Zwölf
Nachdem ich den Rest der Gruppe zurückgelassen
habe, finde ich hinter der Kathedrale ein ruhiges Plätzchen mit
einem von Raureif überzogenen Rasenstück, wo ich mich auf eine der
Holzbänke fallen lasse. Alles um mich herum fängt an, sich zu
drehen, und ich schließe die Augen. Meine Güte, inzwischen ist mir
wirklich flau. Ich lasse den Kopf zwischen meine Knie sinken und
sauge die schneidend kalte Luft tief in meine Lungen.
Ein. Aus. Ein. Aus. Ein. Aus. Ein -
Ich habe keine Ahnung, wie lange ich so dagesessen
und tief ein- und ausgeatmet habe, als ich das Knirschen von
Schuhen höre. Ich halte den Atem an und reiße die Augen auf.Wer ist
das? Wahrscheinlich Spike, der zurückgekommen ist, um mich weiter
mit dem Interview zu nerven, was meine Laune augenblicklich dem
Tiefpunkt entgegensinken lässt.
Ich bleibe reglos sitzen, den Kopf noch immer
zwischen den Knien, und starre zu Boden, im kindlichen Wunsch, dass
er mich vielleicht nicht sehen kann, solange ich ihn nicht sehe.
Okay, als ich fünf Jahre alt war und mit meinen Großeltern
Verstecken gespielt habe, hat es immer funktioniert.
Inzwischen ist das Knirschen lauter, näher, direkt
vor mir. Ein Paar Schuhe erscheint in meinem Blickfeld. Nur die
Spitzen. Der Mann bleibt stehen.
Verdammt.
»Äh.«
Er räuspert sich und wartet darauf, dass ich
aufschaue. Damit er sich an meinem Anblick weiden kann, jede Wette.
Ich bin versucht, ihn einfach nicht zu beachten und zu beten, dass
er die Botschaft begreift und verschwindet. Aber mir ist klar, dass
keine Aussicht darauf besteht. Spike ist Journalist. Hartnäckigkeit
ist sein zweiter Vorname.
Ich starre noch eine Weile auf seine glänzenden
Stiefel, wappne mich für den Ansturm aus Witzen – nun, da er sieht,
dass ich selbst einer bin, denke ich gekränkt -, ehe ich den Kopf
hebe. Während mir genau in dem Bruchteil einer Sekunde, die man
dafür braucht, etwas auffällt, was nicht ins Bild passt. Moment
mal, Spikes Schuhe sind abgestoßen und nie zugebunden.
Die Erkenntnis trifft mich wie ein Schlag.
Das sind nicht Spikes
Schuhe.
»Fühlen Sie sich nicht wohl?«
Er ist es. Der Mann aus dem
Museum. Ausdruckslos starre ich auf sein unfassbar kantiges Kinn
mit der sexy Spalte und lasse den Anblick einen Moment lang auf
mich wirken. Währenddessen kommen mir zwei Gedanken:
1. Was für ein seltsamer Zufall. Was um alles in
der Welt macht er hier?
2. Was für ein unglaubliches Glück. Ich hätte nie
gedacht, dass ich ihn noch mal wiedersehe.
»Sie sehen ein wenig blass aus.«
»Nein, es geht schon. Mir ist nur ein bisschen …
schwindlig.«
Er mustert mich besorgt, ehe er seine Schläfen
berührt und sie zu massieren beginnt.
»Mir ist auch ein wenig schwindlig. Dürfte ich mich
vielleicht neben Sie setzen?«
»Oh, klar, natürlich.« Ich rutsche ein Stück zur
Seite, um ihm Platz zu machen. Plötzlich bin ich lächerlich nervös,
so wie ich mich immer fühle, wenn ich jemanden attraktiv finde.
Verstohlen linse ich zu ihm hinüber. Er trägt immer noch diese
witzigen Klamotten wie gestern, aber lustige Kostümierung hin oder
her: Er sieht nach wie vor wahnsinnig gut aus.
Er schlägt die Schöße seines dicken Wintermantels
nach hinten und setzt sich neben mich. Mein Herzschlag beschleunigt
sich.Was macht es schon, dass er ein Rüschenhemd, eine zugeknöpfte
Weste und eine Taschenuhr trägt? Ich war mit einem Mann zusammen,
der weiße Cowboystiefel trug, schon vergessen?
