Dreiundzwanzig
Okay, entspann dich, Emily. Entspann dich.
Der Balkon ist leer, und abgesehen von den
gedämpften Klängen des Streichquartetts ist es still und ruhig hier
draußen. Eine willkommene Erleichterung nach dem Lärm und dem
Stimmengewirr im Ballsaal. Ich stelle die beiden Champagnerflöten
auf die Balustrade, breite die Arme weit aus, lege die
Fingerspitzen auf den kalten Stein und starre hinaus in die
Dunkelheit.
Ich hole tief Luft.
Ich schäume immer noch vor Wut über Spike.Vom
ersten Moment an, als ich ihn gesehen habe, hatte ich Recht. Er ist
ein absoluter Mistkerl.Wie er sich Ernie gegenüber verhalten hat,
ist einfach widerwärtig. Genauso wie die Tatsache, dass er Maeve
Lügen über ihn erzählt hat.
Ganz zu schweigen davon, mir sein Glas in die Hand
zu drücken und einfach ans Telefon zu gehen, ohne mich weiter zu
beachten.
Ich lasse den Atem entweichen, sehe ihn in dicken,
weißen Wolken ausströmen. Es ist eiskalt hier draußen, und ich
zittere bereits wie Espenlaub in meinem dünnen Kleid, aber ich bin
viel zu wütend, um wieder hineinzugehen. Es gibt Zeiten, in denen
ich mir wünsche, ich würde rauchen. Denn genau das ist es doch, was
die Leute im Film tun, wenn sie wirklich sauer sind, oder? Sie
ziehen heftig an ihren Zigaretten, und es scheint ihnen gut zu
tun.
Schallendes Gelächter dringt an mein Ohr. Ich sehe
hoch und entdecke ein Grüppchen junger Leute, die sich ebenfalls
nach draußen gestohlen haben. Sie drängen sich am anderen Ende des
Balkons zusammen und lachen über irgendwelche Scherze. Doch was
mich am meisten interessiert, ist, dass einer von ihnen zu rauchen
scheint.
Angetrieben von meinem Unmut und den diversen
Gläsern Champagner, die ich im Lauf des Abends konsumiert habe,
schlendere ich zu ihnen hinüber.
»Äh, Entschuldigung -«
Sie drehen sich zu mir um. Aus der Nähe sehe ich,
dass sie noch sehr jung sind, höchstens Anfang zwanzig: drei
schlaksige Jungs und zwei Mädchen mit zueinander passenden
Federboas. Sie haben eine Flasche Moët dabei, deren Goldfolie im
Mondlicht schimmert, während sie die Flasche herumgehen lassen. Ich
sehe, wie jeder von ihnen einen Schluck direkt aus der Flasche
nimmt. Sie erinnern mich an mich, als ich noch auf dem College
war.
»Hi, ich dachte, vielleicht könnte ich eine
Zigarette schnorren?«, sage ich, ehe ich den klassischen Satz aller
Nichtraucher hinzufüge: »Eigentlich habe ich ja längst aufgehört,
aber hey -«
»Sind Sie Amerikanerin?«, fragt einer der Jungs
leicht nuschelnd. Mit seinen langen Ponyfransen und dem dümmlichen
Grinsen hätte ich ihn von seinen Kumpels kaum unterscheiden können,
hätte er nicht eine Krawatte mit schwarzweißem Zebramuster um den
Hals gehabt.
»Äh, ja«, antworte ich und lasse wie zum Beweis
mein Lächeln aufblitzen, für das meine Eltern 20 000 Dollar an
verschiedene Kieferorthopäden bezahlt haben.
»Und Sie wollen was zum Durchziehen haben?«, grinst
mich einer der anderen Jungs an, dessen Krawatte aus der britischen
Fahne geschneidert zu sein scheint.
Das muss in Großbritannien etwas vollkommen anderes
bedeuten als bei uns. »Äh...«, stammele ich, doch mir bleibt eine
Antwort erspart, da die Jungs in hysterisches Gelächter ausbrechen
und sich vor Vergnügen auf die Schenkel klopfen.
Ich bin leicht bestürzt. Wow, das nenne ich gut
gelaunt.
»Halt den Mund, Henry«, schimpft eines der Mädchen
und schubst ihn, ehe sie mich anlächelt. »Beachten Sie ihn einfach
nicht, er ist ein Idiot«, erklärt sie und nimmt einen langen Zug
aus ihrer selbstgedrehten Zigarette. Ein durchdringender Geruch
steigt mir in die Nase, bei dem es sich eindeutig nicht um Tabak
handelt.
