12. Kapitel

 

Zwei Tage später.

Isolde war wieder auf den Beinen. Sie fühlte sich schon viel besser. Zumindest fit genug, um einen Plan auszuhecken. Den Blick geistesabwesend in die Ferne gerichtet saß sie auf ihrem Sofa, nippte am Tee und streichelte den kleinen Hund, der zusammengerollt auf ihrem Schoß lag.

Die zweite Verführung stand auf Isoldes Plan. Die Hochzeitsnacht. Je mehr sie sich in ihr Vorhaben vertiefte, umso nervöser wurde sie.

„Alles wird gut“, murmelte sie, während sie mit ihrer Halskette spielte, an der Pauls goldener Ring hing. „Alles wird gut“, wiederholte sie. Ihre Augen hatten mittlerweile den entrückten Ausdruck eines Menschen angenommen, der dem Wahn näher war als dem Verstand. Als hätte sie ein übersinnliches Zeichen erhalten, erhob sie sich plötzlich, strich würdevoll über den weichen Stoff ihres Brautkleides und verließ wie an einem unsichtbaren Seil gezogen das Haus.

 

Die Turmuhr schlug Mitternacht, als Paul aus einem Nickerchen hoch schreckte. Regulär ins Bett kam er in letzter Zeit kaum mehr. Orientierungslos blickte er sich im Wohnzimmer um. Seine Augen brannten, der Mund fühlte sich ausgetrocknet an. Er brauchte noch einen Schluck Rum, den letzten, wie er sich vornahm, obwohl er daran zweifelte, diesem Vorsatz zu gehorchen. Aber was blieb ihm anders übrig. Es war einfacher zu vergessen, als sich daran zu erinnern, dass Lydia nun nicht mehr lebte. Ein tragischer Unfall, für den vermutlich die beiden Hunde verantwortlich waren. „Und die können wir ja nun schlecht zur Verantwortung ziehen“, sagten die beiden Beamten.

„Scheiß Köter“, fluchte Paul, während er sich unbeholfen aufrichtete und nach dem Glas tastete, das auf dem Tisch stand. Kurz hielt er inne und folgte den gespenstischen Schatten, die der flackernde Kamin an die Wand warf. Er bemerkte Isolde nicht, die in einer dunklen Nische saß und in freudiger Erwartung auf ihren Einsatz lauerte. Zuerst werde ich den Ring an seinen Finger stecken, nahm sie sich vor. Dann werde ich mich an ihn herankuscheln, in wärmen, aufheizen. Ein wohliges Kribbeln breitete sich in Isoldes Schoß aus, als sie sich vorstellte, wie Paul versuchte, in sie einzudringen, wie seine Erregung ins Unermessliche steigen würde, wenn er diesen Widerstand zu spüren bekam…

Der Doktor Zinnapfel aus München hatte schon Recht gehabt, dachte Isolde. Wenn 18-jährige Mädchen sich kaum sichtbare Falten mit Nervengift wegspritzen lassen, Männer im Greisenalter ihre Penisse verlängern lassen, warum sollte sich eine gestandene Frau nicht das Jungfernhäutchen zunähen lassen? Was dem experimentierlustigen türkischen Disco-Mäuschen vor der Ehe recht ist, sollte mir doch billig sein… Erst wenn er die Barrikade durchbricht, sind meine 500 Euro flöten, dachte sie kichernd und hielt sich zügelnd die Hand vor den Mund.

Paul hatte sich ausgestreckt und lag wieder schlafend auf der Couch. Mit schräg geneigtem Kopf schätzte Isolde den ihr zur Verfügung stehenden Platz auf dem Ledersofa ab. Sie zählte gedanklich bis 100 und begann ihr Haar zu entflechten. Dann stand sie auf, kniete sich zu ihm nieder und küsste ihn sanft auf die Stirn. Paul schlief unruhig, das fiel ihr sofort auf. „Ruhig, ganz ruhig“, sprach sie leise, wobei sie zärtlich über seine Haare streichelte wie eine Mutter, die sich um ihr fieberndes Kind sorgte. Pauls rechter Arm lag auf seinem Bauch, die Finger in einem geraden Winkel in ihre Richtung deutend – wie zurechtgelegt, dachte Isolde, auch wenn sie nervös zuckten. Isolde wertete es als gutes Omen.