Äh, hallo, Emily, du bist nicht mit ihm
zusammen.
›Noch nicht‹, höre ich die leise Stimme in meinem
Kopf sagen.
Meine Güte, was ist nur über mich gekommen? Seit
wann schlummert denn ein Raubtier in mir?
Eine Zeit lang sitzen wir einfach nur schweigend
nebeneinander. Ich habe die Arme um meine Knie geschlungen und
versuche, ihn zu beobachten, ohne dabei ertappt zu werden, indem
ich den Blick halb abwende. Er sitzt kerzengerade da und massiert
sich mit gequälter Miene die Schläfen.
Zumindest sieht es so aus, aber haben Sie jemals
versucht, jemanden von der Seite zu beobachten? Es schmerzt
wirklich in den Augen.
»Ich glaube, wir sind uns gestern in Chawton Manor
begegnet.« Er wendet sich mir zu und ertappt mich prompt dabei, wie
ich ihn anstarre.
Ich laufe dunkelrot an. Kann man sich noch dümmer
anstellen als ich? »Ähm, ja«, antworte ich unsicher und frage mich,
was als Nächstes kommen mag.
»Miss Emily, die Amerikanerin, richtig?«
Als er mich ansieht, komme ich nicht umhin, den
Einfall des Lichts in seine Augen zu bemerken, sodass man
honigfarbene Sprenkel um seine Iris erkennen kann. »Und Sie sind
Mr. -« Ich verstumme verlegen.
»Darcy«, erwidert er mit fester Stimme. »Mr.
Darcy.«
Oh gut, wir spielen also immer noch dieses Spiel.
Einen Moment lang sehe ich ihn prüfend an. »Tun Sie das … äh …
leben Sie davon?«, frage ich.
»Wovon?«, fragt er unschuldig.
Davon, amerikanischen Singles
gegenüber so charmant und sexy zu sein, denke ich.
»Ich meine, sind Sie Schauspieler?«, sage ich
stattdessen.
»Schauspieler?« Meine Frage scheint ihn zu
überraschen.
»Aber nein.« Er lächelt belustigt. Ich lächle
ebenfalls, auch wenn ich zugeben muss, dass ich nicht weiter weiß.
Ich habe keine Ahnung, wie ich mich verhalten soll. Wenn er kein
Schauspieler ist, was ist er dann?
Verzweifelt durchforste ich mein schwammiges Gehirn
nach einer logischen Erklärung für all das. Erlaubt er sich einen
Scherz mit mir? Springt er gleich auf und ruft: »Versteckte
Kamera!«, oder wie auch immer die Sendung hier in England heißen
mag.
Ich sehe mich um, aber alles ist ruhig und
friedlich. Keine Menschenseele ist weit und breit. Nur ich und
dieser gut aussehende englische Fremde.
Ein beängstigender Gedanke durchzuckt mich. Was
ist, wenn er ein durchgeknallter Mörder ist, der sich Mr. Darcy
nennt und leichtgläubigen jungen Frauen auflauert?
Vor meinem geistigen Auge sehe ich eine Zeitung auf
mich zuwirbeln, wie in diesen alten Schwarzweißfilmen. »Tragischer Tod einer hoffnungslosen Romantikerin –
getötet von ihrer Liebe zur Literatur«, prangt auf der
Titelseite. »›Wir haben sie angefleht, mit uns
nach Cancun zu kommen‹, sagt ihre enge Freundin Stella, erst seit
Kurzem verlobt mit Scott, 29, Leiter einer Werbeagentur. ›Aber sie
wollte ja unbedingt Mr. Darcy kennen lernen.‹«
Das reicht jetzt. Ich muss es einfach sagen.
»Hören Sie, was geht hier vor?«, platze ich heraus
und sehe ihm in die Augen. Meine Güte, ich bin Amerikanerin. Wir
lieben klare Worte.
Meine unverblümte Art scheint ihn zu schockieren.
»Verzeihung, ich fürchte, ich verstehe nicht ganz, was Sie
meinen.«
»Sie. Dass Sie hier auftauchen. In diesem Aufzug.
