Fünf
Ich muss eingenickt sein, denn mit einem Mal
schrecke ich hoch und stelle fest, dass wir den Freeway –
Entschuldigung, Korrektur: den Motorway – verlassen haben und uns
jetzt auf den engsten Straßen, die ich je gesehen habe, durch das
ländliche Hampshire winden.Vor dem Fenster fliegen Hecken vorbei,
ein leuchtender Streifen Grün vor der gleichförmig grauen
Endlosigkeit des Himmels. Es nieselt immer noch, und Regentropfen
perlen an den Fensterscheiben hinunter, so dass alles wie ein
zerlaufenes Bild aus Wasserfarben aussieht.
»Dies ist eine Landschaft, wie sie auch Jane Austen
in ihrer Jugend gekannt haben dürfte...«, dringt die Stimme unserer
Reiseleiterin durchs Mikrofon. »... und die in so vielen ihrer
Romane eine wichtige Rolle spielt …«
Die Reisenden unterbrechen ihre Tätigkeit und sehen
aus den Fenstern.Wir fahren in ein kleines Dorf. Reihen kleiner
roter Ziegelhäuschen säumen die schmalen Straßen, deren
Sprossenfenster glitzern. Gespannte Vorfreude keimt bei ihrem
Anblick in mir auf. Es ist genau, wie ich es mir vorgestellt habe.
Dort drüben ist sogar eine Dorfwiese mit einem Ententeich, mit
echten Enten und allem, was dazugehört.
Ich sehe, wie sie zufrieden auf dem Wasser
schaukeln, die Schnäbel ins Wasser tauchen und ihre gefiederten
Hinterteile in die Luft strecken. Ich muss lächeln. Sie erinnern
mich an die Tiere im Central Park. Enten, so scheint es, recken
gern ihre Hinterteile in die Luft, egal ob es englische oder
amerikanische Enten sind.
Doch sie liegen bereits wieder hinter uns, und als
wir um eine enge Kurve biegen, erblicke ich einen richtigen
englischen Pub. Wow, ist das ein echtes Reetdach? Und steht auf
diesem Schild tatsächlich ›Ye Olde‹ irgendwas?
Ungläubig presse ich die Nase gegen die
Fensterscheibe. Ich komme mir vor, als wäre ich eingeschlafen und
in der Ära vor 200 Jahren wieder aufgewacht. Weit und breit gibt es
keinen Mac-Store oder eine Starbuck’s-Filiale. Nichts als
Kopfsteinpflasterstraßen, eine Dorfkirche und echte Kamine, wie ich
bewundernd feststelle, als ich Rauch aus einem von ihnen aufsteigen
sehe. Es ist wirklich wie auf einem Filmset. Kaum zu glauben, dass
das keine Fassade für Touristen ist, die zusammengeklappt und
wieder eingepackt wird, kaum dass der Bus daran vorbeigefahren
ist.
»Und jetzt Ladies und Gentleman …« Miss Staenes Stimme unterbricht meine
Tagträume.
Gentleman? Wohl kaum, denke ich, als mir die
Obszönitäten wieder einfallen, die dieser ›Gentleman‹ vorhin von
sich gegeben hat. Ich sehe über die Schulter zu besagtem Missetäter
hinüber. Er hat den Mund zu einem Gähnen aufgerissen, als er meinen
Blick auffängt und mir die Zunge herausstreckt.
Wie alt ist dieser Kerl? Fünf?
Verärgert tue ich so, als würde ich auf etwas
hinter ihm sehen, doch da er in der letzten Reihe sitzt, ist hinter
ihm nur noch die Toilette. Ich bin geliefert. Trotzdem bin ich viel
zu stolz, um ihn glauben zu lassen, er hätte mich erwischt, also
fixiere ich weiter das grüne ›Frei‹-Schild, als wäre es das
Spannendste, was mir jemals untergekommen ist, bis Miss Staene mich
rettet. »… und hier ist das Old Priory, wo wir für zwei Nächte
bleiben werden, bevor wir unsere Reise nach Bath fortsetzen.«
Dankbar drehe ich mich wieder zu der Aussicht aus
dem Fenster um und -
Heiliges Kanonenrohr.
Als wir links durch imposante schmiedeeiserne
Torflügel einbiegen, ertönt jenes köstliche Geräusch von Kies unter
den Reifen, während wir die breite, geschwungene Zufahrt
entlangfahren. Allein das sorgt dafür, dass ich vor Aufregung
beinahe platze. Schon anhand der Einfahrt kann man sagen, ob man
sich irgendwo wohlfühlen wird oder nicht, finde ich. Und ich werde dieses Hotel lieben.