Und was sie in der Hand hält, ist auch keine selbst
gedrehte Zigarette, sondern ein Joint, wie ich nun bemerke.
Oh Gott, ich bin der letzte Volltrottel, denke ich,
während ich mich im Geiste ohrfeige. Kein Wunder, dass sich diese
Kids halb totlachen. Sie sind völlig breit.
»Ja, tut mir leid, war nicht böse gemeint«, erklärt
Henry, grinst mich verlegen an und nimmt einen großzügigen Schluck
aus der Champagnerflasche.
»Wollen Sie auch was?« Das Mädchen hält mir den
Joint hin.
Wenn ich bedenke, dass ich bei meinem letzten Joint
noch auf dem College war und mich anschließend auf dem Rücksitz von
Johnny Rosenbaums Golf übergeben habe (was schon peinlich genug
war, aber, um es noch schlimmer zu machen, hatten Johnny und ich
auch noch Sex dabei), sollte ich wahrscheinlich lieber Nein
sagen.
Andererseits wäre es bestimmt lustig, ein bisschen
high zu werden, oder?
»Danke, gern.« Lächelnd strecke ich die Hand
aus.
Außerdem muss ich mich entspannen, wie
gesagt.
Ist Ihnen schon mal aufgefallen, wie schön die
Sterne sind? Sie blinken und glitzern wie Millionen kleiner
Diamanten auf einem dicken, dicken, dicken, ganz dicken Kissen aus
schwarzem Samt … eine Million himmlischer Verlobungsringe, die sich
bis in die Unendlichkeit erstrecken … auf immer und ewig und ewig …
wow, das ist so romantisch …
Das Grüppchen ist wieder nach drinnen gegangen,
während ich mit auf die Balustrade gestützten Ellbogen dastehe und
in den Himmel starre. Keine Ahnung, wie lange ich schon hier stehe,
zehn Minuten, eine halbe Stunde vielleicht, aber was soll’s? Es
ist, als befände ich mich inmitten dieser warmen, weichen Blase,
die zu schweben scheint … Mir ist nicht mal mehr kalt. Alles, worum
sich meine Gedanken drehen, ist dieser endlose, wunderschöne
schwarze Himmel. Ich schwöre, ich kann mich nicht erinnern, jemals
so beeindruckt gewesen zu sein. Ich bin restlos in seinen Bann
geschlagen...
Außerdem bin ich natürlich breit wie eine
Axt.
Zufrieden vor mich hinlächelnd, nippe ich an meinem
Champagner. Dieser Joint kam gerade recht. Mir ist nicht schlecht
oder so, ich bin nur völlig entspannt – oder stoned, je nachdem, wie man es betrachten will -,
weshalb es vielleicht an der Zeit sein könnte, wieder hineinzugehen
und mich in die Party zu stürzen. Und falls ich Spike über den Weg
laufe – na und? Ich muss schließlich nicht mit ihm reden. Ich werde
einfach völlig cool sein und ihn ignorieren, so wie er es mit mir
gemacht hat. Schließlich bin ich nicht nachtragend oder so was,
sondern, wie gesagt, vollkommen entspannt. Und nachdem ich mein
Glas ausgetrunken habe, nehme ich mir das nächste und wende mich
zum Gehen.
Und laufe geradewegs Mr. Darcy in die Arme.
»Scheiße.« Beide Gläser noch immer in der Hand
haltend, pralle ich gegen ihn und verschütte prompt den
Champagner.
Verwirrt sieht er mich an. »Emily?«
»Meine Güte, tut mir leid, ich hatte die Hände voll
und nicht gesehen, dass Sie da standen und -«, blubbere ich. Wo Mr.
Darcy hier steht. Auf dem Balkon. Direkt vor
mir.
Verdammt!
In weniger als einer Sekunde springt mein
Gemütszustand von ›entspannt‹ auf ›Alarmstufe Rot‹.
»… ähm … Hi«, presse ich gerade noch krächzend
hervor, während ich um meine Fassung ringe und mein Magen alle
erdenklichen Arten von akrobatischen Kunststückchen zu vollführen
beginnt.
»Guten Abend.« Höflich neigt er den Kopf.
Als er ihn wieder hebt und wir einander in die
Augen sehen, ist es, als schmelze die ganze Welt um mich herum in
der kalten Abendluft dahin.
»Störe ich?«
Als ich wieder ins Hier und Jetzt zurückkehre,
bemerke ich, dass er stirnrunzelnd die beiden Champagnergläser in
meinen Händen ansieht.
