13. Kapitel
Keuchend kippte Isolde den letzten Schubkarren mit Erde auf die Wiese. Hier auf diesem brachliegenden Acker, der direkt an ihren Garten grenzte, war sie sicher. Hier sah sie kein Mensch, hier war es totenstill. Nur Mephisto saß als stiller Beobachter auf seinem Ast und hielt Wache. Von hier aus konnte sie direkt in ihren Garten blicken, direkt auf Pauls Grab. Sieht aus wie ein frisch angelegtes Beet, dachte Isolde, während sie ihren schmerzenden Rücken begradigte.
Wenn du eine Blume wärst, dann wärst du bestimmt eine Nelke… Sie hatte seine bleierne Stimme noch im Ohr, den säuerlichen Geschmack seines Atems noch in der Nase, sein Gesicht vor Augen. Dieses Gesicht, das ihrer Meinung nach, keinen Fehl und Tadel, keine Hinterlist barg. Das vorgab ein Schlaraffenland zu sein. Sie hatte sich nicht daran sattsehen können. Sie wollte es behalten. Vorzugsweise lebendig. Aber das Schicksal ließ ihr keine Wahl.
Isolde streifte ihre Handschuhe ab, betrachtete gleichgültig die Blasen an ihren Händen und warf die Handschuhe in den leeren Schubkarren.
„Ich werde Nelken auf sein Grab pflanzen“, murmelte sie.
In den Stunden danach zog sie sich zurück und überließ sich ihrem Groll. Hegte und pflegte, fütterte und tränkte ihn mit Vorwürfen, Erinnerungen, Eingeständnissen und Hass.
Mittlerweile hatte sie vier Menschenleben auf dem Gewissen.
Zeit der Abrechnung. Isolde schrieb ihren letzten Brief.
Liebe Göttinnen und Götter der Liebe, begann sie wie üblich.
Sie zögerte, strich die Anrede durch und ersetzte sie durch Hochverehrte Liebe. Wieder strich sie durch. Diesmal so heftig, dass die spitze Feder das Büttenpapier zerriss. Ihre Hand zitterte und klammerte sich verkrampft an die Schreibfeder. Mit zusammengebissenen Zähnen versuchte sie es aufs Neue. Diesmal in Druckschrift und in Großbuchstaben und über das ganze Blatt verteilt.
Ihre Feder kratzte – V E R Ä T E R I N!
Lange starrte sie auf die messerscharf geritzten Buchstaben, die sie beinahe körperlich zu spüren glaubte. Bis sie geistesabwesend begann, das Papier in kleine Stücke zu reißen und die Schnipsel in ihren Mund stopfte.
„Verräterin“, nuschelte sie kauend.
Die Augen leblos ins Leere gerichtet, würgte sie den Papierbrei hinunter und spülte mit Sherry nach.
„Verräterin“, wiederholte sie. Diesmal schreiend. Sie warf das Glas an die Wand, das zu Boden fiel, aber nicht zerbrach. Abrupt verfiel sie in ein hysterisches Lachen. Verhedderte sich einem irren Kichern, bis sie von einem heftigen Weinkrampf überwältigt mit dem Kopf auf dem Schreibtisch aufschlug. Einmal, zweimal …, in der Hoffnung, den Schmerz nicht zu spüren. Dann wäre alles nicht wahr, alles nur ein Albtraum. Aber die Realität ist eine gnadenlose Regentin, die Wert auf ihren schlechten Ruf legt. Es tat weh, so entsetzlich weh. Es half ihr auch nichts, mit geballten Fäusten auf der Tischplatte herumzutrommeln und alle Utensilien, die sich darauf befanden, mit einer wirschen Handbewegung herunterzufegen. Der Schmerz ließ nicht nach. Alles fühlte sich echt an. Die Scherben des Lampenschirms, den sie niedergemacht hatte, das Brennen ihrer Fäuste, das Salz ihrer Tränen. Nur kurz verebbte ihr Schluchzen und wich einer alarmierenden Anspannung. Wie jemand, der auf Erlösung hoffte, hob sie den Kopf und lauschte der Stimme, die von draußen zu ihr hereindrang. Aber es war nicht der geheimnisvolle Singsang einer spirituellen Erscheinung, die sie in diesem Moment der Verzweiflung herbeisehnte. Die ihr Absolution erteilte, nein, es war lediglich der irdische Ruf ihrer Nachbarin, Frau Müller, die den Namen ihrer Katze rief.
„Muschi … wo bist duuu … Muschilein!“
Isolde hielt sich die Ohren zu, atmete tief ein und aus, schloss die Augen, versuchte sich zu fangen. Das Leben geht weiter, irgendwie, irgendwo, irgendwann…, dachte sie.
