6. Kapitel
Als hätte Isolde hinter den Kulissen auf ihren Auftritt gewartet, stand sie nun mit klopfenden Herzen vor der Tür der Maibach-Villa und betätigte energisch den Türklopfer.
„Komme ich ungelegen?“, ließ sie höflich verlauten als sich die Tür öffnete.
Isolde hatte sich besuchsfein gemacht und trug ein Dirndl mit einer roten Schürze. Ihre langen, aschblonden Haare hatte sie zu einem Seitenzopf geflochten, der ihr bis über die Hüfte reichte. Mit etwas guten Willen, hätte man Isolde für ein gestandenes Rotkäppchen halten können, aber Maibach sah sie an wie ein verschreckter kleiner Junge, der sich der Verwandlungskunst böser Tanten bewusst war.
„Ach, Sie“, erwiderte er zerstreut.
Isolde nickte bestätigend und sah ihn unverwandt an.
„Darf ich eintreten?“, erkundigte sie sich vollständigkeitshalber, da sie sich bereits durch die halbgeöffnete Tür mehr geschlängelt als gedrängelt hatte.
Misstrauisch beäugte Maibach das Weidenkörbchen, das Isolde am Arm trug, in dem der kleine Hund saß und sich vergeblich bemühte, sich der Fesselriemchen zu entledigen, mit denen Isolde das aufgeweckte Tier am Henkel festgebunden hatte.
„Freuen Sie sich denn gar nicht?“, druckste Isolde herum.
„Über was?“, stieß Herr Maibach entgeistert hervor.
Plötzlich erschienen ihm Isoldes Augen, Ohren und Hände nicht mehr maßstabsgerecht.
„Nun, wenn schon nicht über mich, dann doch wenigstens über Ihren Hund, den ich Ihnen unbeschadet zurückbringe. Er ist mir zugelaufen. Das arme Tierchen war ja total verstört. Haben Sie es denn gar nicht vermisst?“
„Der Pinscher gehört meiner Frau, und die ist momentan…“
„Tot.“, ergänzte Isolde nüchtern.
„Tödlich verunglückt“, verbesserte Herr Maibach, mehr zu sich selbst und heftete seinen Blick auf Isoldes Füße.
Warum läuft sie barfuß herum? schoss es ihm durch den Kopf. Eine Frage, die ihm genauso irrwitzig erschien wie Isoldes Kostümierung.
„Eine tragische Sache, das mit Ihrer Frau“, entgegnete Isolde mitfühlend. „Wie ist es denn passiert?“, schob sie noch nach und blickte Maibach lauernd von unten an, als wolle sie seine Worte auffangen.
Sie hat schöne Füße, dachte er, bevor er nachdenklich den Kopf hob und Isolde bohrend in die Augen sah, als würde er sich mit jedem Neuron seines Hirns auf ihre Frage konzentrieren. Isolde widerstand dem Impuls, seinem Blick auszuweichen, sie fühlte, wie ihr das Blut in die Ohren schoss.
„Warum fragst du?“, erwiderte er trocken, ohne sein Gegenüber aus den Augen zu lassen. Es war ein suggestiver Blick, der darauf abzielte, Isolde aus der Fassung zu bringen. Und tatsächlich kam sich Isolde für einen Moment vor wie eine Laborratte, die in den Blickwinkel eines ehrgeizigen Forschers geraten war. Aber Isolde hielt dem visuellen Kräftemessen stand. Sie maß seiner vertrauten Anrede bedeutend mehr Gewicht bei als seinem herablassenden Unterton. Ich habe dich zum Fressen gern, dachte Isolde und verkniff sich das wölfische Lächeln, das doch auf ihren Lippen lauerte. Bevor sie antwortete, überlegte sie kurz, ob sie ebenfalls zu dem vertrauten „du“ übergehen sollte.
„Weil einige Gerüchte in Umlauf sind.“ Isolde hüstelte verhalten und sprach weiter: „Nun ja, die einen behaupten, dass Ihre Gattin einfach nur gestürzt sei. Andere behaupten, dass Ihre Frau Gemahlin gestürzt sei, weil sie besoffen, pardon, betrunken war, und ganz böse Zungen munkeln sogar, dass jemand nachgeholfen…“ Isolde wiegte abschätzend den Kopf, „…haben könnte.“
„Ach was! Hat man da vielleicht schon jemand Bestimmten in Verdacht … Isolde?“
Isolde überhörte tunlichst den bedeutungsschweren Tonfall, mit dem Maibach ihren Namen aussprach.
„Keineswegs“, entgegnete sie gelassen und zupfte demonstrativ an ihrer blütenweißen Bluse. „Es ist nur so, man könnte sich vielleicht auf eine Version einigen“, schlug sie vor und riskierte ein zweideutiges Lächeln.
Maibach wirkte unschlüssig, wie jemand, der einen Medizinball zugeworfen bekam und sich nicht sicher war, ob er ihn auffangen oder lieber in Deckung gehen sollte.
„Welche Version wäre denn die zweckdienlichste?“, versuchte er Zeit zu schinden.