Das Hotelgebäude thront groß, ausladend und
wunderschön über der Auffahrt, als sei es geradewegs den Seiten von
Stolz und Vorurteil entsprungen – so habe
ich mir Netherfield Park, das Heim von Mr. Bingley, immer
vorgestellt.Voller Ehrfurcht bewundere ich den Anblick. Inmitten
einer herrlichen Gartenanlage, mit efeubedeckten Mauern, einem
imposanten Eingang und zahlreichen Nebengebäuden entspricht es
nicht nur meiner Vorstellung, sondern übertrifft sie sogar
noch.
Der Bus hält vor dem Hotel, und die nächste halbe
Stunde bringen wir damit zu, auszusteigen, unser Gepäck
einzusammeln und einzuchecken, während Miss Staene mit ihrem
Klemmbrett wie ein Tweed-Schmetterling um uns herumflattert. Von
innen ist das Hotel noch viel spektakulärer: eine holzgetäfelte
Eingangshalle, eine geschwungene Treppe, Bilder mit Jagdszenen und
Porträts verblichener Vorfahren, Fußböden aus Steinfliesen … Alles
verströmt die Aura von Geschichte.
»Sie haben Zimmer 28«, informiert mich Miss Staene,
als sie wenige Minuten später hinter dem Empfangstresen steht.
Hinter ihr befindet sich ein großes Brett, an dem die verschieden
nummerierten Zimmerschlüssel hängen. Sie händigt mir den
Messingschlüssel aus, ohne George, den Hoteldirektor, der scheinbar
völlig überflüssig neben ihr steht, zu beachten, und streicht mich
von ihrer Liste.
»Es befindet sich im zweiten Stock«, erklärt George
schüchtern. »Auf der rechten Seite und dann ganz am Ende des
Flurs.«
»Toll, danke.« Ich nicke und lege die Hand um den
Griff an meinem Rollkoffer. »Wo geht’s zum Aufzug?«
Stille.
»Zum Aufzug?«, wiederholt George und fingert
unsicher an seinen Manschettenknöpfen herum. Ich registriere einige
Blicke und kapiere.
Gott, Emily, sei nicht so begriffsstutzig.
Natürlich gibt es hier keinen Aufzug. Dieses Haus ist mehrere
hundert Jahre alt!
Gerade als ich etwas sagen will, höre ich ein
abschätziges Schnauben hinter mir. »Amerikanerin, was?«
Ich erstarre. Ich weiß sofort, wer dieser Jemand
ist, noch bevor ich herumfahre und ihn gegen den Empfangstresen
gelehnt dastehen sehe, Arme verschränkt, ein Streichholz zwischen
den Zähnen: Mr. Arschloch. Ich starre ihn herausfordernd an.
»Haben Sie ein Problem damit?«, frage ich und
bemühe mich, möglichst arrogant und selbstbewusst zu wirken und
nicht wie der Dummkopf, als der ich mich in Wirklichkeit fühle.
Unglücklicherweise spielt meine Stimme nicht mit und verrät mich
durch ihren schrillen Klang. Ich höre mich eher weinerlich als
lässig an. Ich spüre, wie mein Gesicht knallrot anläuft, und
umklammere den Griff meines Koffers so fest, dass sich meine
Fingernägel in meine Handfläche bohren.
Aber Mr. Arschloch reagiert nicht. Stattdessen
starrt er mich unter seinen schweren Lidern hervor an und verzieht
belustigt das Gesicht. »Nein«, antwortet er beiläufig und nimmt das
Streichholz aus dem Mund. Er rollt es einen Moment lang zwischen
den Fingern hin und her und betrachtet es eingehend, ehe sich sein
Blick wieder auf mich richtet. »Aber es sieht ganz so aus, als
hätten Sie eins.« Seine Mundwinkel heben sich in selbstgefälliger
Erheiterung.
»Ach?« Ich erwidere sein Lächeln mit so viel
Sarkasmus, wie ich nur aufbringen kann. »Und das wäre?«
Abgesehen von dir, du
arroganter kleiner Scheißkerl.
Wir starren einander an. Plötzlich fällt mir auf,
dass es um uns herum sehr still geworden ist. Alle haben
innegehalten und beobachten uns wie Zuschauer bei einem
Boxkampf.
Ding, ding. Runde
zwei.