Sie kroch aus ihren Schultern hervor. Stand auf, klaubte Papier und Schreibfeder zusammen und startete einen neuen Versuch.
Böse Liebe, schrieb sie.
Du bist das Unglück auf hohen Hacken,
die Hoffnung auf Krücken,
der Wahnsinn auf Stelzen,
die Phantasie im freien Fall!
Du bist böse! Und böse ist alles, was nicht gut ist! Du bist verabscheuenswert, weil du hinterhältig, selbstherrlich, berechnend, kaltblütig und verlogen bist! Aber das weißt Du selbst! Nur ich habe es nicht gewusst! Und selbst wenn ich es gewusst hätte, dann hätte ich es nicht geglaubt! Wie auch? Wer, wenn nicht ich, hätte sich Deinem verführerischen Zuzwinkern entziehen sollen. Wer, wenn nicht ich, hätte Deinen lüsternen Lockruf trotzen können. Ich war dazu prädestiniert auf Deine Schmeicheleien hereinzufallen. ICH, war das ideale Opfer Deiner Machtgier. Eine einsame Jungfer. Eine gehorsame Sklavin, die alle Probleme aus dem Weg geräumt hat, damit Du mir keine mehr machst! Eine einfältige Närrin, die über Leichen gegangen ist, um Dich am Leben zu erhalten. Ich war Deiner in Aussicht gestellten Wollust auf den Leim gegangen wie ein naiver Freier einer Hure! Ja, genau – HURE! Du bist die Hure aller Gefühle! Dein Preis war hoch. Ich habe ihn bezahlt und keine Gegenleistung erhalten! Deswegen stelle ich Dir jetzt meine Ausgaben in Rechnung. Meine Opfer!!! Was sind sie Dir wert? Nichts, wie ich annehme! Aber so billig kommst Du mir nicht davon! Ich verlange einen Schuldschein! Du schuldest mir Deine Schuld! Jawohl! Du bist die Drahtzieherin, die wahre Täterin – die Mörderin meiner Opfer! Du wirst Dich anklagen lassen. Du wirst gestehen! Du wirst alle Schuld auf Dich laden!!
Der Urteilsspruch wird nicht lauten:
Isolde Brösel hat aus Liebe getötet, sondern
die Liebe hat Isolde Brösel getötet!
Damit sind wir quitt!
Wenn Du mir wieder zuzwinkern solltest, haue ich Dir ein blaues Auge! Wenn Du mich anquatschst, haue ich Dir eins auf die Fresse! Ich weine Dir keine Träne nach! Du hast mich in den Ruin gestürzt und ich habe Dich in meinem Garten begraben!
Wie heißt es so schön? Es ist das Geheimnis des Lebens, dass wir alles überstehen!
Amen, hätte Paul jetzt vermutlich gesagt.
Wie tröstlich, sage ich!
Landshut den 9.9.2011
Isolde Brösel geb. Hackethal
Isolde faltete den Brief sorgfältig zusammen, beträufelte die Nahtstelle des Umschlags mit Wachs und drückte ihren Zeigefinger hinein. Sie erhob sich von ihrem Stuhl, kam ins Wanken, verschaffte sich Halt an der Tischkante, blieb so lange stehen bis sich die schwarzen Sprengel vor ihren Augen auflösten. Ich bin sternhagelvoll, stellte sie fest, als sie die kleine Treppe hinabstieg, die zum Hinterausgang in ihren Garten führte, dabei eine Stufe verfehlte und stolpernd gegen die Tür polterte. Ungelenk schloss sie die Tür auf, ging in den Garten, blieb stehen, blickte sich desorientiert um. Es war wieder früh am Morgen. Die Vögel plärrten sich die Seele aus dem Leib. Die Morgensonne glotze sie strahlend an. Isolde verzog gequält das Gesicht und kniff geblendet die Augen zusammen. Wieso zwitschern die Vögel? Wieso scheint die Sonne? dachte sie – sie vermisste das unheilvolle Krächzen der Krähen.