„Die Wahrheit natürlich“, versicherte Isolde treuherzig, „ich meine, die Wahrheit, also das was Sie den Beamten gesagt haben“, fügte sie mit einem Augenaufschlag hinzu.
„Das klingt wie ein Kompromiss“, bemerkte Maibach spitz.
„Eher wie eine Absprache“, verbesserte Isolde süffisant, während sie betont gleichgültig ihren Blick durch den Raum gleiten ließ und ihren langen Zopf spielerisch um ihren Zeigefinger drehte.
Wie gebannt stierte Herr Maibach auf Isoldes Zopf und je aufmerksamer er ihn betrachtete, umso mehr drängte sich der Vergleich mit einem Strick bei ihm auf. Er bemerkte nicht, wie ihn Isolde aus den Augenwinkeln heraus fixierte. Isolde registrierte die finstere Wachsamkeit in seinen Augen und fuhr aufmunternd fort.
„Ich möchte Ihnen ja nur helfen, lieber Herr Doktor, und Ihnen keinen Strick drehen, aber mit Mord ist nun mal nicht zu spaßen.“
„Wie? Ich verstehe nicht!“, japste Maibach verdattert.
„Rufmord, meine ich natürlich“, milderte Isolde gnädig ab.
Von einem leichten Schwindel übermannt, stützte sich Maibach mit der Hand am Türknauf ab.
„Ist Ihnen nicht gut? Sie sehen auf einmal so blass aus.“
Isolde trat einen Schritt näher.
„Leichenblass“, vervollständigte sie und legte besorgt ihre Hand auf seine Schulter.
„Soll ich einen richtigen Arzt rufen?“
„Nein!“, wehrte er hysterisch ab. „Es geht schon, ich bin nur etwas durcheinander. Die Sache hat mich ziemlich mitgenommen.“ Er rang sich einen unverkrampften Gesichtsausdruck ab, obwohl er Isoldes Hand wie eine schwere Last empfand, die drohte, ihn in die Knie zu zwingen. „Ich glaube, ich brauche einen Schnaps“, stammelte er und schielte verstohlen auf seine Schulter.
„Eine gute Idee“, beschied Isolde. „Haben Sie vielleicht auch einen Sherry im Haus?“
Endlich nahm sie die Hand von seiner Schulter und folgte seiner widerwilligen Geste ins Wohnzimmer.
„Das ist heute nicht der erste“, erklärte er mürrisch, als er Isoldes Miene zur Kenntnis nahm, die auf die halbgeleerte Whiskeyflasche anspielte, die zwischen mehreren überfüllten Aschenbechern auf dem Couchtisch stand.
„Und sicher nicht der letzte“, murmelte Isolde ahnungsvoll.
Unaufgefordert nahm sie auf der großzügigen Ledergarnitur Platz, stellte ihren Korb auf den Tisch und strich mit der Hand besitzergreifend über das weiche Büffelleder. Dabei behielt sie mit skeptischem Interesse den Hausherrn im Auge, der mittlerweile, offenbar ratlos, vor dem reichhaltigen Sortiment seiner Hausbar stand.
„Wenn kein Sherry da ist, nehme ich auch mit einem Whiskey vorlieb“, zwitscherte sie ihm zu.
Ich muss auf der Hut sein, sie führt etwas im Schilde, hämmerte sich Herr Maibach ein, während er auf die Flaschen starrte, bis er sich besann und nach einer Karaffe Sherry und zwei Gläsern griff.
„Warten Sie, ich mach das schon!“ Isolde nahm ihrem Gastgeber Flasche und Gläser ab und begann einzuschenken.
Beide erhoben das Glas und blickten sich eine Weile unschlüssig an. So als wüssten sie nicht so recht, auf was sie nun anstoßen könnten – auf das Leben, auf den Tod? Gab es ein Zwischending?
„Auf uns!“, stieß Isolde unvermittelt hervor und leerte ihr Glas in einem Rutsch, wogegen Maibach noch an der Verbindlichkeit ihrer Aussage schluckte. Er wollte etwas sagen, wusste aber nicht was. Dafür sah ihn Isolde vielsagend an. Sie hatte sich bereits das zweite Glas eingeschenkt, was Herrn Maibach daran erinnerte, dass er sich mit einem Glas im Rückstand befand.
„Zum Wohl“, murmelte er matt und kippte sich den Sherry in die Kehle.
„Auf unser Wohl!“, korrigierte Isolde neckisch und betrachtete ihr Gegenüber wie eine Mutter, die auf ihr wohlgeratenes Kind blickte, während sie dabei genüsslich an ihrem Glas nippte.
„Besser?“
Maibach nickte und blickte rammdösig in sein leeres Glas. Isolde erhob sich und schenkte ihn wortlos nach.
„Nun…“, begann sie, als sie wieder Platz genommen hatte, „wie ist es denn passiert?“
„Ich weiß es nicht“, beteuerte Maibach gereizt, „ich war ja nicht dabei!“
Für einen Augenblick hielt Isolde inne, als würde sie an dieser Lüge weiterfeilen.
„Ich auch nicht“, erwiderte sie steif und trank ihr Glas aus.
Beide schwiegen einige Sekunden lang und vermieden es, sich auch noch dabei anzusehen.
