Siebenundzwanzig
Am nächsten Morgen wache ich mit verheulten
Augen auf.
Sie wissen schon, diese fürchterlich verschwollenen
Dinger, die das Resultat einer Mischung aus Weinen und Schlafen
sind. Blutunterlaufene Schlitze, die sich weigern, auf jeglichen
alten Schönheitstipp wie Teebeutel, kalte Teelöffel oder
Hämorrhoidensalbenkompressen zu reagieren, und einem keine andere
Wahl lassen, als sie zu verbergen.
Was erklärt, warum ich mit einer Sonnenbrille auf
der Nase zum Frühstück erscheine. Im
Januar.
Ich trete aus meinem Hotelzimmer, lasse die Tür
hinter mir zufallen und hinke langsam über den gemusterten rosa
Teppich. Mein Knöchel schmerzt, und ich bin noch immer ein wenig
wacklig auf den Beinen. Gestern Nacht muss ich einen Schock
erlitten haben. In diesem Moment war es mir zwar noch nicht klar,
aber das muss der Grund gewesen sein, weshalb ich in Tränen
ausgebrochen bin. Es hatte nicht das Geringste mit Spike zu tun –
auch wenn es so scheinen mag – nein, es war definitiv der Schock
durch den Sturz.
Plus, natürlich, die Gehirnerschütterung, die ich
mir zugezogen habe, weil ich mir den Kopf gestoßen habe. Ich
betaste meine Stirn. Die Beule ist immer noch da, aber sie ist ein
klein wenig zurückgegangen. Schätzungsweise werde ich einen
hässlichen blauen Fleck als Souvenir von meiner Reise mit nach
Hause bringen.
Selbstmitleid erfasst mich. Bei der Buchung dieser
Reise habe ich mir ausgemalt, wie ich in farblich abgestimmten
Outfits mit meinem Buch in der Hand durch die englische Landschaft
schwebe, meinen H-&-M-Glitzerschal lässig über die Schulter
geworfen – sexy, aber auch belesen. Eine junge Amerikanerin im
Ausland, die der Oberflächlichkeit und den Enttäuschungen des
modernen Alltags den Rücken kehrt und in eine Welt der Geschichte
und der Literatur eintaucht. Eine Welt mit urig-rustikalen Pubs und
knisternden Kaminfeuern – vor denen ich mich mit meinem Buch
zusammenrollen, ein, zwei lokale Gebräuche übernehmen und mit den
Einheimischen scherzen wollte, von denen die meisten Tweed tragen
würden.
Es war nicht geplant, betrunken und high herumzulaufen, in einen schrecklichen
Streit zu geraten oder gar von einem Pferd abgeworfen und um ein
Haar getötet zu werden.
Als wollte er mich daran erinnern, meldet sich der
durchdringende Schmerz zurück.
Das ferne Läuten meines Handys durchbricht meine
Gedanken. Ich krame es aus meiner Tasche und sehe aufs Display.
Stella. Erleichterung durchströmt mich. Meine Güte, jetzt brauche
ich wirklich eine Freundin.
»Hey, frohes neues Jahr! Du hattest bei mir
angerufen?«, ruft sie gut gelaunt. »Ich wollte nur hören, wie der
Ball war.«
»Oh, toll«, antworte ich mit gezwungener
Fröhlichkeit, in dem Versuch mit ihr gleichzuziehen. Ich gelange
zur Treppe und bleibe leicht schwankend neben der altmodischen Uhr
stehen.
»Erzähl, wie war’s?«
»Naja, erstens fand der Ball in diesem wahnsinnig
tollen Gebäude statt. Es gab ein Orchester und Tanz und Champagner
und …« Tränen stiegen mir wieder in die Augen. »Oh Gott, Stella,
ich hatte einen schrecklichen Streit«, platze ich heraus.
»Nie im Leben.«
»Doch. Und es war wirklich schlimm …« Meine Stimme
beginnt mit einem Mal zu beben, während ich hektisch versuche, die
aufsteigenden Tränen zurückzublinzeln.
»Em, was hast du denn wieder angestellt?«, tadelt
sie mich scherzhaft, als Versuch, mich aufzuheitern. »Mein
Urlaubsflirt hat mich sitzen gelassen und mit mindestens 20 anderen
Mädchen gleichzeitig herumgemacht. Das heißt, mir bleibt nur noch
dein Flirt, an den ich mich halten kann!«
Ich lache nicht, und da ich nichts anderes tun
kann, als leise zu schniefen, wird sie wieder ernst. »Also, los,
erzähl Tante Stella, worüber du und dieser Fitzwilliam euch
gestritten habt.«
Plötzlich wird mir klar, dass sie glaubt, ich rede
von Mr. Darcy.