»Äh nein … nein, ganz und gar nicht.« Eilig stelle
ich die Gläser ab. »Ich war nur ein bisschen, äh, durstig«, erkläre
ich leichthin, als ich mich ihm wieder zuwende.
Das Problem ist nur, dass die Bewegung eine Spur zu
schnell war, sodass sich alles zu drehen beginnt. Oh nein. Das Bild
von mir, wie ich mich auf dem Rücksitz des VW-Golf übergebe,
schiebt sich vor mein geistiges Auge, und nackte Angst ergreift
mich. Nein. Bitte, lieber Gott. Nein. Alles, nur das nicht. Ich
taste nach der Balustrade, um mein Gleichgewicht wiederzuerlangen,
und als ich aufschaue, sehe ich Mr. Darcy auf mich
zuschreiten.
Alles erstarrt.
Heutzutage schreiten Männer nicht mehr. Sie
schlurfen oder schlendern wie Spike, die Hände tief in den Taschen
ihrer Hosen vergraben, mit hängenden Schultern und schleifenden
Füßen. Doch nicht Mr. Darcy. Jetzt starre ich ihn an, und es ist,
als laufe ein Film in Zeitlupe vor mir ab. Den Brustkorb gereckt,
das Kinn erhoben, die Kiefermuskulatur entschieden gespannt – wenn
Sie im Lexikon unter ›schneidig‹ nachschlagen, werden Sie Mr.
Darcys Bild finden, jede Wette.
Unwillkürlich erfasst ein leiser, lustvoller
Schauder meinen Körper. Und wo Sie das Wörterbuch schon einmal in
der Hand haben, können Sie auch gleich unter ›hingerissen‹
nachschlagen – dort sehen Sie dann mich.
Etwa einen Meter vor mir bleibt er stehen und
schaut mich durchdringend an. Im Gegensatz zur Mehrzahl meiner
Dates, die keine Ahnung davon haben, was Intimsphäre bedeutet,
wahrt Mr. Darcy respektvoll Distanz.
»Ich habe nach Ihnen gesucht«, sagt er mit ernster
Miene.
»Wirklich?«, presse ich mit Fistelstimme
hervor.
Okay, ich bin wirklich sehr aufgeregt über sein
Erscheinen, aber zu klingen, als hätte ich einen Ballon voll Helium
inhaliert, ist weder cool noch sexy. Und ich möchte unbedingt
beides sein.
Ich räuspere mich. »Wirklich?«, sage ich noch
einmal und zwinge meine Stimme, einige Oktaven tiefer zu
klingen.
»Ich wollte Ihnen sagen, dass ich Ihre Gesellschaft
gestern Abend sehr genossen habe.«
»Ich auch«, erwidere ich nickend und spüre, wie ich
rot anlaufe.
Oh Gott, das ist ja wohl die Untertreibung des
Jahres.
Ich warte, dass er etwas sagt, doch er tut es
nicht, und was als Gesprächspause begonnen hat, beginnt sich nun zu
ziehen. Schätzungsweise sollte ich jetzt etwas sagen, aber mein
Gehirn ist wie leergefegt, also starre ich ihn einfach nur an und
frage mich, wie lange es dauern wird, bis wir es endlich tun.
Emily Albright! Was hast du da
gerade gesagt?
Oh Gott, das hatte ich völlig vergessen, aber
inzwischen weiß ich wieder, wie es dazu kam, dass ich auf dem
Rücksitz von Johnnys Golfs gelandet bin.Wenn ich Marihuana rauche,
werde ich absolut scharf.
»Und, wie finden Sie den Ball?«
Endlich sagt er was.
»Ach, na ja«, erwidere ich vage, während ich
versuche, meine Gedanken von der tobenden Lust in meinem Leib
abzulenken.
»Haben Sie getanzt?«, fährt er fort.
Ich denke an Barry und Spike. »Ich weiß nicht, ob
man das tanzen nennen kann«, antworte ich
mit einem wehmütigen Lächeln.
Doch Mr. Darcy lächelt nicht, sondern seine Miene
bleibt ernst. »Ich befürchtete schon, ich müsste Sie, weil ich so
spät gekommen bin, jemand anderem entführen.«
Meine Gedanken wandern zu Spike mit seinem
Blackberry. Mich entführen? Spike hätte es
nicht einmal bemerkt, wenn ich direkt unter seiner Nase gefesselt
und gewaltsam weggezerrt worden wäre. »Machen Sie sich keine
Sorgen. Ich gehöre ganz Ihnen«, scherze ich.