Und behaupten, Sie wären Mr. Darcy«, fahre ich mutiger fort. »Wenn
Sie kein Schauspieler sind, was dann?«
»Mr. Darcy«, erwidert er nur.
Ich sehe ihn einen Moment lang an und versuche
vergeblich, aus ihm schlau zu werden. Dieser Typ gefällt mir, aber
genug ist genug. »Es tut mir leid, aber das ist unmöglich.«
»Wie kann das unmöglich sein?«
»Weil Sie nicht existieren«, sage ich schlicht.
»Leider«, füge ich wehmütig hinzu.
»Wären Sie dann wohl so freundlich und würden mir
erklären, wie ich hier neben Ihnen sitzen kann? Wollen Sie etwa
andeuten, ich sei ein Geist? Eine Ausgeburt Ihrer Fantasie?«,
antwortet er amüsiert.
Nun, da er es sagt, kommt es auch mir ein bisschen
weit hergeholt vor.
Obwohl … Weiter hergeholt als seine Behauptung, er
sei Mr. Darcy?
»Falls Sie das tröstet – ich finde Ihre Gegenwart
ebenfalls etwas beunruhigend«, gesteht er, beugt sich vor, stützt
die Ellbogen auf die Knie und fährt sich mit den Fingern durchs
Haar. »Und auch ich bin verwirrt darüber, dass sich unsere Wege
ständig kreuzen.«
Ich werfe einen Blick auf seine zusammengekauerte
Gestalt, während mich unvermittelt ein Gefühl der Zuneigung
durchströmt. »Nicht so verwirrt wie ich«, erwidere ich.
»Nach unserer Begegnung gestern im Salon habe ich
mich gefragt, ob ich Sie mir nur eingebildet habe.«
»Das ging mir genauso.« Ich nicke eifrig.
»Es schien, als seien Sie förmlich aus dem Nichts
aufgetaucht und hätten sich ebenso schnell wieder in Luft
aufgelöst.«
»Ganz genau«, bestätige ich. Eine Welle der
Erleichterung durchströmt mich. Also drehe ich nicht durch.
Offensichtlich gibt es eine rationale Erklärung für all das.
Aber welche?
Eine Weile sitzen wir da. Keiner von uns sagt ein
Wort, während die unausgesprochenen Fragen um uns herumwirbeln.
Wie? Warum? Wer? Ich schließe die Augen.
All diese Fragen machen mich ganz wirr.
»Ich habe mich wirklich gefragt, ob ich Sie mir
vielleicht nur eingebildet habe.«
Als ich seine leise, beherrschte Stimme höre, öffne
ich die Augen und bemerke, dass er mich ansieht, als könnte er es
selbst kaum glauben. Er lehnt sich zurück und verschränkt die Arme.
»Ich muss gestehen, Miss Emily, dass alles an Ihnen, von Ihrer
Kleidung bis hin zu Ihrer Sprechweise und Ihrem Benehmen mit nichts
zu vergleichen ist, was ich jemals erlebt habe.«
»Ich könnte dasselbe über Sie sagen.« Ich lächle
ihn schüchtern an.
Außerdem passiert ganz eindeutig etwas zwischen
uns. Und das bilde ich mir ganz eindeutig nicht ein.
»Tatsächlich?«, will er wissen, ohne den Blick von
mir zu wenden.
»Absolut.« Ich werde leicht nervös. Flirtet er mit
mir? Mein Magen zieht sich zusammen. Mann, das ist so verrückt,
dass ich das Gefühl habe, mich kneifen zu müssen.
Ich tue es.
Nein, er ist immer noch da. Auf der Bank. Neben
mir. Flirtet.
Ich registriere, wie der Mann meiner Träume den
Kopf hebt, und sehe ihn an. Unsere Blicke begegnen sich, und eine
Sekunde lang sehen wir einander einfach nur an. Doch in Wahrheit
ist es viel länger. Es fühlt sich an, als hätte jemand das Tempo um
mich herum verlangsamt, in Zeitlupe versetzt, damit es ein wenig
länger andauert. Lange genug, um es bedeutungsvoll erscheinen zu
lassen. Lange genug, damit sich das Kribbeln seinen Weg hinauf bis
zum Nacken bahnen kann …
»Was treibt Sie hierher nach Winchester?«, frage
ich, teils aus Neugier, aber auch, um dem Gespräch wenigstens
wieder den Anschein von Normalität zu verleihen. So gern ich hier
mit einem gut aussehenden Fremden sitze, muss ich doch zumindest
versuchen, die Situation wieder in den Griff zu bekommen.