»Oh, der Streit war nicht mit ihm.«
»Nein? Mit wem dann?«, fragt sie überrascht.
»Spike.«
»Entschuldigung, Em, aber wer um alles in der Welt
ist Spike?«
»Das Arschloch«, erwidere ich schniefend.
»Aah, das attraktive Arschloch«, folgert Stella.
Irgendetwas an ihrem Tonfall löst das Bedürfnis in mir aus, mich zu
verteidigen.
»Ich habe nie behauptet, dass er gut aussieht«,
protestiere ich.
»Das brauchtest du gar nicht«, erklärt sie
wissend.
»Was bist du? Psychiaterin, oder was?«, blaffe ich
ärgerlich.
»Oh. Also sieht er wirklich gut aus.«
»Okay, okay, er sieht gut aus«, gebe ich nach.
»Würdest du jetzt bitte damit aufhören.« Allmählich beginnt mir
dieses Gespräch auf die Nerven zu gehen, denn es läuft keineswegs,
wie ich es mir vorgestellt hatte. Sie wissen schon, jede Menge
weiblicher Solidarität à la ›Ja, er ist ein völliger Schwachkopf.
Nein, natürlich ist es nicht deine Schuld‹.«
Stattdessen muss ich mich aufziehen und mit
irgendwelchen idiotischen Andeutungen ärgern lassen.
Triumphierendes Schweigen am anderen Ende der
Leitung.
Verstehen Sie jetzt, was ich meine?
»Also, worüber habt ihr euch gestritten?«
»Das ist eine lange Geschichte.« Ich stoße einen
erschöpften Seufzer aus.
»Schieß los, ich habe nichts vor.«
Ich zögere, doch ehe ich mich versehe, öffnen sich
die Schleusentore, und alles kommt aus mir herausgesprudelt.
»Na ja, als Erstes habe ich rausgefunden, dass er
Maeve Lügen über Ernie, unseren Busfahrer, erzählt hat. Maeve ist
diese reizende irische Lady, die ihn allem Anschein nach wirklich
mag. Und dann hat Ernie mir gestern erzählt, Spike hätte ihn
verprügelt, weil er mit seiner Mutter zusammen gewesen sei …«
»Großer Gott.«
»… und dann haben wir gestern Abend auf dem Ball
getanzt, aber da rief seine Freundin an, und er hat mich einfach
mitten auf der Tanzfläche stehen lassen. Also bin ich auf den
Balkon gegangen und habe einen Joint geraucht …«
»Du hast einen Joint geraucht?«
»… und bin ausgeritten …«
»Im Ballkleid?«
»Aber dann muss ich mir irgendwo den Kopf gestoßen
haben und bewusstlos geworden sein, denn das Nächste, woran ich
mich erinnere, ist, dass ich nackt im Bett aufgewacht bin und Spike
da war …«
»Was du nicht sagst!«
»… und mir erzählt hat, er sei völlig verrückt nach
mir …«
»Heiliges Kanonenrohr!«
»… und dann hatten wir diesen schrecklichen Streit,
und er ist davongestürmt.«
Schweigen am anderen Ende der Leitung.
»Stella?«
»Verdammt, Em, ich sollte doch diejenige sein, die
im Urlaub ein Abenteuer nach dem anderen erlebt. Hätte ich geahnt,
dass eine Literaturreise so abgeht, wäre ich mit dir
gekommen!«
Ich lächle. »Ich schätze, das hört sich alles ein
bisschen verrückt an.«
»Verrückt? Das hört sich fantastisch an!«, schwärmt
Stella. »Glaub mir, im Vergleich dazu ist Mexiko todlangweilig.
Hier gibt es nichts außer ein paar peinlichen
Wet-T-Shirt-Wettbewerben und Margarita-Partys bis zum Abwinken. Ich
hätte nie gedacht, dass ich das sagen würde, aber glaub mir, ich
kann keine Margaritas mehr sehen.Wenn ich ehrlich sein soll, freue
ich mich schon auf zu Hause … wo wir gerade dabei sind, hast du
etwas von Freddy gehört? Er hat keine meiner SMS mehr beantwortet
…«
Ich denke an mein Gespräch mit Freddy gestern
Abend. An seine Worte, wie übel es sei, jemanden zu lieben. Mit
einem Mal übermannen mich erneut meine Gefühle.
