15. Kapitel

 

Isolde stand am Fenster ihres Krankenzimmers, hatte die Arme vor der Brust verschränkt und beobachtete die Menschen, die auf die gläserne Eingangshalle des Krankenhauses zustrebten, links und rechts von ihnen, wie zum Spießrutenlauf bereit, die Grüppchen der rauchenden Patienten und des nikotinsüchtigen Klinikpersonals. Die Müller kam trotz ihrer Körperfülle lebhaften Schrittes auf den Pavillon zugewatschelt.

Du Ahnungslose, dachte Isolde milde lächelnd. Wenn du wüsstest, dass mir dein Gatte gestern einen Heiratsantrag gemacht hat.

 

Vier Wochen waren nun schon seit Isoldes Leitersturz vergangen. Der Gips war ab. Isolde konnte ihr Bein wieder bewegen, ohne zu hinken. Alle anderen Blassuren waren soweit auch gut verheilt. Den Hals hatte sie noch nicht ganz unter Kontrolle. Beim Atmen verspürte sie manchmal noch einen stechenden Schmerz. Alles wäre soweit erträglich gewesen, bliebe nicht diese quälende Ungewissheit, die sich in letzter Zeit wie schleichendes Gift in ihrem Körper ausbreitete. Es war der Brief, dieser Fetzen Papier, der wie ein Sakrileg durch ihre Albträume geisterte.

 

Im Gegensatz zu Isolde machte sich die Müllerin längst keine Gedanken mehr über den Brief. So wichtig kann er nicht gewesen sein, sonst hätte sie ja danach gefragt. Die Müller peinigten in letzter Zeit ganz andere, existentielle Sorgen. Denn ganz so ahnungslos, wie Isolde ihre Nachbarin einschätzte, war die ja nicht. Abgesehen davon, dass sie wusste, dass ihr Mann Isolde im Krankenhaus heimliche Besuche abstattete, hatte sie ihn dabei erwischt, wie er über seiner Dokumentenmappe mit den Versicherungspolicen, Rentenbescheiden und Sparguthaben brütete. Auf seinem Taschenrechner Zahlenreihen eintippte, Notizen machte, Kopien anfertigte und ein neues Wertgutachten über das gemeinsame Haus in Auftrag gegeben hatte. All das waren negative Schwingungen, die die Müllerin völlig aus dem Gleichgewicht brachten. Sie war sich nicht mehr ganz sicher, wer von den beiden nun eigentlich aus dem Weg geräumt werden müsste. Isolde? Knut? Oder beide? Trotzdem versuchte sie, Ruhe zu bewahren, sich nichts anmerken zu lassen, und auf den richtigen Moment zu warten.

 

„Übrigens, dein Mann hat mich heute besucht“, begann Isolde ohne Umschweife, während Frau Müller die bunten Äpfel auf Isoldes Nachtisch legte.

„Knut?“, gab sich die Müller verwundert.

„Wer denn sonst? Oder hast du noch mehr Sklaven an der Leine?“ Isolde lachte frech und nahm sich einen Apfel. „Ich hoffe, der ist nicht vergiftet“, scherzte sie und brach ihn in zwei Hälften. „Willst du die rote oder die gelbe Hälfte?“ Isolde hielt ihrer Nachbarin die zwei Apfelstücke unter die Nase.

Frau Müller nahm die gelbe. Isolde lachte amüsiert.

„Also, bist du die Hexe und ich das Opfer!“

„Was ist denn heute nur in dich gefahren? Du bist so aufgekratzt?“

„Man wird doch wohl noch einen Scherz machen dürfen“, empörte sich Isolde künstlich.

Aber doch keinen, der einem im Halse stecken bleibt, dachte die Müller und kramte in ihrer Handtasche.

„Deine Post. Ich glaube, da ist was Wichtiges bei, sieht irgendwie amtlich aus – von der „Niederbayerischen Landmilch“, fügte sie noch hinzu.

Isolde riss den Briefumschlag auf, las und brach in einem Jubelschrei aus.

„Ich habe gewonnen!“

„Schön“, murrte die Müllerin.

„Zwei Wochen Kanada, in einem Dreisterne-Hotel, für zwei Personen!“

„Schön“, wiederholte die Nachbarin nur, denn sie hatte die zweite Person schon vor Augen, die an dieser Reise teilnehmen würde. Anstandshalber fragte sie nochmal nach.

„Wen willst du denn mitnehmen?“

„Was für eine dumme Frage!“, rief Isolde aus.

Die Müller nickte betreten.

„Dich, werde ich mitnehmen!“

„Mich?“ Die Müller traute ihren Ohren nicht.

„In zwei Wochen geht’s los!“

„Kanada“, murmelte Frau Müller selbstvergessen. „Das ist ja am Ende der Welt.“

„Unendliche Weite, Einsamkeit, Berge, bizarre Felslandschaften…“ Isolde geriet ins Schwärmen.