Mathe war noch nie
mein stärkstes Fach, muss ich gestehen.« Schnell rechne ich nach.
»Nein, ich denke, das stimmt.« Ich lächle verlegen, während er noch
immer ungläubig meine Hosen betrachtet.
»Die kosten 10 Pfund?« Er schaut mich besorgt an.
»Das kann ich kaum glauben. Das wäre doch ziemlich viel
Geld.«
Typische Männerantwort. Jeder Freund, den ich
bisher hatte, hat so reagiert, wenn ich von einem meiner seltenen
Einkaufsbummel zurückkam und ihm meine Neuerwerbungen gezeigt
habe.Warum denken Männer immer, Kleidung dürfe nicht mehr kosten
als ein Bier?
»Sind sie maßgeschneidert?«
»Nein, die sind von Gap.«
»Darf ich fragen, wo das ist?«
Verdattert starre ich ihn an. »Wollen Sie damit
sagen, Sie haben noch nie von ›The Gap‹ gehört?«
»Sollte ich das denn?«, fragt er mit todernster
Miene.
Ich will gerade antworten, als mir dämmert, dass
ich eine komplette Idiotin bin. Natürlich hat er von ›The Gap‹
gehört, er tut nur so. Das gehört zu seiner Rolle.Wahrscheinlich
würde er seinen Job verlieren, wenn er nicht authentisch
bliebe.
»Ach, wie dumm von mir, natürlich nicht.«
Seine Züge entspannen sich, und da es ziemlich
lustig werden könnte, beschließe ich mitzuspielen.
»Aber vielleicht sollten Sie doch mehr ausgehen«,
necke ich ihn.
Okay, das ist eindeutig ein Flirtversuch.
»Ich kann Ihnen versichern, dass ich das bereits
tue«, protestiert er hochmütig. »Erst letzte Woche war ich mit Mr.
Bingley auf der Jagd.«
Ich unterdrücke ein Kichern. Früher oder später
werde ich etwas sagen müssen. Dieses Spiel werde ich bestimmt nicht
bis zum Ende durchhalten. Ich sehe mich um, ob niemand außer mir in
der Nähe ist, dann beuge ich mich verschwörerisch vor. Er duftet
verführerisch nach Rasierwasser, was mein Magen prompt mit diesem
zarten Flattern quittiert. »Sie können mit dieser Mr.-Darcy-Nummer
jetzt aufhören«, flüstere ich. »Ich verspreche, ich verrate es
niemandem.«
Er blickt mich verwirrt an. »Ich fürchte, ich
verstehe nicht recht.«
»Ehrlich nicht?« Mit einer übertriebenen Geste
lasse ich meine Brauen auf und nieder hüpfen.
»Ehrlich nicht«, antwortet er, ohne eine Miene zu
verziehen.
Okay, ich geb’s auf. Dieser Typ nimmt seinen Job
offensichtlich sehr ernst. Keine Chance, ihn aus seiner Rolle zu
locken.Wahrscheinlich ist er auch einer dieser Method-
Acting-Anhänger.
»Schon gut, vergessen Sie’s einfach«, sage ich
lächelnd.
Doch er erwidert mein Lächeln nicht. Stattdessen
mustert er mit diesen glänzenden dunklen Augen mein Gesicht. Meine
Brust wird eng. Er hat etwas überaus Verführerisches, auch wenn ich
nicht schlau aus ihm werde. Im einen Moment scheint er schüchtern
und fast linkisch zu sein, dann hat er plötzlich wieder etwas
Arrogantes an sich. Eine tödliche Kombination.
»Was ist das für ein Akzent, den Sie da haben?«,
fragt er jetzt.
»Ich habe schon versucht, ihn einzuordnen, aber
-«
»NewYork«, platze ich heraus und sehe eilig weg. Er
macht mich ganz nervös.
»New York?« Sein Gesichtsausdruck verrät große
Verwunderung. »Sie sind aus Amerika?«
Allein schon die Art, wie er spricht, ist
hinreißend. Er hat so eine schöne tiefe Stimme und einen
unglaublich sexy englischen Akzent.
Äh, hallo, Emily, du bist dran. Du musst etwas
sagen.