»Ich bin mit guten Freunden hergekommen, die von
den bunten Glasfenstern begeistert sind. Aber ich fürchte, sie
interessieren mich nicht besonders, deshalb habe ich beschlossen,
nach draußen zu gehen. Eigentlich hatte ich vor, meine Zeitung zu
lesen …«
Er wedelt damit in meine Richtung, als wollte er
beweisen, dass er mich tatsächlich nicht verfolgt, als mein Blick
an etwas hängenbleibt.
Was zum -
Schwarz auf weiß steht es in der Ecke der Zeitung:
das Datum. Nur, dass statt dem 29. Dezember 2005 dort der 29.
Dezember 1813 steht. Ich sehe genauer hin, reibe mir die Augen und
sehe ein weiteres Mal hin.
»Da ist ein Druckfehler im Datum.«
»Sie scheinen es sich zur Gewohnheit gemacht zu
haben, nie etwas zu glauben. Zuerst mir nicht, dann der Times of London nicht«, spottet er, und seine
dunklen Augen blitzen.
»Aber es ist falsch...«, protestiere ich, nehme ihm
die Zeitung aus der Hand und überfliege die Überschriften. Moment
mal, es ist nicht nur das Datum, auch alle diese Artikel scheinen
nicht richtig zu sein. Wie es aussieht, beziehen sie sich auf
Ereignisse, die längst Geschichte sind. Als wäre diese Zeitung
wirklich knapp 200 Jahre alt. Das ergibt doch einfach keinen Sinn.
Es sei denn …
Vor meinen Augen beginnt sich alles zu drehen, und
ich blicke zu dem Mann auf, der neben mir sitzt, mustere seine
glänzenden Reitstiefel und die engen, schwarzen Reithosen, seinen
Frack, die Taschenuhr an seiner Weste, seinen weißen, gestärkten
Hemdkragen und sein Halstuch, die Spalte in seinem Kinn … Ich denke
an das Szenario im Museum: sein Auftauchen im Salon, das Feuer im
Kamin, die Tapeten, die Förmlichkeit, mit der er sich mir
vorgestellt hat, das plötzlich fehlende Absperrseil …
Die Bilder vermischen sich, werden aus ihrer
Reihenfolge gerissen, während ich versuche, mich an alles zu
erinnern. Der Brief an seine Schwester, diese Zeitung aus dem Jahr
1813, sein plötzliches Verschwinden, als Spike in den Salon kam,
und sein neuerliches Auftauchen, scheinbar aus dem Nichts … Ich
sehe mich auf dem menschenleeren Rasen um. Es ist nie jemand in der
Nähe, wenn er hier ist, außer mir …
Es könnte alles ein raffinierter Trick sein, aber –
ich hole tief Luft, um mich für das zu wappnen, was folgt -, aber
was, wenn ich die Vorstellung zulasse, dass es das nicht ist? Ich
halte inne, weiß, dass ich kurz davorstehe, das Undenkbare zu
denken.Was, wenn er tatsächlich derjenige ist, der zu sein er
behauptet?
Wenn er wirklich Mr. Darcy
ist?
»Sie zittern ja. Möchten Sie meinen Schal?«
Ich kehre ins Hier und Jetzt zurück und sehe, wie
er den Seidenschal um seinen Hals löst. Ich nicke nur stumm. Es
muss eine rationale Erklärung geben, auch
wenn mir keine einfällt. Und der Teil von mir, der in Mr. Darcy
verliebt ist und das letzte Jahr damit verbracht hat, von einer
Katastrophenverabredung in die nächste zu stolpern, will auch gar
nicht, dass es eine gibt.