Mr. Darcy sieht leicht verdutzt aus.
»Tatsächlich?«, fragt er, und mir geht auf, dass er das wörtlich
genommen hat.
»Oh, nein, ist nur eine Redensart«, sage ich
schnell, während mir bewusst wird, wie sich das anhören muss. So
viel zum Thema cool bleiben. »Eine Art Witz«, versuche ich zu
erklären.
»Ich verstehe«, nickt Mr. Darcy, auch wenn ich mir
nicht sicher bin, ob er das wirklich tut. Doch jetzt denke ich
überhaupt nichts mehr, weil seine Augen wie Scheinwerfer über mich
hinweggleiten und mein Herzschlag immer schneller wird.Wow. Zuerst
werde ich unbeachtet stehen gelassen, und nun befinde ich mich im
Mittelpunkt der Aufmerksamkeit eines Mannes. Als könnte er den
Blick gar nicht von mir wenden. Was unglaublich schmeichelhaft ist,
ich bin nur nicht daran gewöhnt.
Aber du könntest dich daran
gewöhnen, Emily.
Wieder verfallen wir beide in Schweigen. Mangels
eines Drinks, an dem ich nippen könnte, beginne ich, an meinen
Haarsträhnen herumzuspielen. »Nun, das ist aber nett«, sage ich
nach einer Weile.
Nett? Habe ich gerade nett
gesagt?
»In der Tat«, bestätigt Mr. Darcy nickend und
starrt mich weiter ernst an.
Das Gespräch gerät erneut ins Stocken, und weil ich
nicht weiß, was ich sagen soll, blicke ich in die nächtliche
Dunkelheit hinaus. Es ist Silvester, und in einiger Entfernung kann
ich kleine Lichter glänzen sehen. Ein Weihnachtsbaum in einem
Erkerfenster in der Ferne, eine Party in einem Haus auf der anderen
Seite des Stadtparks. Ich trommle mit den Fingern auf die
Balustrade. Mann, es ist so ruhig. Ich kann sogar meinen eigenen
Atem hören.
Ich durchforste mein Gehirn nach irgendwas, was ich
sagen könnte, das nicht flapsig klingt. Mit Mr. Darcy würde ich
nicht so herumalbern können wie mit Spike, was so manchen
vielleicht stören würde, mich jedoch überhaupt nicht. Ja, je länger
ich darüber nachdenke, umso mehr komme ich zu der Überzeugung, dass
Humor völlig überschätzt wird. Ich möchte einen richtigen Mann,
keinen Idioten, beschließe ich beim Gedanken an Spike, wie er sich
auf der Tanzfläche lächerlich gemacht hat.
Ich unterdrücke ein Lächeln. Okay, ich gebe zu, es
war wirklich lustig, aber wenn ich mit einem Witzbold zusammen sein
möchte, verabrede ich mich mit einem Comedian.
»Ich liebe diese Zeit des Jahres, Sie nicht?«,
platze ich schließlich heraus, um das Schweigen zu brechen.
Wow, ich hätte nie gedacht, dass es so gut tun
würde, meine eigene Stimme zu hören. In den Büchern klingt es immer
so tiefgründig und romantisch, wenn die Figuren sich stundenlang in
die Augen sehen, ohne etwas zu sagen. In der Realität muss man
schon ein Benediktinermönch sein, um so etwas durchziehen zu
können.
»Es ist zu ertragen«, antwortet er knapp. »Wenn man
Albernheiten und Firlefanz mag.«
»Oh.« Schlagartig fühle ich mich entlarvt. »Ja, es
ist wohl ein bisschen albern«, stimme ich zu, wieder mit dem Bild
von Spike vor Augen, wie er mit seiner Federboa aus Lametta
schwingt. »Aber albern sein kann manchmal auch Spaß machen.«
Mr. Darcy runzelt die Stirn, als hätte er noch nie
davon gehört. »Und? Macht es jetzt gerade Spaß?«
»Natürlich!«, antworte ich übertrieben
fröhlich.
Na ja, ich würde es nicht unbedingt Spaß nennen, was jedoch kaum überraschend ist. Ich
bin viel zu nervös. Und wie gesagt – ich bin schließlich nicht
hier, um Spaß zu haben, denke ich mit einem Blick auf Mr. Darcy.
Eine Woge der Lust überkommt mich angesichts der beherrschten
Leidenschaft, die, wie ich weiß, unter dieser Fassade düsterer
Arroganz schwelt. Ja, ich hätte schwören können, dass ich ihn
gerade dabei ertappt habe, wie er auf mein Dekolleté starrt.