»Wir sind hier nicht bei Macy’s, ja?«, erklärt er
grinsend.
»Was Sie nicht sagen«, gebe ich trocken
zurück.
»Dieses Gebäude ist 450 Jahre alt.«
»Das weiß ich.«
»Und Sie wollen den Aufzug nehmen?«
Meine Wangen stehen in Flammen. »Natürlich nicht.
Ich habe nicht daran gedacht. Ich leide ein wenig unter Jetlag, das
ist …«
»Vielleicht hätten Sie stattdessen lieber nach dem
Treppenlift fragen sollen«, unterbricht er mich mit einem Blitzen
in seinen blassblauen Augen.
»Danke, aber das wird nicht nötig sein«, erwidere
ich steif, schnappe meinen Koffer, haste zur Treppe und beginne,
ihn die Stufen hochzuhieven. George eilt mir zu Hilfe. »Aber, Miss,
lassen Sie mich das doch machen, das ist doch kein Problem …«
»Es geht schon, wirklich, kein Problem«, beharre
ich und umfasse das Geländer, sorgsam darauf bedacht, nicht zu
stöhnen, während ich ihn hinter mir herzerre. Meine Güte, dieses
Ding muss eine Tonne wiegen.Was zum Teufel ist nur da drin?
Dieser hässliche schwarze Pullover, den du
niemals tragen wirst. Ich verfluche den schwarzen Pullover.
Zack, rumpel, zack. An allem ist nur dieser schwarze Pullover
schuld. Wäre der schwarze Pullover nicht, hätte ich nicht einmal
daran gedacht, den Aufzug zu nehmen.
Zack, rumpel, zack! Aua!
Als die Kante des Koffers gegen mein Bein prallt,
zucke ich vor Schmerz zusammen und beuge mich vor, um mir das
Schienbein zu reiben. Doch als ich aus dem Augenwinkel einen Blick
auf Mr. Arschloch erhasche, reiße ich mich eilig zusammen und
erklimme weiter die Treppe – bis ich endlich oben bin, meinen
Koffer auf den Treppenabsatz wuchten kann und den Flur
entlangstürme.
Der Lunch wird im elisabethanischen Esszimmer
serviert, also mache ich mich in meinem Zimmer kurz frisch. Es ist
dunkel und plüschig eingerichtet, mit einem richtigen Himmelbett,
über dem ein Aquarell mit einer Jagdszene hängt (die scheinen hier
sehr beliebt zu sein), und in der Ecke steht ein riesiger alter
Kleiderschrank.
Das ist ein kleiner Schock für mich, da ich mein
ganzes Leben mit Birkenfurnier made by IKEA zugebracht habe. Echte
Möbel! Und zwar solche, die aussehen, als gehörten sie in ein
Museum. Staunend streiche ich mit der flachen Hand über die Tür des
Kleiderschrankes und fühle die jahrhundertealte Glätte des
Holzes.
Das Läuten meines Handys reißt mich aus meinen
Gedanken. Ich schnappe meine Tasche vom Bett und wühle hektisch
darin herum, um es noch zu finden, bevor es aufhört zu klingeln.
Das kann nur eine sein.
»Buenos Dias.«
»Stella!«, rufe ich. Unabhängig, leidenschaftlich
und all das zu sein, ist ja wunderbar, aber es gibt nichts
Schöneres als einen Anruf von der besten Freundin, wenn man sich in
einer fremden Umgebung befindet. »Wie schön, von dir zu hören. Was
treibst du so?«
»Ich betrinke mich«, erwidert sie lachend über das
Knistern der Leitung hinweg. »Hier ist es früher Morgen, aber ich
schaffe es, mich mit Hilfe von Tequila wach zu halten.« Sie hält
inne und nimmt geräuschvoll einen Schluck, während ich im
Hintergrund die pulsierende Mischung aus Musik und Gelächter hören
kann. »Und wie ist es?«
»Klasse«, antworte ich begeistert und versuche,
nicht an meinen Zusammenstoß mit dem Engländer zu denken. »Wie
läuft es bei dir?«
»Super. Weißer Sand, 26 Grad, viele Männer und die
besten Margaritas der Welt. Das ist mein … äh, ich habe aufgehört
mitzuzählen.« Sie lacht. »Los, erzähl. Was läuft bei euch da
drüben?«
»Also, wir sind gerade in diesem unglaublich tollen
Hotel angekommen …« – ich spähe aus dem Fenster, und mir stockt der
Atem – »das mitten in einer absolut atemberaubenden Landschaft
liegt...« Während ich spreche, blicke ich auf die weite, flache
Landschaft mit den vereinzelt grasenden Schafen und den
Steinmauern. Sie sieht wie ein riesiges Schachbrett aus.