Als er sich wortlos hinüberbeugt und mir vorsichtig
seinen Schal um die Schultern legt, halte ich den Atem an. Nichts
von all dem ergibt einen Sinn. Aber was wäre, wenn die Dinge
manchmal gar keinen Sinn ergeben müssten? Bloß weil man etwas nicht
erklären kann, heißt das noch lange nicht, dass es nicht real
ist.Wie UFOs oder Geister oder Kornkreise … oder eine zum Leben
erwachte Figur aus einem Buch.
Emily, hör auf damit. Du machst dich lächerlich.
Das ist verrückt. Dieser Typ ist offensichtlich durchgeknallt, und
das färbt auf dich ab! Komm schon, reiß dich zusammen.
Plötzlich kommt mir eine Idee. Ich beuge mich nach
unten und beginne, in meiner Tasche zu wühlen, bis ich finde,
wonach ich suche – mein Exemplar von Stolz und
Vorurteil. »Mr. Darcy ist eine Figur aus einem Buch. Diesem
Buch«, verkünde ich laut, als wollte ich meine verrückten Gedanken
auf diese Weise zum Schweigen bringen.
Er sieht aufrichtig überrascht aus. »Ich? Komme in
einem Buch vor?«
»Ja, von Jane Austen. Es handelt von Ihnen – ich
meine, von Mr. Darcy«, korrigiere ich mich schnell. Mein Gott,
jetzt fange ich auch schon an. »Sehen Sie selbst.«
Ich drücke ihm das Buch in die Hand. Nun wird sich
gewiss irgendeine vernünftige Erklärung ergeben. Diesen Beweis kann
er nicht abstreiten, oder?
Eine Weile sitzt er reglos da, kerzengerade, das
schmale Bändchen in Händen, einen misstrauischen Ausdruck auf dem
Gesicht.
»Das soll ein Buch sein?«
Ich nicke fieberhaft.
»Wie seltsam. Es hat keinen Einband«, stellt er
völlig verblüfft fest.
»Haben Sie noch nie ein Taschenbuch gesehen?«,
frage ich ungeduldig, als mich die Erkenntnis wie ein Schlag
trifft.
Zu Darcys Zeit waren Bücher in Leder gebunden und
Taschenbücher noch gar nicht erfunden, was erklären würde -
Hastig schiebe ich den Gedanken beiseite.Wie gesagt
– es ist unmöglich.
Langsam dreht er das Buch herum. Er fährt mit dem
Daumen über den Umschlag, runzelt die Stirn, dann klappt er es
vorsichtig auf und schlägt die erste Seite um. Ich sehe, wie seine
Augen den Text überfliegen.Versunken blättert er einige weitere
Seiten durch. Noch immer wirkt er zutiefst bestürzt.
»In der Tat, Sie haben Recht«, sagt er nach einer
Weile langsam.
»Ich weiß«, antworte ich voller Genugtuung. Doch da
ist noch etwas anderes: eine Spur von Enttäuschung. Er hatte mich
fast so weit, dass ich ihn für real gehalten hatte. Doch nun wird
mir klar, dass sich ein Teil von mir – ein sehr großer sogar –
gewünscht hätte, es wäre so. Okay, es ist vollkommen verrückt und
unmöglich und absolute Fantasterei, aber welches Mädchen würde
nicht gern den echten Mr. Darcy kennen lernen?
Er hebt den Kopf. »Ich komme in einem Buch vor. Und
nicht nur das, auch meine lieben Freunde, Mr. Bingley und seine
Schwester …« Das aufgeschlagene Buch auf den Knien, blickt er
wieder auf die Seiten hinunter, als ein kaum wahrnehmbares Lächeln
um seine Mundwinkel zu spielen beginnt. »Ich muss zugeben, es ist
höchst schmeichelhaft, dass jemand ein Buch über mich geschrieben
haben soll.«
Äh, Moment mal, mit dieser Reaktion hatte ich nicht
gerechnet.