„Als ich heimkam“, nahm Maibach den Faden wieder auf, „war sie nicht im Haus. Ich bin dann in den Garten gegangen – da hab ich sie gesehen, wie sie im Schwimmbecken lag. Ich bin Hals über Kopf ins Wasser gesprungen und habe sie rausgezogen. Sie hat sich nicht bewegt, nicht mehr geatmet. Ich habe sofort den Notarzt alarmiert und versucht, sie wiederzubeleben – bis Hilfe kam. Der Arzt hat eine Platzwunde an ihrem Hinterkopf festgestellt. Die ist mir gar nicht aufgefallen. Er vermutete, dass sie gestürzt und durch den Aufprall ohnmächtig geworden und dann ins Wasser gefallen sei.“
„Ist die Kripo der gleichen Meinung?“, hakte Isolde nach.
„Warum sollte sie anderer Meinung sein?“
„Weil es deren Job ist“, schnippte Isolde zurück.
„Es war ein Unglücksfall“, warf Maibach fahrig ein. „Ein unglücklicher Fall, im wahrsten Sinne des Wortes.“
Isolde hob pikiert die Augenbrauen.
„Ich will ja nicht pingelig erscheinen, aber Sie vergaßen die Todesfolge zu erwähnen.“
„Sie ist ertrunken. Die Dame von der Polizei…“
„Kriminalpolizei!“, fuhr Isolde dazwischen.
„Also, die Dame von der Kriminalpolizei erweckte mir nicht den Eindruck, als wäre sie anderer Meinung.“
„Nun, das wollen wir beide hoffen“, schloss Isolde begütigend das Thema ab. „Was machen wir jetzt mit dem Hund? Der guckt so komisch.“
Maibach runzelte die Stirn. „Ich glaube, ich würde auch so gucken. Wenn ich gefesselt wäre“, meinte er. „Warum ist das Tier eigentlich festgebunden?“
„Warum wohl? Damit es nicht wegläuft!“
Maibach stieß einen höhnischen Lacher hervor.
„Vor dir kann man doch gar nicht davon laufen…apropos, wo ist eigentlich dein Mann?“, fuhr er im gleichen Atemzug fort.
Isolde zuckte kurz zusammen, dann straffte sie couragiert ihre Schultern, hob trotzig ihr Kinn und sah plötzlich aus, als hätte sie einen Besenstiel verschluckt.
„Mein Mann verweilt nicht mehr unter den Lebenden“, verkündete sie reserviert. „Das Schicksal hat ihn ereilt. Er ist gestürzt, bei einer Bergwanderung – ein Unglücksfall.“ Sie hob seufzend die Schultern. „Nun ja, sein Herz, das … das war nicht mehr das zuverlässigste … im wahrsten Sinne des Wortes“, fügte sie noch bedeutungsschwanger hinzu.
„Oh, dass tut mir leid…“ Maibach legte mitfühlend seine Hand auf Isoldes Knie.
„Mir nicht“, erwiderte Isolde steif, wobei sie sanft seine schmalen Finger streichelte und mit leichtem Gegendruck das zaghafte Zurückzucken seiner Hand abfing.
„Und was ist mit Ihnen? Sind Sie sehr traurig, über den Verlust Ihrer Frau?“, fuhr sie zögerlich fort. Dabei entwickelte sie ein sanft spürbares Drängen in ihrem Ton.
Schweigend schielte Maibach auf seine Hand, die wie ein Pfand auf Isoldes Knie lag. Er entzog sie ihr, mit dem Bewusstsein, dass er Isolde einen angemessenen Ersatz schuldete. Eine Antwort. Eine wohlüberlegte.
„Es sind mehr die Umstände, wie sie verlustig gegangen ist“, antwortete er endlich. „Es wäre mir lieber gewesen, sie wäre mir auf eine – sagen wir mal – freundlichere Art abhandengekommen.“
Er lächelte gezwungen, während er sich eine Zigarre zwischen die Lippen steckte. Das Mundstück abbiss, auf den Boden spuckte und suchend sein Hemd abtastete.
Pflichteifrig griff Isolde nach dem Feuerzeug, das auf dem Tisch lag. Sie ließ es etwas ungeschickt aufschnappen, umklammerte es mit beiden Händen und gab im Feuer. Ihre Hände zitterten leicht. Maibach beäugte ihre Bemühungen mit abschätzendem Interesse.
Sie würde mir wahrscheinlich auch in den Mantel helfen, mir meine Füße massieren, mir den Arsch ablecken…, dachte er, als sich ihre Blicke im Lichtschein der Flamme trafen. Ein Hauch von Verachtung machte sich in ihm breit. Und als wolle er seinen Gefühlen Ausdruck verleihen, blies er Isolde rücksichtslos den Rauch ins Gesicht. Isoldes Gesicht verschwand im Nebel seiner Missbilligung und tauchte wieder auf. Unversehrt, mit einem tapferen Lächeln, das alles zu verzeihen versprach. Plötzlich tat ihm sein ungehobeltes Verhalten leid. Er entschuldigte sich.