Taumelnd lief sie auf die Buche zu. Entgegen ihrer Gewohnheit hielt sie den Brief diesmal in der Hand. Obwohl sie genau wusste, dass das ihren Aufstieg behindern würde, tat sie es gleichwohl. Steifbeinig kletterte sie Sprosse für Sprosse hinauf. Als das Vogelhäuschen in Sichtweite war, verfehlte sie eine Sprosse. Rutschte ab, schlug mit dem Kinn auf einer weiteren auf, versuchte sich an etwas Greifbarem zu klammern. Sie griff ins Leere, verlor die Balance, verlagerte ihr Gewicht. Die Leiter kippte ächzend nach hinten. Stand nun kerzengerade. Haltlos, bereit zum freien Fall. Isolde hatte keine Möglichkeit mehr, richtungweisend einzugreifen. Sie schloss die Augen. Feilte gedanklich an einem Stoßgebet, spürte wie die Leiter ihre Richtung fand – rückwärts, was sonst, dachte sie noch, bevor sie aus Leibeskräften zu schreien begann.
„Alles gut“, war das erste, was Isolde nach ihrem Sturz zu hören bekam, obwohl alles nach einer Katastrophe aussah und sich auch so anfühlte.
Typisch Müllerin, dachte Isolde und bedachte ihre Nachbarin, die wie das Leiden Christi neben ihr kniete, mit einem knappen Nicken.
„Nicht bewegen!“, klang da schon weitaus vernünftiger. Isoldes Augen folgten den Worten des Rettungsarztes. „Wir werden Sie jetzt vorsichtig in eine Art Luftbett schweißen, damit Sie keine Schmerzen beim Fahren verspüren“, erklärte der Arzt.
Luftbett klingt gut, dachte Isolde. Vielleicht ist es ja gar nicht so schlimm.
„Glauben Sie, Herr Doktor, dass sie sich den Halswirbel gebrochen hat?“, erkundigte sich Frau Müller mit tränenerstickter Stimme, „und in Zukunft im Rollstuhl…“
Der Arzt schwieg. Isolde spürte den Druck, mit dem sich die aufgeblasenen Polster um ihre Knochen schmiegten.
„Mein Brief“, krächzte sie. Sie war nicht mehr imstande mit Hilfe ihrer Hand an die vermutete Stelle zu deuten.
„Ist in guten Händen“, beruhigte Frau Müller und klopfte bedeutsam auf die Tasche ihrer Kittelschürze. „Mach dir bloß keine Sorgen Isolde, du kannst dich auf mich verlassen. Werde dir gleich ein paar Sachen fürs Krankenhaus zusammenpacken.“
Isolde blieb stumm. Ihr schwante Böses.
Fünf Minuten später war Isolde trotz behutsamer Blaulicht-Fahrt schon im Kreiskrankenhaus eingeliefert.
So wie die Dinge stehen, werde ich mit Blaulicht von dort auch wieder abgeholt werden, dachte sie.
Nun lag sie in einem Spitalbett und starrte auf ihr eingegipstes Bein, das an einer Art Flaschenzug von einem Gestänge über dem Bett hing.
„Ich hänge fest“, wimmerte sie.
Sie war übermüdet, fror, hatte die ganze Nacht nicht geschlafen. Die Angst klapperte wie ein Schreckgespenst in Holzpantinen durch Zimmer. Das Gespenst erzählte ihr mit viel Liebe zum Detail Gruselgeschichten aus dem wahren Leben. Ahmte die Stimmen der Toten nach. Kroch zu ihr ins Bett. Nahm sie in den Arm, bis Isolde der kalte Schweiß von der Stirn rann, und klatschte Beifall, wenn Isolde schreiend aus ihrem Sekundenschlaf hoch schreckte.
„Ich bin todmüde“, jammerte Isolde um Erbarmen flehend.
Tod wäre besser, hauchte ihr die Angst eiskalt ins Ohr.
Zur gleichen Zeit stand Frau Müller in Isoldes Schlafzimmer und inspizierte mit regem Interesse den Kleiderschrank. Immer wieder musste sie den kleinen Hund zur Ordnung rufen, der wie ein Wirbelwind um sie herumfegte. Damit sie bloß nichts vergaß, hatte sie sich eine Liste angefertigt, auf der alles notiert war, was man für einen Krankenhausaufenthalt benötigte. Das Wichtigste hatte sie schon sorgfältig in einer Reisetasche verstaut. Fehlte nur noch die Unterwäsche. Sie zog das entsprechende Fach auf. Aber ihr Interesse galt plötzlich nicht mehr dem gebügelten Baumwollsortiment, das fein säuberlich geordnet in der Schublade lag, sondern der silbernen Schatulle, die im hinteren Eck versteckt zum Vorschein kam. Frau Müller mutmaßte, dass es sich dabei um Schmuck oder Bargeld handelte. Schließlich hatte sie ihre Habseligkeiten ebenfalls im Kleiderschrank versteckt. Obwohl ihr Mann als Postbote nicht üppig verdiente, war es ihr im Laufe der Jahre gelungen, einiges von ihrem Haushalsgeld abzuzwacken und ein kleines Vermögen anzuhäufen. Sie verspürte daheim ein geradezu sinnliches Gefühl, wenn sie über die gebügelten Geldscheine streichelte, sie nach Farben ordnete. Kein Sparzins hätte ihr diesen Lustgewinn ersetzen können. Dieses Geld war real. Diese Scheine rochen nach Sicherheit, in der ein hauchzarter Duft von Unabhängigkeit mitschwang. Nur allzu gut konnte sie Isolde verstehen, die ganz offensichtlich diese Leidenschaft mit ihr teilte. So kam Frau Müller nicht als potentielle Diebin in Frage. Nein, das war sie wirklich nicht. Sie war nur neugierig, ob sich Isoldes Werte mit den ihrigen messen konnten. Mit dem nötigen Respekt löste sie die beiden Einweckgummis, die um die Keksdose gebunden waren und öffnete den Deckel.