»Hey, alles in Ordnung?«, fragt Stella, als sie
mein Schweigen bemerkt.
»Eigentlich nicht«, antworte ich kläglich.
»Tut mir leid, dass ich die ganze Zeit nur von mir
rede. Also, was empfindest du für ihn?«
»Für wen? Für Spike?«
»Na ja, von dem anderen hast du ja kaum ein Wort
erzählt.«
»Ich finde immer noch, dass er ein Arschloch ist«,
stoße ich wutentbrannt hervor. »Jetzt erst recht«, füge ich trotzig
hinzu. »Außerdem glaube ich, dass er auch noch ein Lügner und ein
Schläger ist.«
»Und was hast du jetzt vor?«
»Ich weiß nicht.Was hast du denn mit Scott
gemacht?«, frage ich, als mir unser letztes Gespräch wieder
einfällt.
»Du meinst, nachdem ich den Krug über ihm
ausgekippt habe?«, lacht Stella. »Ganz einfach. Ich habe ihn links
liegen lassen.Wenn du das machst, kapiert er ganz schnell.«
»Na gut, genau das werde ich auch tun«, erkläre ich
fest entschlossen und reiße mich zusammen. Es ist der Schlafmangel,
der mich so weinerlich macht. Sonst nichts.
»Wie bitte? Du nimmst meinen Rat an?«, ruft Stella
ungläubig. »Wow, das gab es ja noch nie.Was ist in dich
gefahren?«
Ich lehne mich gegen die Wand hinter mir und lasse
die Ereignisse der vergangenen Woche Revue passieren. Es fällt mir
noch immer schwer, das Ganze zu begreifen. »Ich bin nicht ganz
sicher«, erwidere ich schließlich. »Absolut nicht.«
Wir verabschieden uns, und kaum haben wir
aufgelegt, fällt mir prompt das Kleid wieder ein.Verdammt. Ich
wollte doch mit ihr darüber reden. Auch wenn ich mich frage, warum
sie nicht damit angefangen
hat.Wahrscheinlich hat sie es vergessen, denke ich und gehe die
Treppe hinunter. Schließlich ist Stella nicht gerade berühmt für
ihr gutes Gedächtnis.
Als ich den Speisesaal betrete, versuche ich so zu
tun, als wäre es das Normalste der Welt, um neun Uhr am
Neujahrsmorgen mit einer falschen Gucci-Sonnenbrille für zehn
Dollar aufzukreuzen. Hoffentlich bemerkt mich niemand, sodass ich
kurz frühstücken und mich gleich danach wieder verdrücken
kann.
»Also leben Sie ja doch noch!«
Wenn ich es mir recht überlege, eher nicht.
Ich sehe Rose, Maeve, Hilary und Rupinda an einem
Tisch sitzen und mich anstarren. Jetzt weiß ich, wie es sich
anfühlen muss, berühmt zu sein. Nicht gut.
»Guten Morgen, Emily«, dröhnt Rose. »Und frohes
neues Jahr!«
Ihre Stimme bohrt sich durch meine schmerzenden
Gehirnwindungen, und ich lächle schwach.
»Wir haben wohl einen kleinen Kater, was?«, gluckst
sie und richtet ihren dick gebutterten Muffin auf mich.
»Einen kleinen«, gebe ich nickend zu und setze mich
auf den leeren Stuhl, den sie für mich herausgezogen haben. Dankbar
lächelnd greife ich nach der Kaffeekanne. Meine Hand zittert. Heute
Morgen darf ich wohl einmal mit den englischen Gebräuchen aussetzen
und den Earl Grey überspringen.
»Wir haben uns Sorgen um sie gemacht«, wispert
Maeve, beugt sich zu mir herüber und legt fürsorglich ihre Hand auf
meine.
»Was ist denn passiert?«, will Hilary wissen und
greift nach der Erdbeermarmelade.
Oh Gott, Fragen über Fragen. Panik erfasst mich.
Genau das hatte ich befürchtet.
»Ich weiß nicht genau -«, antworte ich und spüre,
wie meine Wangen vor Scham hochrot werden. »Ich habe mir den Kopf
gestoßen.«
»Sie haben allen möglichen Unsinn gefaselt«, fällt
Rose lautstark ein.
»Tatsächlich?«, frage ich bestürzt und nehme einen
großen Schluck Kaffee. Ich brauche dringend Koffein.
»Romantische Ausritte, mondbeschienene Schlösser,
Gedichte …«
»Mr. Darcy«, fügt Hilary mit erhobener Augenbraue
hinzu.