„Macht nichts“, hüstelte Isolde und reichte ihm den Aschenbecher hin. „Ihre Asche!“
Gemächlich strich er am Rand des Aschenbechers die Glut ab, während er Isolde nachdenklich in Augenschein nahm, die voll und ganz in ihre Gefälligkeit vertieft zu sein schien.
Was ist eigentlich auszusetzen an Frauen, die für einen alles tun würden? dachte er. Die einen auf Händen tragen, die Steine aus dem Weg räumen und für den Erhalt eines beschaulichen Glücks bereit sind … über Leichen zu gehen.
„Ich heiße übrigens Paul“, besiegelte er seine Gedanken und sah Isolde prüfend an, die wie erwartet seine Geste mit leuchtenden Augen erwiderte.
„Jetzt müssen wir Brüderschaft trinken!“, rundete Isolde, sein Angebot ab.
Ungeniert rückte sie näher, geradezu auf die Pelle, nahm ihm die Zigarre aus der Hand, um ohne jedes Verzögern den typischen Brauch zu vollziehen. Fix füllte sie die Gläser nach und drückte ihm eines davon auffordernd in die Hand. Es dauerte ein Weilchen, bis sie ihre Arme so positioniert hatten, dass jeder ungehindert aus seinem Glas trinken konnte. Aber nur einen Bruchteil einer Sekunde, bis Paul begriffen hatte, dass es zwecklos war, ihre gierig herannahenden Lippen an seiner Wange abprallen zu lassen. Er schloss die Augen, als könne er sich damit ihrer Annährung entziehen. Isolde küsste ihn auf den Mund. Eine Spur zu lang. Eine Spur zu zärtlich. Und auch zu forsch. Ihre Lippen fühlten sich unverhofft weich und warm an.
Wenn ich es nicht besser wüsste, sinnierte Paul, könnte ich meinen, ich würde von einer jungen Frau geküsst. Er konnte den blumigen Duft ihres Parfums riechen. Das Kitzeln ihrer Haare spüren, das sich angenehm prickelnd auf seine Haut auswirkte. Das aufkeimende Ziehen zwischen seine Lenden, wollte er sich nicht eingestehen. Es fühlt sich schön an, dachte er.
„Mach weiter“, rutsche ihm heraus.
„Nein“, flüsterte Isolde kokett.
Abrupt schlug Paul die Augen auf.
„Habe ich nur geträumt“, fragte er ein bisschen scheinheilig.
„Ja, und dabei geredet“, ließ sich Isolde auf sein Spielchen ein, während sie seine Zigarre aus dem Aschenbecher nahm, sie neu entzündete und mit kurzen Zügen wieder zum Glimmen brachte. Isolde balancierte ein mehr als nur leicht schlüpfriges Grinsen auf ihren Lippen, bevor sie ihn ziemlich eindringlich taxierte. „Vermutlich ein Albtraum“, ergänzte sie und paffte ihm den Rauch ins Gesicht.
Teufelsweib, dachte Paul.
Er rückte näher zu Isolde heran, nahm ihr wortlos die Zigarre aus der Hand und fläzte sich seufzend in die Polster zurück. Isolde spürte, wie sein Blick
auf ihr ruhte. Sie hatte ihre Hände in ihrem Schoß gefaltet, ihre Lider gesenkt und schwieg. Sie überlegte, ob sie das flirrende Schweigen mit einem Schluck aus ihrem Glas auflockern sollte, aber sie hatte Angst die Magie des Augenblicks zu zerstören. Ihre Anspannung stieg, als sie seine Finger auf ihren Rücken spürte, die sich tänzelnd ihrem Hals näherten. Sie schloss genießerisch die Augen. Und beinahe hätte sie sich mit ihrem Kopf an seine Hand geschmiegt, doch riss sie stattdessen entsetzt ihre Augen auf, als hätte sich unter ihr die Fallklappe eines Galgens geöffnet. Paul hatte beide Hände fest um ihren Hals geschlungen. Isolde schluckte trocken und verharrte stumm in ängstlicher Erwartung. Plötzlich blitzten Erinnerungsfetzen vor ihrem inneren Auge auf. Sie sah sich als kleines Mädchen auf dem Bauernhof ihrer Eltern. Wo sie mit ihrem Vater im Stall die Weihnachtsvorbereitungen traf. Emsig bemüht und mit leuchtenden Kulleraugen war sie ihm dabei behilflich, die Gänse zu wiegen, denen ihr Vater, mit einem geübten Griff gerade die Hälse umgedreht hatte.
„Je mehr Gänse wir verkaufen, je mehr Weihnachtsgeschenke für dich!“, pflegte ihr Vater stets zu sagen. So hörte sich das Geräusch, welches das Halsumdrehen erzeugte, für Isolde wie Nüsseknacken an. Sie erinnerte sich auch wie der Vater mit einem ermunternden Augenzwinkern ihr selbst eine Gans in den Arm drückte. Wie er ihr die Taktik des Halsumdrehens genau erläuterte. Was überflüssig war, denn die kleine Isolde hatte sich schon längst durch aufmerksames Beobachten diese Technik angeeignet, so dass sie ihre erste Gans sozusagen im Handumdrehen meisterte. Als wäre es gestern, sah sie sich mit dem erwürgten Vogel in der Hand. Wie sie ihren Vater breit grinsend mit ihren Zahnlücken anstrahlte. Wie er sie verdutzt anstarrte, sich nachdenklich am Kopf kratzte und zu ihr dann sagte, dass sie jetzt aussähe wie ein kleines Monster. Wenn sich Isolde diese Erinnerungen bei anderen Gelegenheiten ins Gedächtnis rief, musste sie stets loslachen. Jetzt, blieb ihr das Lachen im Halse stecken. Wenn er es richtig anstellt, dachte sie bitter, hört es sich an wie das Knacken einer Nuss. Isolde bekam eine Gänsehaut.