„Für immer und ewig“, flüsterte sie, als sie Paul den Ring überstreifte – bis dass der Tod uns scheidet, lag ihr noch auf den Lippen, aber das sagte sie nicht. Fand es unpassend, geradezu grotesk. Ausgerechnet jetzt, wo das Leben in ihr brodelte, sollte sie an den Tod denken? Nein, dachte sie, küsste seinen Ring, faltete ihre rechte Hand in die seine, so dass sich beide Ringe berührten und legte ihren Kopf darauf. Ich liebe dich, ich liebe dich so sehr. Sie sprach es nicht aus, aber lauschte dem Nichtgesagten mit geschlossenen Augen hinterher, während sie mit ihrer linken Hand Pauls Oberschenkel streichelte. Diesmal blieb es ihr erspart, ihren Liebsten umständlich zu entkleiden. Heute trug er nur leichte Short und ein Unterhemd. Heute schien alles viel leichter, viel vertrauter. Heute schien alles in die richtigen Bahnen gelenkt, stellte sie fest, als ihre Lippen sanft den seidenen Stoff seiner Hose berührten.

Diesmal falle ich auf dich verdammte Hexe nicht herein! Messerscharf fixierte Paul durch seine halb geschlossenen Augen Isolde, wie sie in ihrem weißen Gewand und ihren ellenlangen Haaren wie eine aus dem Märchenwald entwurzelten Fee gleich auf seinem Sofa kniete.

„Lass das!“, fauchte Paul plötzlich los.

Im gleichen Moment packte er Isolde an ihren langen Haaren und stieß sie zurück. Isolde begriff die Situation nicht. Starrte ihn an, ohne zu wissen, ohne zu verstehen. Sie raffte sich blitzartig auf. Stürzte sich auf ihn, wie jemand, der einem geistesverwirrten Menschen vor einer Kurzschlusshandlung bewahren möchte. Dabei entwickelte sie erstaunliche Kräfte. Ihre Hände hielt sie wie Schraubzwingen um seine Arme geklammert, ihre angewinkelten Beine auf seinen Unterleib gestemmt. Paul stöhnte vor Schmerz. Er spürte ihre Knochen auf seinen Eiern.

„Hör auf damit! Du elende Schabracke!“, schrie er schmerzverzerrt.

Vergeblich versuchte er sich aus seiner misslichen Lage zu befreien, aber Isolde ließ nicht locker.

„Sei still!“, keuchte sie ihn an, „Hör auf damit, so mit mir zu reden, bitte hör auf damit!“ Isolde atmete schwer. „Bitte“, flehte sie erschöpft, „bitte, sei ruhig, ganz ruhig.“

Sie hatte sich überanstrengt. Einzelne Strähnen klebten ihr wie Seetang im Gesicht. Schweiß tropfte ihr von der Nase. Ihre Hände waren nass geschwitzt, zitterten, gaben nach. Paul spürte es, blieb ganz ruhig. Lauerte auf den entscheidenden Moment. Seine Augen wie Giftpfeile auf Isolde gerichtet, die zu straucheln begann. Er spürte, wie sich ihre Beine lockerten. Wie sie ihren Schoß an seinen Schwanz zu reiben begann, der nicht anschwoll, keinerlei Regung gegenüber dieser Frau zeigte. Dieser Bekloppten, die ihn mit diesem weltfremden Glanz in ihren Augen anlächelte und sich wie in Trance hin und her bewegte.

„Hör auf damit! Du einfältige Kuh!“

Isolde schüttelte verzweifelt den Kopf und hielt sich die Ohren zu. In diesem Augenblick schlug Paul ihr ins Gesicht. Schlug nochmals zu, weil sie nicht reagierte, ihn nur wie ein Schaf anglotzte. Er konnte ihren Anblick nicht mehr ertragen, zerrte sie an ihren langen Zotteln von sich herunter. Isolde polterte wie ein achtlos weggeworfener Gegenstand zu Boden. Sie verletzte sich mit dem Arm an der Tischkante, gab aber keinen Laut von sich. Sie lag einfach nur da. Mit diesem genügsamen Erstaunen im Gesicht wie jemand, der einem Versehen zum Opfer gefallen ist und nun darauf wartete, dass man sich seiner reumütig annimmt. Ihn um Verzeihung bittet, ihn tröstend in die Arme schließt. Isolde war nicht nachtragend. Sie konnte verzeihen, ja, das konnte sie. Und wenn er es nicht tat, dann tat sie es eben. In der Liebe ist das nun mal so. Da muss immer einer den ersten Schritt tun, weil einer immer mehr liebt als der andere. Isolde fühlte sich, trotz des Schmerzes in ihrem Arm, stark genug.