Ich erstarre, den Kaffee noch im Mund. Er ist
lauwarm und leicht bitter. Hilary mustert mich
misstrauisch.Vielleicht werde ich aber auch nur allmählich
paranoid. Ich suche nach einer Entschuldigung.
»Na ja … ähm … wissen Sie...«, beginne ich, ohne
die geringste Ahnung zu haben, wie ich den Satz beenden soll.
Glücklicherweise werde ich von Rupinda
gerettet.
»Das brauchen Sie nicht zu erklären. Wir haben alle
unsere Fantasien über Mr. Darcy«, erklärt sie augenzwinkernd und
nimmt einen Schluck von ihrem heißen Zitronenwasser, mit dem sie
gewöhnlich den Tag beginnt. »Auch wenn ich gestehen muss, dass Ihre
wesentlich einfallsreicher sind als meine.«
»Oh, ich hatte schon immer eine etwas lebhafte
Fantasie«, scherze ich. »Schon als kleines Mädchen.« Dankbar lächle
ich Rupinda an, erleichtert, dass ich diesem Gespräch entkommen
bin, das zweifellos mehr als unangenehm geworden wäre -
»Dem Himmel sei Dank, dass Spike in der Nähe war,
nicht wahr?«, meint Hilary.
- nur um mitten in der nächsten unangenehmen
Unterhaltung zu stecken.
»Ähm … ja …«, murmle ich. Ich will jetzt wirklich
nicht über Spike reden.
Doch die Damen haben offensichtlich andere
Vorstellungen.
»Ah, ja, der wundervolle Mr. Hargreaves …«,
schwärmt Rupinda verträumt.
»Ich muss gestehen, ich finde das sehr romantisch«,
bemerkt Hilary, legt ihren Toast beiseite und schiebt sich
stattdessen einen Löffel voll Müsli in den Mund.
»Romantisch?«, wiederhole ich abfällig, ehe ich
mich beherrschen kann. »Wohl kaum.«
»Aber er hat Sie doch gerettet«, flüstert Maeve,
deren Augen hinter ihren Brillengläsern glänzen. »Er hat Sie
gerettet.«
Die Damen waren von Anfang an fest entschlossen,
uns beide »jungen Leute« zu verkuppeln, und nutzen jetzt
offensichtlich diese Wendung der Ereignisse, um ihr Vorhaben zu
unterfüttern. Gott, wenn sie wüssten, was heute früh wirklich
passiert ist. Es war auf jeden Fall alles andere als
romantisch.
»Oh, davon weiß ich nichts -«, beginne ich, werde
aber von Miss Staene unterbrochen, die mit ihrem Klemmbrett unterm
Arm an unseren Tisch gerauscht kommt.
»Ah, in der Tat, Miss Albright. Sie hatten wirklich
großes Glück, dass Mr. Hargreaves Sie gefunden hat. Wenn er nicht
gewesen wäre, hätten Sie sich in dieser Kälte den Tod holen können
-«
»Wir wollten Sie ins Krankenhaus bringen, aber da
es Silvester war, wäre die Notaufnahme sowieso überfüllt gewesen
-«
»Aber zum Glück hatte Spike einen Erste-Hilfe-Kurs
gemacht, also hat er Sie untersucht -«
»Und hat sogar angeboten, bei Ihnen zu bleiben, nur
für den Fall, dass -«
»Gehirnerschütterungen können eine ziemlich üble
Sache sein …«
Während die Frauen alle gleichzeitig auf mich
einreden, bemerke ich, dass meine Meinung über Spike ins Wanken
gerät. Wow, ich hatte ja keine Ahnung, dass er all das für mich
getan hat. Und ich habe mich nicht einmal bei ihm bedankt.
Stattdessen habe ich ihm all diese Gemeinheiten an den Kopf
geworfen – er sei unhöflich, egoistisch, besessen von sich selbst,
erbärmlich und ein Lügner. Allein bei der Erinnerung daran winde
ich mich unbehaglich. Meine Güte, ich habe nichts ausgelassen, was?
Dabei ist das völlig untypisch für mich. Normalerweise klinge ich
nicht wie ein garstiges Miststück.
Wahrscheinlich hast du so geklungen, weil du ein
garstiges Miststück warst, Emily.
Das schlechte Gewissen trifft mich wie ein Schlag
in die Magengrube, doch ich werde das nicht einfach hinnehmen. ›Ja,
aber was ist mit Ernie?,‹ rufe ich im Geiste. ›Mit dieser
widerwärtigen Art, wie er mit ihm umgesprungen ist? Spike hat sich
das alles selbst zuzuschreiben. Warum hätte ich nett zu ihm sein
sollen? Schließlich war er ja auch nicht nett zu Ernie, oder?‹,
denke ich empört.