Ihre Pupillen schnellten nach links, als sie Pauls warmen Atem an ihrem Ohr spürte.
„Du hast einen wunderschönen langen Hals“, raunte er.
„Warum willst du ihn mir dann umdrehen?“, knurrte sie waghalsiger, als ihr zumute war.
Paul stutzte. Er hörte endlich damit auf, ihren Kehlkopf zu reizen und verfiel in herzhaftes Gelächter, als hätte man ihm einen guten Witz erzählt. Und zwar einen, den man erst nach reichlicher Überlegung kapiert. Isolde benötigte einige Wimpernschläge, bevor sie dieser Art Galgenhumor den erwünschten Reiz abgewinnen konnte. Ihre Kehle fühlte sich noch viel zu ausgedörrt an, als dass sie hätte unbeschwert in Pauls Heiterkeit mit einstimmen können. Mühsam brachte sie ein paar glucksende Laute hervor, die sich erst zu einem akzeptablen Stimmungshoch emporschwangen, als sich Paul schon längst wieder beruhigt hatte.
„Ist dir nicht gut? Warum gackerst du denn so?“, fragte er aufgeräumt.
Isolde verstummte und schluckte verhalten. Peinlich berührt strich sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und griff affektiert nach ihrem Glas. Sie hatte es bereits zu ihren Lippen geführt als sie spürte, wie Paul ihr Haar berührte. Gebannt linste sie auf seine Hand.
„Du hast auch wunderschöne lange Haare. Ich hätte nie gedacht, dass sie sich so schön weich anfühlen“, flüsterte er, während sie wie elektrisiert dabei zusah, wie er ihren Zopf versonnen über seine Handflächen gleiten ließ.
„Mein Mann…“, hob sie mit bebender Stimme an, „hat meine langen Haare sehr geliebt. Wenn ich sie mir abschneide, hat er gesagt, würde er mich sofort verlassen.“ Sie nahm einen beherzten Schluck aus ihrem Glas. „Verlassen hat er mich trotzdem“, schob sie schluckend nach.
„Er ist verunglückt.“
„Sicher“, erwiderte Isolde verschnupft und stellte das Glas energisch auf den Tisch. Mit einem zwangloseren Tonfall fuhr sie fort:
„Irgendwann wird man so oder so verlassen, egal, ob man lange Haare oder einen langen Hals hat.“
„Du hast deine Füße vergessen. Die sind auch schön.“
„Ich weiß“, sagte Isolde selbstbewusst. „Knut hat mich darauf aufmerksam gemacht.“
„Wer ist Knut?“
„Mein Liebhaber“, flötete sie, „eine Affäre, nichts Ernstes. Er hat mich nach dem Tod meines Mannes getröstet“, rechtfertigte sie sich grundlos. „Er war unsterblich in meine langen Haare und meine Füße verliebt – dieser Zausel. Dabei gibt es noch einiges mehr an mir zu entdecken, was schön ist.“ Isolde fing Pauls ratlosen Blick ein, als hätte sie das nicht anders erwartet. „Etwas, das über die weiblichen Attribute hinausgeht – innere Werte“, beeilte sie sich zu sagen, „zum Beispiel, effektiv zu sein, die richtigen Dinge zu tun…“
Sie ließ den Satz bedeutsam in der Luft hängen als könne sie sich damit eine Erklärung ersparen. Und tatsächlich, schien Paul den tieferen Sinn zu verstehen.
„Und vor allem effizient“, knüpfte er an. „Die Dinge richtig tun“, sagte er auf geheimniskrämerische Art deutlicher, während er Isolde eindringlich musterte, deren Sprachlosigkeit einem ergebenen Nicken wich.
Als hätte die Erkenntnis des gegenseitigen Einverständnisses sie aller Worte beraubt, versanken sie im Stillschweigen und blickten sich in einer Tonlosigkeit an, die weniger betreten als gespenstisch wirkte.
„Apropos“, durchschnitt Isoldes Stimme das Schweigen und ließ Paul aus seinen Gedanken hochfahren.
„Du hast vorhin bemerkt, dass es dir lieber gewesen wäre, wenn deine Frau auf eine irgendwie freundlichere Art ums Leben gekommen wäre. Wie kann ich das verstehen?“
„Das habe ich nicht gesagt! “, brauste Paul auf. „Ich habe gesagt, dass es mir lieber gewesen wäre, wenn sie mir auf freundlichere Art abhandengekommen wäre – das ist ein Unterschied!“
Isolde entschuldigte sich kleinlaut. Paul nahm einen kräftigen Schluck aus dem Sherryglas und wischte sich schnaufend mit der Hand den Mund ab.