»Äh … yep, ich bin hier auf einer Literaturreise,
wissen Sie. Eine Woche England mit Museumsbesuchen, interessanten
Orten wie Beispiel Bath und Winchester …«
Wieder krümme ich mich innerlich, als ich mich
plappern höre. Oh Gott, was tue ich hier? Ich höre mich an wie eine
Idiotin. Normalerweise habe ich in jeder Lebenslage eine
geistreiche Bemerkung auf den Lippen oder zumindest irgendetwas
annähernd Witziges, aber ich habe keine Ahnung, was heute mit mir
los ist.
Du magst ihn. Das ist mit dir
los, Emily.
»… und bis jetzt war es wirklich toll. Ich habe
schon eine Menge interessanter Menschen kennen gelernt …« Ich
unterbreche mich und bemerke, wie er mich mit unübersehbarer
Faszination betrachtet. Ich frage mich, ob er wohl eine Freundin
hat.
Schüchtern lächle ich ihn an, und dieses Mal
lächelt er ebenfalls. Es ist ein vorsichtiges, schiefes, unsicheres
Lächeln, beinahe so, als würde er nicht allzu oft lächeln, was es
natürlich nur umso verführerischer macht.Wer möchte schon von
jemandem angelächelt werden, der seine Freundlichkeit nach dem
Gießkannenprinzip verteilt? Nein, dieses Lächeln fühlt sich wie
etwas Besonderes an. Ich fühle mich wie
etwas Besonderes.
»Könnte das mich mit einschließen?«, fragt er
ruhig.
Wieder spüre ich dieses Flattern im Magen.
»Äh … ja«, presse ich mühsam hervor. Bestimmt hat
er eine Freundin. Er sieht viel zu gut aus, um Single zu
sein.
»Nun, dann erlauben Sie mir, das Kompliment zu
erwidern.«
Oh, nur zu, wenn Sie es nicht lassen können, will
ich schon spötteln. Doch zum Glück verkneife ich es mir.
Stille breitet sich im Raum aus. Wir sehen uns in
die Augen. Würde er nicht in einer völlig anderen Liga spielen,
würde ich fast glauben, dass auch er mich mag.
»Tja, ich sollte jetzt gehen …«, sagte ich
widerstrebend. Meine Stimme klingt hoch und dünn. Ich schlucke und
versuche, mich zusammenzureißen. Meine Güte, Emily, was ist nur in
dich gefahren? Das ist ja gerade so, als hättest du dich
verknallt.
»Ja, ich habe auch noch Angelegenheiten, derer ich
mich annehmen muss. Einen Brief, den zu schreiben ich meiner
Schwester versprochen habe.«
»Gut, dann freue ich mich, Sie kennen gelernt zu
haben, Mr. Darcy«, füge ich mit einem
anzüglichen Unterton hinzu und strecke ihm die Hand entgegen. Er
wirft einen Blick auf sie, dann neigt er den Kopf. »Das Vergnügen
war ganz auf meiner Seite, Miss Emily«, sagt er, während sein Blick
noch immer auf mir ruht.
Okay, jetzt ist es amtlich. Ich bin verschossen.
Über beide Ohren verknallt wie ein Teenager.
Einen Moment lang stehe ich da, möchte noch nicht
gehen, weil ich weiß, dass ich ihn nie wieder sehen werde, obwohl
mir klar ist, dass ich gehen muss. Andererseits kann ich hier nicht
den ganzen Tag lang stehen bleiben und ihn einfach nur anstieren,
oder? Ich muss mir zumindest ein Minimum von Coolness bewahren. Ich
bin eine 29-jährige New Yorkerin, Geschäftsführerin einer
Buchhandlung, erwachsen, mit Pensionsplan und den ersten Anzeichen
hauchfeiner Linien um die Augen. Ich kann mich nicht wie ein
liebeskranker Teenager aufführen.
Auch wenn ich mich im
Augenblick genauso fühle.
Ich werfe mein Haar über die Schulter – eine Geste,
von der ich hoffe, dass sie ebenso weltgewandt wie lässig wirkt -,
mache kehrt und durchquere mit entschlossenen Schritten den Raum.
Ich öffne die Tür, ehe ich einen letzten Blick über die Schulter
werfe. Er hat sich an den kleinen Schreibtisch gesetzt, sodass
seine Gestalt in das schwindende Sonnenlicht getaucht ist. Oh, er
muss das Absperrseil abgenommen haben, denn es ist verschwunden.