»Vielen Dank, dass Sie es mir gezeigt haben. Ich
fühle mich geehrt. Das ist doch ein Kompliment, nicht wahr?«, fährt
er fort und sieht mich an. Sein Stolz ist unüberhörbar, und ich
muss zugeben, dass er ein klein wenig selbstgefällig klingt. »Auch
wenn es Ihre Theorie, dass ich nicht existiere, eher widerlegt«,
fügt er augenzwinkernd hinzu. »Ich existiere nicht nur hier in
Fleisch und Blut, sondern auch noch schwarz auf weiß in diesem
Buch.«
Vollkommen überrumpelt öffne ich den Mund, um etwas
zu sagen, auch wenn ich nicht recht weiß, was. Hat dieser Kerl
völlig den Verstand verloren? Zugegebenermaßen scheint er,
abgesehen von seiner Kleidung, völlig normal zu sein, und ist
wirklich attraktiv. Meine Güte, das wäre wieder einmal typisch für
mich, oder? Endlich begegne ich jemandem, bei dem es ernsthaft
funkt, und prompt entpuppt er sich als völlig durchgeknallt.
»Doch da ist noch etwas, das ich nicht verstehe
…«
Ich kehre zurück in die Gegenwart, um meinen
dunkeläugigen, gutaussehenden Fremden das Buch durchblättern zu
sehen. Sein Lächeln ist verflogen. »Warum sind die restlichen
Seiten leer?«
»Leer?«
Oh mein Gott, ich hatte Recht. Er ist verrückt.
»Sehen Sie.«
Mit wachsender Verzweiflung beobachte ich, wie er
mir das Buch hinhält und durch die zweite Hälfte blättert.
Typisch, absolut typisch
…
Moment mal.
Anstatt mit Text bedruckt zu sein, sind alle Seiten
völlig leer, stelle ich entsetzt fest.
Aber wie ist das möglich? Das ist völlig
ausgeschlossen.
Mit einem Mal gerate ich ins Wanken. Erste Zweifel
keimen in mir auf. Irgendetwas Unheimliches geht hier vor. Ich habe
das Buch gerade noch im Bus gelesen. Es war alles in Ordnung mit
diesem Buch, doch jetzt -
»Wie haben Sie das gemacht?«, keuche ich und reiße
es ihm aus der Hand.
»Ich habe nichts getan«, verteidigt er sich.
Ich blättere in dem Buch, als würde ich erwarten,
dass der Rest der Geschichte wieder erscheint, doch die Seiten
bleiben unerbittlich leer. Es müssen mehrere Hundert sein.Weiße,
leere Seiten. Ungläubig starre ich sie an, zermartere mir das Hirn
nach einer rationalen Erklärung. Doch es gibt keine. Wie können
Wörter einfach so von einer Buchseite verschwinden? Sich in Luft
auflösen?
»Ist das irgendein Trick?«, rufe ich verwirrt. Ich
habe meinen Dad schon Spielkarten im Ärmel verschwinden lassen
sehen, aber Buchseiten? »Sind Sie Magier
oder Zauberkünstler wie David Blaine oder so was?«
Er macht ein beunruhigtes Gesicht. »Ich fürchte,
ich kenne diesen Mr. Blaine nicht, aber ich versichere Ihnen:
Ich bin Mr. Fitzwilliam Darcy.Warum wollen
Sie mir das denn nicht glauben?«
»Aber, wenn das stimmt, wie …?« Ich verstumme. Mir
schwirrt der Kopf. Ich komme mir vor wie ein Hamster in seinem
Rädchen, gefangen in meiner eigenen Verwirrung. Runde um Runde
laufe ich auf der Suche nach Antworten, komme aber kein Stück
voran. Ich massiere mir die Nasenwurzel. »Es ergibt einfach keinen
Sinn«, murmele ich kopfschüttelnd.
»Miss Albright?«
Plötzlich nehme ich den Schatten wahr, der auf mich
fällt, fahre auf der Bank herum und erblicke Miss Staene, die neben
uns steht.
»Haben Sie mitbekommen, was ich zu Ihnen gesagt
habe?«
Wie lange steht sie schon da? Ich war so auf Mr.