Ich sende Stella ein stilles Dankgebet dafür, dass
sie mir dieses atemberaubende Kleid geschickt hat. Endlich fühle
ich mich einmal sexy statt altbacken und unmodern.
»Möchten Sie meinen Mantel haben?«
Da! Er ist nicht nur der personifizierte Sex,
sondern auch noch ein Kavalier. Ganz im Gegensatz zu Spike, der
einen mitten auf der Tanzfläche stehen lässt.
»Oh, nein danke. Mir ist nicht kalt«, behaupte ich
lächelnd und zeige aufreizend auf meine gänsehautfreien Schultern,
die ich mit leicht glitzerndem Selbstbräuner eingecremt habe.
»Ich bestehe darauf«, sagt er, während er mir den
Mantel um die Schultern legt.
»Nein, im Ernst -«, protestiere ich, doch es ist zu
spät, denn ich versinke bereits in einem schwarzen Gehrock. Leise
Enttäuschung regt sich in mir. Er bedeckt jeden Zentimeter meiner
golden schimmernden Schultern und meine sexy, mit Pailletten
besetzten Spaghettiträger.
»Nur, um ihre Sittsamkeit zu bewahren«, erklärt er.
»Ihr Kleid ist überaus freizügig.«
»Ist es das?«, frage ich. »Oh, tja dann, vielen
Dank.«
Natürlich! Daran hatte ich überhaupt nicht gedacht.
Ich bin an eine Welt mit Jennifer Lopez und Madonna gewöhnt, an
Kleider mit einem Ausschnitt bis zum Bauchnabel, sodass mir mein
Kleid keineswegs freizügig erscheint. Aber schätzungsweise
empfindet Mr. Darcy das etwas anders, schließlich lebt er in einer
Welt, in der sich Frauen züchtig bedecken. Wenn wir zusammenkämen,
müsste ich wahrscheinlich etwas mehr Sittsamkeit an den Tag legen.
Was ein bisschen schade wäre, weil ich ein paar wirklich hübsche
Tops habe, die ich im Sommer gern anziehe.
»Und wie gefällt Ihnen Ihr Aufenthalt in
Bath?«
Meine Brust wird eng. »Oh, es ist so schön hier.
All die Gebäude und die Architektur und der Fluss...«, brabbele ich
nervös.
Wenn ich es mir recht überlege, hänge ich wohl doch
nicht so sehr an diesen Sommertops. Ich mag Stehkragen. Und
Rollkragen. Und Kleidung, die man bis unters Kinn zuknöpfen kann.
Ich liebe hochgeschlossene Kleidung, was
ich gleich hier unter Beweis stellen werde, indem ich diesen Kragen
hochschlage.
»Ah, ja, der Avon.« Ich spüre seinen warmen Atem an
meiner Wange.
Es ist, als würden meine Finger mitten in der
Bewegung ihren Dienst versagen.
Sind eben meine Knie weich geworden?
»Ich habe eine Überraschung für Sie.«
»Ehrlich?« Mein Herz macht einen kleinen Satz. Ich
liebe
Überraschungen.Was kann es wohl sein?
»Wenn Sie gestatten.« Er nickt und reicht mir
seinen Arm.
Ich muss an John, den Architekten, denken, der mir
vor ein paar Wochen die Tür ins Gesicht hat schwingen lassen. Ich
erinnere mich, wie ich allein durch den Schnee nach Hause gestapft
bin, mir den Hintern abgefroren und davon geträumt habe, einen Mann
wie Mr. Darcy kennen zu lernen.
Und jetzt das hier. Staunend werfe ich dem Mann
neben mir einen Blick zu. Dann drücke ich die Löschtaste und tilge
all die lausigen Verabredungen, die ich in der Vergangenheit hinter
mich gebracht habe. Weg, weg, alles entfernen
…
»Vielen Dank, Sir«, sage ich lächelnd.
Ich hake mich bei ihm unter, und einen Augenblick
lang mustert er mein Gesicht, saugen seine Augen meinen Anblick in
sich auf. Dann verzieht sich sein Mund zu einem breiten Lächeln.
»Wollen wir?«
Mein Gott, er ist so souverän.
Und, ja, ich weiß, es ist schockierend
unfeministisch von mir, das unglaublich sexy zu finden.
Es fühlt sich an, als würde ein Käfig voller
Schmetterlinge in meinem Magen freigelassen, und ich nicke
glücklich.
Bitte, tun Sie sich keinen Zwang an: Erschießen Sie
mich.