„Mir wäre es lieber gewesen, sie wäre mit einem anderen Kerl durchgebrannt. Mit einem ihrer Pinsel schwingenden Liebhaber. Ich war ihr nicht genug – verstehst du!“, sagte er nörgelig.
Isolde verstand nicht, nickte aber trotzdem.
„Sie war unersättlich! Eine Nymphomanin!“, brummte er abfällig und strafte Isolde mit einem vernichtenden Blick, die den Kopf schüttelte und nun rasch ihr Versehen durch ein zustimmendes Nicken korrigierte. „Glaub mir, sie konnte jeden haben. Sie hat gewusst, wie man aus Männern winselnde Hunde macht.“
Isolde nickte.
„Was nickst du? Glaubst du, dass ich auch zu diesen Schlappschwänzen gehöre?“, erboste er sich.
Isolde hielt es für ratsamer sich aus der ganzen Sache raus zu halten. Denn erstens, hatte sie den Eindruck, dass Paul mehr an einem guten Zuhörer als an einer objektiven Einschätzung lag, und zweitens, spürte sie, dass in seiner tiefen Verbitterung eine leise Bewunderung für seine Frau mitschwang. Ja, dachte Isolde, er war noch stolz auf dieses verfickte Luder, das ihn so schändlich betrogen hatte. In Anbetracht dieser Erkenntnis verkniff sich Isolde weitere Gesten und schwieg. Frei nach dem Motto, dass man Frauen wunderbar Probleme anvertrauen konnte, die man ohne sie nie gehabt hätte.
„Weißt du“, setzte Paul von neuem an und unterdrückte einen Rülpser. Er versuchte, konzentriert zu wirken, lehnte sich zurück und breitete ungelenk seine Arme über der Couchlehne aus, als wolle er über eine selbstverfasste Studie dozieren. Isolde nahm instinktiv Haltung an. Sie hatte das Gefühl, gut zuhören zu müssen, obwohl ihr nicht entging, dass sich bei Paul die ersten Verblödungserscheinungen des Alkohols bemerkbar machten.
„Frauen, die finanziell unabhängig sind“, hob er altklug an, “verfügen über ein geradezu rotzfreches Selbstbewusstsein, das sie über ihre Makel erhaben macht. Es beschert ihnen dieses zwanglose, selbstherrliche und frivole Auftreten, das keinerlei Zweifel aufkommen lässt, das zu bekommen, was sie sich vorstellen – nein falsch“, verbesserte er sich, „das zu bekommen, was ihnen zusteht. Jawoll. Und gerade diese Mischung aus übersteigertem Selbstwertgefühl und lüsternen Jagdtrieb verleiht ihnen sexuelle Ausstrahlung, was gleichzusetzen ist mit sexueller Macht!“
Paul musterte Isolde mit glasigen Augen, verzerrten Lippen und fallenden Lidern.
„Kannst du mir folgen?“, hakte er bleiern nach.
Jawoll, Isolde begriff, und fasste gedanklich zusammen: Frau musste gut bei Kasse sein, einen fetten Arsch haben, ein kurzes Kleid tragen, den eigenen Mann als Versager beschimpfen und eine treulose Tomate sein, dann wirkt man unwiderstehlich. Fazit: Männer wollen schlecht behandelt werden. Isolde senkte die Lider und schwieg. Sie maßte sich erst an, zu widersprechen, als Paul dazu überging, das weibliche Geschlecht im Allgemeinen zu verteufeln.
„Ihr Weiber seid alle gleich“, brabbelte er und winkte mit einer wegwerfenden Handbewegung ab.
„Ich nicht!“, begehrte sie auf. „Ich nicht…“, wiederholte sie leise und starrte orientierungslos ins Leere. „Ich habe meinen Mann geliebt. Ich habe ihn den Rücken freigehalten, seine Launen ertragen, seine Vorlieben toleriert, ihn in seinem beruflichen Fortkommen bestärkt. Ihn dazu ermutigt sich als Steuerberater selbstständig zu machen. Meine Sparguthaben geopfert, damit wir den Anbau finanzieren konnten, der für seine Praxis vonnöten war. Ich habe für ihn die Werbetrommel geschlagen, habe in seiner Kanzlei mitgearbeitet – ach was – abgerackert habe ich mich für ihn, obwohl ich den Job noch in der Bibliothek hatte. Mit dem Geld habe ich für unseren Lebensunterhalt gesorgt, weil er die ersten zwei Jahre kaum was verdient hat. Ich habe jeden Cent dreimal umgedreht. Mir keinerlei Luxus gegönnt, bin nie fremdgegangen, ich … ich habe alles falsch gemacht...“
Isolde stockte. Abgelenkt wandte sie sich Paul zu, der zusammengesackt und schnarchend in den Polstern lag. Sie lächelte nachsichtig.
„Ich bring dich jetzt ins Bett“, sagte sie geknickt, trank ihr Glas leer. Dann hievte sie Paul vom Sofa herunter. Paul brummte mürrisch. „Ich muss morgen früh raus.“
„Ja, ja“, beschwichtigte Isolde. Da sie selbst nicht mehr gut zu Fuß war, konnten sie sich nur schrittweise fortbewegen. Mehr taumelnd erklommen sie die Treppe, die zum Schlafzimmer führte.