»Mhmm, ja?«
»Und überall stehen wahnsinnig alte, antike Möbel
…« Ich lasse mich auf die geblümte Daunendecke fallen und stütze
mich auf die Ellbogen.
»Mhmm, ja?«
Mir fällt auf, dass Stella nicht zuhört. Antikes
Mobiliar steht im Moment wohl nicht ganz oben auf der Liste ihrer
Interessen. Wenn überhaupt jemals. »Hier ist gleich
Mittagessenszeit. Wir werden einen Happen essen, und heute
Nachmittag gibt es eine kleine Besichtigungstour«, fahre ich
fort.
»Und? Hast du schon deinen Mr. Darcy getroffen?«,
neckt sie.
»Ha, ha, sehr witzig.« Ich lehne mich über den
Bettrand, ziehe meinen Waschbeutel heraus und gebe etwas Deo unter
meine Achseln. »Nein, stattdessen habe ich ein Arschloch kennen
gelernt.«
»Ist er attraktiv?«
»Er ist eine Nervensäge.«
»Aber attraktiv?« Sie lässt nicht locker.
Ich stelle ihn mir kurz vor, mit seinem alten
Cordjackett, dem verkehrt zusammengeknöpften Hemd, unter dem sich
unter Garantie Rettungsringe verbergen, und sein wirres Haar, dem
ein anständiger Schnitt fehlt.
»Nein, du würdest ihn definitiv nicht als attraktiv
bezeichnen.«
»Ach so? Dabei sind Arschlöcher normalerweise
attraktiv.« Stella hört sich überrascht an. »Tja, das ist natürlich
schade. Ein Urlaubsflirt hätte lustig werden können.«
»Lustig?« Ich schaudere bei dem Gedanken an
jegliche Art von Flirt mit Mr. Arschloch. »Nein, danke. Außerdem
ist das Thema Männer für mich sowieso erledigt. Ich will diesen
Urlaub dazu verwenden, endlich einmal all das zu lesen, wozu ich
bisher nicht gekommen bin.«
»Ich finde, du solltest für alles offen bleiben.
Nur, weil du ein paar miese Dates hattest …«
»Ein paar?«
»Komm schon, Emily. Genieße den Moment. Hast du
schon Die Kraft des Augenblicks
gelesen?«
Moment mal! Habe ich richtig gehört? In all den
Jahren, die ich Stella kenne, habe ich sie nie mehr lesen sehen als
ihr Horoskop und die Waschanleitung in ihren Klamotten. »Nein, habe
ich nicht. Ist es gut?«, frage ich beeindruckt.
»Na ja, selber gelesen habe ich es zwar nicht …«,
gesteht sie. »Aber ich habe diesen Typen kennen gelernt, der mir
alles darüber erzählt hat. Dass wir aufhören sollen, ständig für
die Zukunft zu planen So brauchen wir nicht enttäuscht zu sein,
wenn es anders kommt.«
»Welcher Typ?«, frage ich misstrauisch. Nicht für
die Zukunft planen und den Augenblick leben – hört sich, aus der
Männersprache übersetzt, nach einem Trick an, um Stella ins Bett zu
kriegen.
»Er heißt Scott«, verkündet sie. »Willst du Hallo
zu ihm sagen?«
»Nein, nicht nötig«, wiegle ich eilig ab. Eines der
Dinge, die ich am meisten hasse, ist, wenn eine Freundin
irgendeinen Kerl, den sie gerade erst aufgegabelt hat, ans Telefon
holen will. Okay, sie hängen in einer schummerigen Bar ab, betäubt
vom Alkohol und männlicher Aufmerksamkeit, und ich verstehe ja, wie
witzig das aus ihrer Perspektive erscheint – okay, in gewisser
Weise -, aber witzig für wen? Für einen selbst garantiert nicht. In
neun von zehn Fällen ist man zu Hause, in seiner alten,
ausgebeulten Jogginghose, und erledigt die Handwäsche. Um es ganz
deutlich zu sagen – man schrubbt den Zwickel mit der Nagelbürste.
Das Letzte, wonach man sich in einem solchen Moment sehnt, ist ein
gekünsteltes, peinliches Gespräch mit einem Fremden, dem man nie
begegnet ist und mit dem man keinerlei Gemeinsamkeiten hat.