»Wo wir gerade dabei sind … wo steckt denn unser
wunderbarer Mr. Hargreaves?«, fragt Rose mit lauter Stimme. »Ich
habe ihn heute Morgen noch nicht gesehen.«
Mein Magen zieht sich vor Angst zusammen. Oh nein.
Recht oder Unrecht, ich kann ihm jetzt nicht ins Gesicht sehen.
Ausgeschlossen.
»Er ist zurück nach London gefahren«, antwortet
Miss Staene nüchtern.
Was? Abrupt hebe ich den Kopf. »Zurückgefahren?«,
stoße ich verblüfft hervor und stelle zu meiner grenzenlosen
Verblüffung fest, dass ich enttäuscht bin.
»Ja, er musste ganz früh weg. Eine dringende
berufliche Angelegenheit.«
Am Tisch erhebt sich Gemurmel. Offensichtlich sind
die anderen ebenso überrascht wie ich.
»Aber was ist denn mit dem Artikel?«, fragt Hilary
und verschränkt die Arme, als sei sie bereit, Miss Staene ins
Kreuzverhör zu nehmen. Man kann sie sich ohne weiteres als
Partnerin einer großen Anwaltskanzlei vorstellen.
»Er ist so gut wie fertig. Er hat alle Interviews
gemacht«, antwortet sie nur.
»Aber mich hat er noch nicht interviewt«, höre ich
mich protestieren.
Meine Worte überraschen mich selbst, und ich sehe,
wie Miss Staene mich anblickt.
»Vielleicht haben Sie ihm den Eindruck vermittelt,
als wollten Sie nicht interviewt werden«, meint sie.
»Ja, vielleicht«, nicke ich, auch wenn ich weiß,
dass es da kein ›vielleicht‹ gibt.
»Meiner Erfahrung nach muss man klare Verhältnisse
schaffen, wenn es um Männer geht, Emily. Wir Frauen lieben es,
einen Mann zu enträtseln, und können das sehr gut. Aber Männer sind
nicht daran interessiert, dasselbe mit uns zu tun, habe ich Recht,
meine Damen?« Miss Staene sieht sich um und erntet zustimmendes
Lachen. »Und das trifft umso mehr zu, wenn es um
Herzensangelegenheiten geht.Wie Charlotte Lucas in Stolz und Vorurteil schon sagte, kann es manchmal
›von Nachteil sein, so verschlossen zu sein. In neun von zehn
Fällen tut die Frau gut daran, mehr Zuneigung zu zeigen, als sie
tatsächlich empfindet‹.«
Nachdem Miss Staene geendet hat, fällt mir auf,
dass sie mir direkt ins Gesicht sieht, und mich beschleicht
dasselbe Gefühl wie gestern Abend auf dem Ball. Als unsere
Reiseleiterin zitiert sie lediglich Jane Austen, doch ich habe fast
das Gefühl, als seien diese Worte ihr persönlicher Rat an mich, und
als wüsste sie weitaus mehr, als sie zugibt.
»Ach, das ist ja schade«, dröhnt Rose. »Netter
Kerl. Ich hätte ihm gern noch Auf Wiedersehen gesagt.« Die Damen
nicken zustimmend, und während sich bedauerndes Gemurmel erhebt,
dass man noch keine Gelegenheit gehabt habe, ihm ein gutes neues
Jahr zu wünschen, ihn gern eingeladen hätte, bei Gelegenheit doch
auf einen Besuch vorbeizukommen, oder gern versucht hätte, ihn mit
der ›alleinstehenden, aber hinreißenden Nichte‹ zu verkuppeln,
entschuldige ich mich und verlasse den Saal.
Das war’s also. Spike ist zurück nach London
gefahren. Und ich kehre übermorgen zurück nach New York. Was
bedeutet, dass wir uns nie wieder sehen werden. Kein Streit mehr.
Gar nichts mehr. Es ist vorbei. Ende. Mann, was für eine
Erleichterung.
Doch selbst in dem Moment, als ich mir das sage,
werde ich das Gefühl nicht los, dass ich mir etwas vormache.
Irgendwo, tief in meinem Innern, nagt der Zweifel an mir, dass ich
möglicherweise einen schweren Fehler gemacht habe. Und dass es
nicht Erleichterung ist, was ich empfinde, sondern Reue.