„Verzeih mir, bitte!“, sagte sie und streckte Paul versöhnlich ihre Hand entgegen.

„Für was?“, giftete er sie an. „Dass du dich in mein Leben hineingefressen hast wie … wie…“, Paul stockte.

Wie eine vom Liebesdurst ausgemergelte Frau, dachte Isolde resigniert und hoffnungshungrig zugleich.

„…wie eine Kanalratte ins Abflussrohr!“, beendete Paul seinen Satz. „Verschwinde aus meiner Gegenwart, verschwinde aus meinem Haus, verschwinde aus meinem Leben!“, beschwor er sie. „Sonst zeige ich dich an!“

Er hatte sich zu Isolde herabgeneigt und drohend seinen Zeigefinger erhoben.

„Anzeigen? Für was?“ Isoldes Stimme hörte sich an wie das Pfeifen eines verkalkten Teekessels.

„Ich habe gesehen, wie du sie ins Wasser gestoßen hast! Du hast sie umgebracht! Mit einer Kaltblütigkeit, als hättest du das schon öfters gemacht! Als läge dir das Morden im Blut!“ Paul stieß verächtlich die Luft durch die Nase. „Wahrscheinlich hast du deinen Mann auch beseitigt. – Gib’s zu! Gestürzt sagst du, ist er? Von wo? Von der Treppe? Im Kartoffelkeller über deine Beine? Vom erstbesten Felsüberhang?“

Isolde schwieg.

„Wenn ich es nicht besser wüsste“, fuhr Paul in gesenkter Stimme fort, „dann könnte ich fast glauben, dass du Lydia auch umgebracht hast.“

Für einen Augenblick brach Trauer durch und der Zorn des Doktor Maibach, eines Mediziners, dessen Welt bisher von der Wahrscheinlichkeit der Naturgesetze bestimmt war, suchte sich einen anderen Adressaten: „Aber meine Stieftochter hat sich ja von ihren Kötern umbringen lassen und einem gottverfluchten Betonmischer.“

„Stieftochter?“, Isolde röchelte.

Paul schenkte Isoldes scheinheiliger Betroffenheit, wie er es empfand, keinerlei Aufmerksamkeit.

„Mach dass du wegkommst“, befahl er entnervt, stutzte jedoch im gleichen Moment.

„Wie bist du eigentlich hier reingekommen?“

Isolde zuckte zusammen, sah ihn an und begriff, dass sie das Objekt ihrer Liebe loslassen musste. Für immer, für ewig.

„Du hast gesagt“, hob sie mit gebrochener Stimme an, „dass du mich dabei gesehen hast wie…“

„Ja!“, schnitt er ihr grob das Wort ab, ohne sich nach ihr umzudrehen.

Doch Isolde sprach weiter: „Aber ich habe gefilmt, wie du sie einfach ohnmächtig ihrem Schicksal überlassen hast. Du wolltest, dass sie verreckt. Im Gegensatz zu deiner Anschuldigung, kann die meinige nachgewiesen werden.“

Isolde hatte sich aufgerichtet, ihr Tonfall klang träge. Genau wie ihre Schritte müde und kraftlos wirkten, als sie sich Richtung Tür begab.

„Ich gehe“, sagte sie sinnlos.

Paul fand es wenig sinnvoll, darauf zu antworten. Reglos wie eine ausgeblasene Kerze im Dunkeln stand er da. Er folgte nicht Isoldes Schritten, sondern versuchte, seinen Gedanken zu folgen. Wollte seiner lähmenden Angst entkommen. Er war froh, dass er es wenigstens noch zur Haustür schaffte, um abzuschließen. Dreimal drehte er den Schlüssel im Schloss um.

Isolde konnte das hektische Klappern hören. Denn sie saß mit angewinkelten Beinen auf einer Kleidertruhe, flocht ihre Haare zu einem Zopf und summte leise vor sich hin. Statt das Haus zu verlassen, hatte sie Pauls Starre genutzt, war die Treppe ins obere Geschoss hinaufgehuscht und hatte sich in Doris Maibachs Ankleidezimmer versteckt.