„Du hast mich absichtlich besoffen gemacht“, maulte Paul. „Was hast du vor?“
Sie standen bereits am obersten Absatz der Treppe. Flüchtig schielte Isolde die Stufen hinab, ohne auf Pauls Frage einzugehen. Sie hatte genug damit zu tun, seine unsteten Gewichtsverlagerungen auszuloten. Fast hatten sie die Schlafzimmertür erreicht, als Paul sich plötzlich sträubte weiterzugehen und zutraulich seinen Kopf auf Isoldes Schulter legte.
„Mmh, du riechst gut … wie eine Blume. Wenn du eine wärst, dann bestimmt eine…“
Er schien angestrengt zu überlegen.
„Rose“, half sie ihm auf die Sprünge.
Paul hob Kopf und Zeigefinger gleichzeitig, als hätte ihn ein Geistesblitz ereilt und blickte sein Gegenüber mit zusammengekniffenen Augen an.
„Wenn du eine Blume wärst…“, säuselte er eindringlich und tippte mit seinem Finger auf Isoldes Brustkorb, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, „dann eine Nelke – jawoll.“
Verdutzt blinzelte Isolde auf seinen Finger, dann in sein Gesicht, als suche sie eine einleuchtende Erklärung für diese Behauptung.
„Nelke“, wiederholte sie ungläubig, „das ist ja eher ein unscheinbares Gewächs.“
Paul nickte kennerisch, während sich sein Mund zu einem fragwürdigen Grinsen verzog und sich seine Hand langsam Isoldes Mund näherte. Sanft hob er ihr Kinn an und strich mit seinem Daumen über ihre Unterlippe.
„Sind es nicht immer die Unscheinbaren, die die Welt bewegen?“, flüsterte er verheißungsvoll und bedachte Isolde mit einem herzerwärmenden Lächeln.
Isoldes Blick verschleierte sich. Sie hatte das Gefühl, als würde in diesem Augenblick ihr Leben neu beginnen. Isolde war jetzt gerade mal einen Tag alt.
„Ja, ja natürlich, Nelke“, hauchte sie, „die Blume der Arbeiterklasse, eine Blume, die Kampfgeist symbolisiert … ja, ja, natürlich, welch wunderbarer Vergleich … natürlich…“
Isolde, von einer Welle der Zärtlichkeit erfasst, fraß sich mit ihren Augen förmlich in Pauls Gesicht hinein, das ihr Tür und Tor zu öffnen schien, den Weg, ihre sehnlichsten Wünsche zu sättigen. Sie verspürte plötzlich einen unbändigen Heißhunger auf menschliche Wärme, auf Streicheleinheiten, auf Sex. Gab es überhaupt eine Sättigungsgrenze für all das? Wie paralysiert schloss sie die Augen und reckte ihr Kinn etwas höher und spürte, wie sich sein Griff spontan löste. Isolde schlug die Augen auf und sah Paul einen Schritt zurückschwanken.
„Was ist?“, fragte sie mit einem standhaft verklärten Ausdruck im Gesicht.
„Mir ist übel … mein Kopf.“
Isolde zwinkerte mehrmals mit den Augen als wäre sie durch ein Fingerschnippen aus der Hypnose erwacht. Hastig verwirrt ergriff sie seinen Arm und legte ihn um ihre Schulter. „Du musst ins Bett“, flüsterte sie besorgt, während sich Paul mit seinem ganzen Gewicht auf sie stützte. Ächzend stieß sie die Tür zum Schlafzimmer auf und ließ Paul wie einen Sack voll Zement aufs Bett plumpsen. Entkräftet atmete sie aus, dann legte sie seine herunterhängenden Beine aufs Bett, zog ihm Schuhe und Socken aus. Um etwas zu verschnaufen, setzte sie sich auf die Bettkante und wartete ab, bis sich Pauls flatternde Lider beruhigt hatten, sich seine Gesichtszüge entspannten und er friedlich grunzend einnickte.
„Ich werde deinen Schlaf behüten“, flüsterte sie und strich zärtlich über seine Stirn.
Sie nahm seine rechte Hand und drückte sie an ihre Wange. Die Wärme seiner Haut entlockte ihr ein wohliges Seufzen. Zärtlich liebkoste sie seine Finger, seinen Handrücken, leckte den Schweiß von der Innenfläche und begann an seinem Ringfinger zu lutschen. Wie betäubt schloss sie dabei die Augen und schluckte den metallischen Gegenstand, der sich widerstandslos unter ihren Lippen löste, einfach hinunter.