Kerzengerade sitzt er auf dem Stuhl, taucht seinen Federkiel in die
Tinte und klopft die Spitze behutsam am gläsernen Hals des
Fässchens ab. Offensichtlich hat er irgendwo ein paar Blatt Papier
gefunden, denn er beginnt mit ruhiger Hand seinen Brief zu
schreiben. Ich muss gestehen, ich bin beeindruckt. Das muss man dem
Museum lassen. Dieser Kerl ist verdammt realistisch. Wenn man es
nicht besser wüsste, würde man glatt denken, er wäre der
leibhaftige Mr. Darcy.
»Da sind Sie ja.«
Ich trete auf den dunklen Korridor und lande
geradewegs in der warmen Armbeuge eines Cordjacketts.
»Mmmpff …« Ich stoße einen erstickten Schrei aus
und weiche erschrocken zurück.
Klar. Spike Hargreaves Cordjackett. »Oh … hi«,
murmele ich und streiche hastig mein zerzaustes Haar glatt.
»Wo zum Teufel haben Sie denn gesteckt?«
»Das geht Sie verdammt noch mal nichts an«,
erwidere ich. Er mustert mich finster. »Tja, leider doch. Ich soll
nämlich nach Ihnen suchen.« Ich höre die Ungeduld in seiner Stimme.
»Das Museum schließt gleich. Alle sitzen im Bus und warten auf
Sie.«
Verdammt. Schuldgefühle überkommen mich. Es ist mir
egal, was Spike von mir denkt, bei den anderen dagegen nicht. »Ich
habe mich verirrt«, rechtfertige ich mich.
»Verirrt?«, wiederholt
Spike mit vor Spott triefender Stimme. »Verflixt noch eins,
Frauen«, murmelt er kopfschüttelnd.
»Und ich habe mit Mr. Darcy geredet«, füge ich
hinzu. Ich kann einfach nicht widerstehen.
Spike sieht mich an, als wäre ich endgültig
verrückt geworden. »Ja, klar, sonst noch was.«
»Sie brauchen es ja nicht zu glauben, wenn Sie
nicht wollen.« Ich zucke die Achseln. »Aber offensichtlich hat das
Museum jemanden eingestellt, der sich als Mr. Darcy verkleidet
hat.Vielleicht sollten Sie ihn mal interviewen. Für Ihren Artikel.«
Ich lächle. »Sie können ihn ja mal fragen, wie es ist, der Schwarm
aller Frauen zu sein.« Mein Blick fällt auf Spikes Bauch, der sich
unter seinem verknitterten Hemd wölbt. Reflexartig zieht er ihn
ein. »Er ist hier drin, im Salon.«
Ich sehe, dass Spikes Interesse erwacht ist, auch
wenn er es niemals zugeben würde. Ich wende mich zum Gehen. »Wollen
Sie mich verkohlen?«, ruft er mir nach.
Ich drehe mich um und ertappe ihn dabei, wie er
seine Hemdzipfel in die Hose steckt, jedoch augenblicklich davon
ablässt, als er meinen Blick sieht.
»Ich?« Ich gebe vor, zutiefst schockiert zu sein.
»Als würde ich so etwas jemals tun.« Ich drehe mich um und gehe
davon.
Eins. Zwei. Drei.
Verstohlen blicke ich über die Schulter und
erhasche einen Blick auf Spike, der seinen Notizblock aus der
Tasche kramt und den Stift hinter seinem Ohr hervorzieht. Er
verschwindet im Salon, ganz der selbstsichere Journalist, wie ich
ihn kenne.
Auf Zehenspitzen pirsche ich den Korridor entlang
und warte vor dem Salon, um an der Tür zu lauschen. Doch -
»Ha, ha, sehr witzig«, schnaubt Spike beleidigt,
der unvermittelt vor mir steht und mich beim Horchen erwischt.
Erschrocken mache ich einen Satz, während er mich mit einem
verächtlichen Blick straft.
»Was meinen Sie damit?«, herrsche ich ihn an.
»Anscheinend haben wir nicht dieselbe Vorstellung
von Humor«, fährt er fort, ohne meine Frage zu beantworten. »Was
wahrscheinlich daran liegt, dass wir Engländer überhaupt welchen
haben.«
»Oh ja, klar, euer berühmter Sinn für Ironie«,
spotte ich. Allmählich verliere ich die Geduld mit diesem
Kerl.
»Tja, jedenfalls ist er ein wenig subtiler als
irgendwelche kindischen Streiche«, schießt er zurück.
»Wer spielt hier kindische Streiche?«, fahre ich
ihn aufgebracht an.