Abgesehen von der Freundin, mit der er ins Bett
will.
»Ach komm schon, er steht direkt neben mir …«
»Nein, im Ernst …«
Zu spät. Ich höre, wie das Telefon weitergereicht
wird. Oh nein. Bitte nicht.
»Yo«, meldet sich eine Männerstimme am anderen Ende
der Leitung.
»Oh, hi.« Ich winde mich unbehaglich. »Ich bin
Emily.«
»Scott«, grunzt er.
Es folgt eine peinliche Pause. Fieberhaft denke ich
darüber nach, was ich sagen könnte.
»Äh, und was machst du gerade so, Scott?«,
erkundige ich mich steif. Meine Güte, ich höre mich an wie Stellas
Mutter.
»Party.« Heiseres Lachen dringt durch die
Leitung.
Ich halte durch.
»Dann habt ihr wohl eine Menge Spaß?«
Oh Mann, wieso gehe ich nicht in die Vollen und
hänge noch ein »Mein Lieber« dran?
»Yeah, ist total abgefahren hier, und deine
Freundin Stella rockt tierisch.«
Okay, ich werde mir kein Urteil dazu erlauben.
Abgefahren und rocken sind einwandfreie Adjektive.
»Junge, wie die abgeht«, brüllt er.
Ich nehme alles zurück. Ich erlaube mir doch ein
Urteil. Und Scott wird schuldig gesprochen, ein Vollidiot zu
sein.
»Äh, gibst du mir noch mal Stella«, bitte ich. Ich
muss laut schreien, weil er mittlerweile angefangen hat, wie ein
Hund zu jaulen. Dankenswerterweise höre ich ein Rascheln und dann
-
»Em?«
Es ist Stella. Einerseits bin ich erleichtert,
andererseits weiß ich, was als Nächstes kommen wird: die
Bewertung.
»Und? Was denkst du?«, flüstert sie.
»Schwer zu sagen, nur vom Telefon her …«
»Er ist wahnsinnig erfolgreich. Er hat eine eigene
Werbeagentur«, vertraut sie mir an. »Und er sieht super aus.«
»Da bin ich mir sicher.« Wer tut das nicht nach
einer Nacht voller Margaritas? Nach so einer Sauftour habe ich auf
der Damentoilette sogar einmal mein eigenes Spiegelbild
geküsst.
»Und er ist wahnsinnig witzig, Emily. Völlig
verrückt, und bringt mich dauernd zum Lachen. Ich habe das Gefühl,
uns verbindet schon etwas …«
Oh je, das klingt gefährlich. Ich versuche, sie in
die Realität zurückzuholen. »Und hast du etwas von Freddy gehört?«,
frage ich hoffnungsvoll.
»Ja, er hat mir ungefähr zehn SMS geschickt, in
denen er mich fragt, ob ich gut angekommen bin, wie das Hotel ist,
ob es mir gut geht …«
»Wie süß von ihm. Du hast ja solches Glück. Freddy
sorgt sich wirklich um dich.«
»Ich wünschte nur, er würde mich nicht wahnsinnig
damit machen«, grummelt Stella. »Ich wünschte, er würde mich
einfach in Ruhe meinen Urlaub genießen lassen.«
»Das sagst du jetzt, aber ich wette, du würdest ihn
vermissen, wenn er es wirklich täte.«
»Darauf würde ich nicht wetten.«
»Okay, wie du meinst. Aber pass auf, was du dir
wünschst …«
Meine Warnung geht in trunkenem Kichern unter. Ich
bin verärgert. Hat sie auch nur ein Wort von dem mitbekommen, was
ich gesagt habe? Ich lausche einen Moment lang. Großer Gott, nein.
Was ich da höre, sind nicht etwa Stella und Scott beim Knutschen,
oder? »Äh, Stella …«
»Mmmh, ja«, erwidert sie geistesabwesend.
Oh mein Gott. Jetzt küssen sie sich
definitiv.
»Vielleicht sollten wir später weiterreden.«
»Klar.Viel Spaß in deinem Museum.«
Du meine Güte, damit stehe ich endgültig wie ein
Trottel da.