„Wenn ich meine Seele dem Satan verkaufen könnte, um deine Liebe zu bekommen, würde ich es tun“, murmelte sie beschwörend, wobei sie schmachtend über seinen Körper blickte. Bei dem Gedanken, dass er ihre Liebe nicht erwidern könnte, war ihr zum Heulen zumute, bei der Vorstellung, dass er sich eines Tages einer anderen zuwenden könnte, dachte sie ans Sterben. Sie schüttelte sich, als könne sie sich damit dieser Gefahren erwehren und versuchte, an etwas Angenehmeres zu denken. Sie überlegte, ob sie Paul gefälligkeitshalber auch der anderen Kleidungsstücke entledigen sollte. Zögerlich löste sie sie Gürtelschnalle seiner Hose, öffnete den Reißverschluss, während sie Paul im Auge behielt. Mit viel Fingerspitzengefühl gelang es Isolde, ihr schlafendes Opfer bis auf die Unterhose zu entkleiden. Mit einer Mischung aus diebischem Interesse und beschämtes Lustgefühl begutachtete sie seinen halbnackten Körper. Paul besaß all das, was nach Isoldes Maßstäben ein gestandenes Mannsbild auszeichnete. Mit unterdrücktem Verlangen musterte sie seinen schlanken Körper, seine behaarte Brust, um letztlich auf dem verhüllten Mittelteil hängen zu bleiben. Zögerlich legte sie ihre Hand auf seine enge Unterhose. Eine flüchtige Berührung nur, die Paul mit einem plötzlichen Atemstillstand quittierte. Isolde zog zurück, überlegte fiebernd, ob sie mit einer erneuten Berührung die Atemblockade bereinigen könnte. Sie entschied sich dagegen. Stattdessen hielt sie ihm die Nase zu. Paul röchelte. Isolde ließ von ihm ab und atmete erlöst auf, als Paul ungehindert weiterschnarchte. Einige Sekunden lang blieb sie noch auf der Bettkante sitzen, bevor sie sich ebenfalls aufs Bett legte. Sie achtete darauf, dass die Matratze langsam und nicht ruckartig nachgab. Genau so behutsam schmiegte sie sich an seinen Körper heran. Ihren Kopf legte sie auf seinen Oberarm, ihre Hand auf seine Brust, ihre Gewissenbisse schob sie beiseite. Und als hätte sie damit das Maß der Zumutbarkeit ausgeschöpft, hielt sie ganz still und passte sich Pauls Atemrhythmus an. Das gemeinsame Heben und Senken ihrer Oberkörper, die Wärme und der Geruch seiner Haut versetzten sie in eine Art selige Hochspannung. Genießerisch sog sie Pauls Duftwolke ein. Ein animalischer Cocktail, der sich aus Tabak und Schweiß, Aftershave und dem herben Sherry zusammensetzte. Wie von Geisterhand gelenkt, glitt ihre Hand Zentimeter für Zentimeter an Pauls Körper hinab und verschwand unter dem elastischen Material seiner Unterhose. Ängstlich erregt lauschte sie Pauls Atem, der sich geräuschvoll, aber gleichmäßig fortsetzte. Auf keinen Fall wollte Isolde, dass Paul erwachte. Nichts lag ihr ferner, als Paul einen amourösen Dienst zu erweisen, den sie wohlmöglich mit Zurückweisung bezahlte. Nein, sie wollte mehr. Isolde wollte sich Zugang zu seinem Inneren verschaffen. Sein Gespür für das Mysteriöse sensibilisieren. Ihn verhexen und sich mit ihren intimen Streicheleinheiten in sein Unterbewusstsein schleichen. Auf dem Gipfel seiner Sinneslust sollten sich ihre Konturen vor seinem geistigen Auge verschärfen. Ja, er sollte in ungreifbarer Ferne ihr Gesicht sehen. Vielleicht sogar ihren Namen flüstern – in dem Moment, in dem er abspritzte. Nur so, glaubte Isolde, könne sie Pauls Zuneigung gewinnen, auch wenn es eine verwirrte und nebulöse war. Egal. Isolde hatte keine Zeit mehr, sich der Illusion hinzugeben, noch irgendeine herkömmliche Wahl zu haben. Noch kam sie sich vor wie eine amorphe Schlampe. Aber bald, dachte sie, bald werden sich meine Fragmente zu einem Sinnbild der Lust zusammenfügen. Dann bin ich kein gestaltloses Wesen mehr, sondern eine Liebesgöttin – eine Venus – eine Falle!
Mit diesem Gedankenpoker im Kopf, schloss sie die Augen und dämmerte in trunkener Verzückung vor sich hin, während Pauls Männlichkeit in ihrer Hand zum Leben erwachte. Ein unterdrücktes Stöhnen, das eine aufbäumende Bewegung nach sich zog, riss Isolde aus ihrem Nickerchen. Beinahe zeitgleich, spürte sie einen warmen Schwall in ihrer Hand. Reflexartig ballte sie ihre Hand zur Faust. Isolde lächelte erhaben. Geduldig ließ sie noch ein paar Herzschläge verstreichen, bevor sie einen Blick auf Pauls Gesicht warf, das keinerlei Regung zeigte. Paul schlief tief und fest. Vorsichtig, ohne sich von Pauls schlafendem Antlitz zu lösen, zog sie ihre Hand aus seiner Hose. Ihre Augen blitzten gefräßig. Ihr Lächeln verwandelte sich in ein irres Kichern, als sie ihre Hand öffnete und gierig die erbeutete Männermilch von ihrer Handfläche ableckte.
Isolde bemerkte nicht, wie Pauls Augen dabei auf sie herabstarrten.