»Sie«, antwortet er vorwurfsvoll. »Sie haben
behauptet, da drin sei irgendein Typ, der sich als Mr. Darcy
ausgibt.« Er zeigt in den Salon.
»Ist er doch!«, rufe ich mit wachsendem Zorn, packe
ihn beim Ellenbogen und schiebe ihn durch die Tür zurück.
Oh.
Beim Anblick des Salons verfliegt meine Entrüstung
schlagartig. Verdammt. Er hat Recht, hier ist kein Mr. Darcy. Wie
ärgerlich. Ich kann mir nichts Schlimmeres vorstellen, als von
einem Besserwisser der Lüge überführt zu werden -
Aber … Moment mal. Ich sehe mich schnell um. Mir
fällt auf, dass alles völlig anders aussieht. Oder sollte es doch
gleich sein? Das Absperrseil ist wieder vor dem Fenster, und das
Feuer im Kamin scheint ausgegangen zu sein. Und es regnet.Tja, das
erklärt wahrscheinlich auch, warum die Tapete wieder so abgenutzt
und verblichen aussieht …
»Wie gesagt, wahnsinnig komisch«, faucht
Spike.
Seine Stimme holt mich in die Gegenwart zurück.
»Aber vor einer Minute war er noch hier …«, protestiere ich
verwirrt.
Spike wirft mir einen bösen Blick zu, schüttelt den
Kopf und schiebt sich an mir vorbei. »Wir sehen uns im Bus«, brummt
er und stapft zurück ins Vestibül und den Zeichenraum. »Wenn Sie
sich von Ihrem imaginären Freund verabschiedet haben«, fügt er
sarkastisch hinzu.
Was für ein Blödmann. Ich lasse mich gegen die Wand
sinken und starre ins Leere.Trotzdem merkwürdig, dass der Kerl
einfach so verschwunden ist. Mein Blick fällt auf die kleine Tür in
der gegenüberliegenden Ecke des Raumes. Ob sie irgendwohin führt?
Irgendwohin, wo Besucher keinen Zutritt haben? Ich nehme an, dass
er durch sie verschwunden ist.
Wie schade. Er war aber wirklich nett.
Langsam schlendere ich zum Tisch hinüber und werfe
einen Blick darauf. Alles ist wie zuvor: der Tisch mit dem Brief,
der Federkiel und das hübsche, eckige Tintenfässchen mit der
tiefschwarzen Tinte. Nur liegt jetzt ein Brief dort.
Wow, das ging aber schnell. Ich sehe ihn mir
genauer an. Er ist an die ›Liebste Schwester‹ gerichtet und
unterschrieben mit ›Mr. Darcy‹. Die Handschrift ist typisch
altmodisch, schwungvoll verschnörkelt und schwer zu lesen und doch
… und doch … nein, das kann nicht stimmen. Das Papier ist ja ganz
vergilbt und die Tinte verblasst. Es sieht richtig alt aus.
Ich reibe meine trockenen Augen und starre eine
Weile darauf. Nein, er kann diesen Brief hier nicht geschrieben
haben. Das ist unmöglich. Es muss einer von Jane Austens Briefen
sein, der hier hingelegt worden ist. Wahrscheinlich lag er auf dem
Esstisch aus, wo ich ihn lediglich übersehen habe.Was nicht
überraschend wäre, so müde, wie ich bin. So müde, wie ich bin. Ich gähne. Oh Gott, warum bin ich nur so
geschafft?
Als ich gerade gehen will, schießt mir ein Gedanke
durch den Kopf.Warum sollte Jane Austen einen Brief schreiben, in
dem sie so tut, als wäre sie eine ihrer Figuren?
Ich denke einen Moment darüber nach. Das ergibt
keinen Sinn. Es muss eine einfache Erklärung dafür geben, so viel
steht fest, aber mir will keine einfallen. Und ich habe auch keine
Zeit, länger darüber nachzudenken. Ich werfe mir meine Tasche über
die Schulter.Wenn ich jetzt nicht gehe, werde ich den Bus
verpassen, und Spike wird mich nie damit in Ruhe lassen. Er wird
noch unerträglicher werden. Falls das überhaupt möglich ist.
Und wissen Sie was? Nach allem, was ich bisher von
Spike-ich-finde-mich-ja-so-großartig-Hargreaves gesehen habe,
fürchte ich, es ist wahrscheinlich möglich.