Währenddessen genehmigte sich Paul noch zwei Gläser Rum. Gleich morgen werde ich das Haustürschloss austauschen und mich der Polizei stellen, damit diese gottverdammte Scheiße endlich ein Ende hat, dachte er. Gleich morgen höre ich auch wieder mit dieser Trinkerei auf. Froh über diesen Entschluss ging er ins Bett und schlief sofort ein.

 

Isolde war nicht müde. Sie benötigte dringend eine Stärkung. Sie hatte das Ankleidezimmer verlassen und saß nun wie hingehext in der Küche, allein beleuchtet vom fahlen Mondlicht. Sie schmierte sich ein Butterbrot und studierte aufmerksam die Milchtüte, die vor ihr stand.

Kanadareise zu gewinnen – 1 Woche für 2 Personen in einem Dreisterne-Hotel, stand da geschrieben.

Kanada, dachte Isolde, während sie verträumt den Mond anblickte und ihr Butterbrot sorgsam kaute. Als sie aufgegessen hatte, schnitt sie die Milchtüte auf, goss die Milch in ein großes Glas und leerte es in einem Zug. Anschließend nahm sie die Schere zur Hand und schnitt den Gewinncoupon sorgfältig aus der Tüte heraus. Den überflüssigen Rest fackelte sie mit einem Streichholz ab. Alles andere wurde gründlich gespült, gesäubert und weggeräumt. Prüfend sah sie sich um.

„Alles hat seine Ordnung, alles hat seinen Sinn, alles hat ein Ende“, murmelte sie. Isolde griff sich ein Messer.

 

Paul schlief tief und fest, als sie sein Schlafzimmer betrat. Gemartert hatte er sich heute wie ein Negersklave auf einer karibischen Zuckerrohrplantage, gequält von der Plackerei des Tages, gequält vom Nachtgedanken an seine Nächsten, die seine Tage nicht mehr teilten. Am Leben gehalten vom Rum, den man seinesgleichen einflößte. Den Voodoo-Göttern der Trauer hatte er heute ein Trank-Opfer bereitet, wie es die geliebt-ungeliebte Frau und seine wunderbare Stieftochter verdienten. Eine Flasche Rum hatte den Zorn der Trauergötter besänftigt. So zuckte er jetzt nur mäßig, als ihn Isolde die Nylonstrümpfe um die Handgelenke band. Ein Schmatzen gab Paul bloß von sich, als sie seine Arme kopfüber zurechtlegte, um die Enden der Strümpfe an den Bettpfosten zu verknoten. Auch als sie sich breitbeinig über seinen Schoß kniete, rührte er sich nicht. Und auf das schabende Geräusch, das Isolde erzeugte, als sie ihren Zopf abschnitt, reagierte er auch nicht.

Erst als sie ihren Zopf um seinen Hals legte und ihn verknotete, riss er die Augen auf. Und als sie mit aller Kraft zuzog, wollte er schreien, aber das ging nicht mehr. Er gurgelte wie ein verstopftes Abflussrohr. Und als es ihm gelang, sich mit der einen Hand aus einer Fessel zu lösen, um Isolde an ihren Haaren zu zerren, griff er ins Leere. Als er nicht mehr atmete, brach Isolde auf seinem Körper zusammen. Lag hechelnd auf seiner Brust. In seinem Angstschweiß, unter seinem Arm, der wie ein herabgestürzter Ast auf ihr lag. Sie spürte, wie sich seine Blase entleerte. Der Tod begann mit der Entrümpelung. Isolde war am Ende ihrer Kraft, zu schwach für sarkastische Gedanken.

Als sie wieder erwachte, war ihr speiübel. Sie hatte den beißenden Geruch von Urin und Kot in der Nase. Den bitteren Geschmack von abgestandenem Schweiß im Mund.

Sie warf einen Blick auf den Toten. Paul glotzte sie an wie ein in Sud schwimmender Kalbskopf. Isolde würgte. Sie schaffte es nicht, ihn zu berühren, seine Augen zu schließen. Sie schaffte es noch nicht mal bis zur Toilette. Sie erbrach sich. Gelbe Galle.