»Es ist nicht wirklich ein Museum, sondern der Ort,
an dem Jane Austen...«, fange ich an, unterbreche mich jedoch, als
ich etwas höre, das klingt, als würde Stella am anderen Ende der
Leitung stöhnen. Oh, mein Gott. Es ist, als hätte ich irgendeine
Telefonsex-Hotline angerufen. »Okay, gut... äh … pass auf dich
auf.«
»Mmmmmm, ja … bis dann …«
Erleichtert lege ich auf und sehe auf die Uhr. Ich
bin spät dran, wie üblich, und während ich noch etwas Lipgloss
auftrage, nehme ich meinen Mantel und hänge mir meine alte
Handtasche über die Schulter. Ich ziehe den Kopf ein, um mich nicht
am niedrigen Türrahmen zu stoßen, und trete auf den dunklen Flur.
Als ich auf dem oberen Treppenabsatz einen Blick auf mein
Spiegelbild erhasche, bleibe ich stehen. Mein Haar hängt schlaff
herunter, und die Spitzen haben sich dank meines Schals statisch
aufgeladen. Ich puste sie mir aus dem Gesicht, doch sie kleben
sofort wieder an.
Ich verziehe das Gesicht. Manchmal hasse ich es,
lange Haare zu haben. All dieser Ärger mit dem Auskämmen von
Knötchen unter der Dusche, die den Abfluss verstopfen, sodass man
sie mit den Fingern wieder herausfummeln muss. Ganz zu schweigen
von den Unsummen, die Pflegespülungen, Seren und Kuren
verschlingen; ich schwöre, ich habe ein ganzes Regal voll, trotzdem
sieht mein Haar noch genauso aus wie immer: schulterlang,
dunkelbraun und mit so vielen gespaltenen Spitzen, dass jeder
Stylist den Kopf schüttelt wie ein Metronom. Um ehrlich zu sein,
ich weiß nicht, warum ich sie nicht längst radikal abgeschnitten
habe. Aber wenn ich jetzt darüber nachdenke, weiß ich es
wieder.
Zwei Worte:
Sienna und Miller.
Nicht dass es irgendeine Rolle spielen würde, wie
mein Haar aussieht. Keineswegs. Hier kennt mich niemand, deswegen
brauche ich mir auch kein Bein auszureißen. Allerdings würde es
wohl auch nicht schaden, wenn ich meinen Kopf nach vorn beugen und
mit den Fingern ein bisschen Volumen hineinzaubern würde, ehe ich
es zurückwerfe und -
»Äh, entschuldigen Sie«, höre ich eine Stimme
hinter mir, genau in dem Augenblick, als ich mich wieder im Spiegel
sehe. Drei Dinge sehe ich:
1. Mein Haar hat den Lipgloss über mein Gesicht
verschmiert, sodass ich aussehe wie ein Gemälde von Jackson
Pollock.
2. Das Blut ist mir zu Kopf gestiegen. Deshalb
sind die Adern um meine Augen herum hervorgetreten und mein Gesicht
knallrot angelaufen.
3. Mr. Arschloch steht direkt hinter mir.
Großer Gott, wie lange hat der da schon
gestanden?
Zutiefst beschämt, dass er mich dabei erwischt hat,
wie ich mein Haar wie in einer Shampoo-Werbung zurückgeworfen habe,
spüre ich zwei dunkelrot glühende Flecke auf meinen Wangen. Ich
drehe mich herum und reibe mir so lässig, wie ich nur kann, den
Lipgloss von der Wange. »Ja? Kann ich Ihnen irgendwie
helfen?«
Er hat ein Auge zusammengekniffen und massiert sich
den Augenwinkel mit dem Zeigefinger. »Sie könnten damit anfangen,
mir nicht Ihre Haare ins Gesicht zu schleudern«, mault er.
»Oh, Entschuldigung …« Doch bevor ich fortfahren
kann, unterbricht er mich.
»Ja, Sie sollten lieber aufpassen, was Sie tun,
verdammt noch mal. Sie haben mir beinahe das Auge
ausgeschlagen.«
Jetzt werde ich sauer.
»Ach, nur beinahe? Verdammt. Normalerweise ziele
ich recht gut«, rutscht es mir heraus, bevor ich es verhindern
kann. Dieser Kerl ist dermaßen herablassend, dass er es verdient,
es mit gleicher Münze heimgezahlt zu bekommen.
»In diesem Fall bin ich froh, dass Sie nur Ihr Haar
haben und keine Feuerwaffe«, entgegnet er trocken und schlendert
mit klatschenden Schuhbändern davon.
Gut. Dem habe ich es aber gegeben, was?
Einen Augenblick lang sehe ich ihm nach, versuche,
mir eine passende Retourkutsche einfallen zu lassen, dann gebe ich
auf. Stattdessen folge ich ihm missmutig nach unten.