Darcy fixiert, dass ich sie nicht habe kommen hören. Ich wende mich
wieder Mr. Darcy zu, um ihm zu erklären -
Doch die Bank neben mir ist leer …
»Ich habe gesagt, dass wir jeden Augenblick
abfahren.Wenn Sie sich nicht beeilen, verpassen Sie die
Gelegenheit, einen unserer wichtigsten Literaturschauplätze zu
besuchen …«
Wo ist er hin?, frage ich
mich zutiefst enttäuscht. Mit klopfendem Herzen streiche ich mit
der Hand über den Platz neben mir. Die Stelle, an der er gesessen
hat, ist immer noch warm. Ich kann ihn mir nicht nur eingebildet
haben. Und doch – ich lege mir die Hände um den Hals – ist sein
Schal auch nicht mehr da.
»Miss Albright?«
»Ähm … ja, ich komme.«
»Dann, auf geht’s, los, los«, ruft sie munter und
klatscht nachdrücklich in ihre zarten, lederbehandschuhten Hände.
»Ich bin sicher, Sie werden begeistert von den Glasmalereien sein.«
Sie mustert mich argwöhnisch.
»Alles in Ordnung?«
»Äh … ja, mir war nur ein wenig schwindlig, aber
jetzt ist alles wieder in Ordnung …«, antworte ich und versuche, so
ruhig wie möglich zu klingen. Ich massiere meine schmerzenden
Schläfen.Wir haben es nicht einmal geschafft, uns für ein nächstes
Mal zu verabreden. Mit zittrigen Beinen stehe ich auf. Sofern er
überhaupt real war.
»Verzeihen Sie, wenn ich indiskret bin, aber ich
habe mitbekommen, dass Sie gestern Abend den Pub im Ort aufgesucht
haben?«
Meine Güte, was ist denn nur mit allen los? Ich bin
so was wie das Gesprächsthema Nummer eins der Reisegruppe.
»Stimmt, ich bin mit Maeve losgezogen. Wir beiden
Single-Mädels«, erkläre ich scherzhaft.
Wenn ich erwartet hatte, dass sie das missbilligt,
habe ich mich geirrt. »Wie schön. Freundschaft ist gewiss der beste
Balsam gegen Herzeleid«, sagt sie weise, ehe sie sich vertraulich
zu mir herüberbeugt. »Ich würde dennoch dazu raten, sich in Zukunft
vom Cider fernzuhalten.«
Oh mein Gott, wer hat ihr das erzählt? »Also, auf,
auf. Sind Sie fertig?«, bellt sie. Therapiestunde beendet.
»Ja, natürlich.« Ich sauge die frische Luft tief in
meine Lungen, schiebe die Hände in die Taschen und wende mich zum
Gehen. »Oh sehen Sie nur«, ruft Miss Staene und zeigt auf etwas,
das halb verdeckt im Gras unter der Bank liegt.
»Was ist das?«
»Er muss seinen Schal fallen gelassen haben«,
bemerkt sie beiläufig, bevor sie mit energischen Schritten auf die
Kathedrale zustrebt.
Ich lausche dem Rhythmus ihrer Schritte auf dem
Kies und bücke mich, um ihn aufzuheben. Also
habe ich mir all das doch nicht nur eingebildet. Schmetterlinge
flattern in meinem Bauch, als ich meine Nase hineindrücke. Er
riecht genau wie er. Dieselbe unverwechselbare Mischung aus Eau de
Cologne und Rasiercreme. Schnell stopfe ich den Schal in meine
Manteltasche und haste hinter meiner Reiseleiterin her. Erst da
fällt mir etwas auf. Moment mal.
»Miss Staene -«
Miss Staene, die gerade durch das Portal treten
will, dreht sich um. »Ja?«
»Sie sagten gerade, er muss seinen Schal fallen
gelassen haben.«
Sie blickt mich mit vollkommen ausdrucksloser Miene
an. Eine Sekunde lang hätte ich schwören können,Verunsicherung in
ihren Augen aufblitzen zu sehen, ein Aufflackern von etwas, doch da
ist es auch schon wieder vorbei. Sie schiebt mich in die
Kathedrale.
»Habe ich das? Ein Versprecher, wie dumm von mir«,
erklärt sie leichthin. »Ich meinte natürlich Sie.« Und ohne weitere Umschweife drückt sie mir
eine Broschüre in die Hand und verfällt in ihren
Reiseleiter-Singsang. »Direkt vor Ihnen können Sie das
beeindruckende gotische Kirchenschiff sehen...«