„Briefe“, brummte sie enttäuscht, „wie langweilig.“
Sie hatte die Schachtel bereits wieder verschlossen, um sie wieder an ihren Platz zu legen, als sie es sich doch noch anders überlegte. Wer weiß, dachte sie, vielleicht steht ja was Schweinisches drin. Erwartungsvoll legte sie sich aufs Bett und begann die Briefe sporadisch durch zu sehen. Alle Briefe befanden sich in Couverts. Alle Briefe waren mit der gleichen Handschrift versehen. Alle Briefe waren von Knut, ihrem Mann. Der Müllerin wurden die Knie weich, sie wollte aufstehen und alles ignorieren, doch begann sie zu lesen, ohne das zu wollen, ohne es zu verstehen. Las quer, um den schlüpfrigen Details zu entgehen. Überflog, um den Tatsachen zu entfliehen. Trotzdem schmuggelten sich Silben, Worte, ja sogar ganze Sätze, in ihr Hirn ein.
„Ich liebe deine schönen Füße, deinen schönen Hals – das ist kein Schmalz! Mein Röschen, mein Döschen, ich liege gedanklich in deinem Schößchen.“
Das war Schmuggelware der untersten Kategorie, aber machte die Sache auch nicht erträglicher. Weitaus angenehmer war da schon die Tatsache, dass ihre Nebenbuhlerin nun schwerverletzt im Krankenhaus lag. Vielleicht wird sie ja nie mehr ihre schönen Füße und ihren schönen Hals bewegen können, dachte die Müller. Wenn doch, so sinnierte sie finster, muss ich mir was einfallen lassen. Bevor ich freiwillig das Feld räume, muss diese langzottelige Hexe dran glauben. „Langzottelig“, wiederholte sie leise murmelnd, während sie ihr Gedächtnis nach Anhaltspunkten abgraste. Sie hätte zum Zeitpunkt des Unglücks nicht zu sagen gewusst, was an Isolde anders war als sonst. Jetzt wusste sie’s, sie hatte keine Haare mehr…
Die Müllerin schlüpfte aus ihrer Kittelschürze, warf sie auf einen Stuhl, streifte sich Hose und Pullover glatt, ergriff die gepackte Reisetasche, schloss den Hund im Zimmer ein und begab sich auf den Weg ins Krankenhaus. Sie fühlte sich gerüstet, hatte eine Entscheidung getroffen. Gute Miene zum bitterbösen Spiel zu machen, war eine Herausforderung, der sie sich zu stellen gedachte.
Isolde indes lag in ihrem Bett, hörte Radio und dämmerte vor sich hin. Die Musik tat gut, drängte ihre Gewissensbisse in den hintersten Winkel ihres Bewusstseins, erstickte die schwelenden Gedanken, die den Geruch von Schuld verströmten. Die Angst war ihren Stimmungsschwankungen erlegen.
„Du siehst aus wie der aufgewärmte Tod“, begann die Müllerin, als sie das Krankenzimmer betrat, zynisch, wie es eigentlich gar nicht ihrer naiven Art entsprach.
„Danke“, erwiderte Isolde gleichmütig.
„Wie geht’s?“, hakte die Müllerin nach.
„Siehst du doch.“
„Also schlecht“, vergewisserte sich die Müllerin mit unterdrückter Erleichterung. „Gibt es denn keine Hoffnung mehr?“
„Hoffnung für was?“
„Na, dass du wieder laufen kannst.“
„Weglaufen, meinst du wohl“, knurrte Isolde abweisend.
Das wäre schön, dachte die Müllerin und empfahl gedanklich das Jenseits.
„Tja, da musst du jetzt durch und dich mit den Gegebenheiten abfinden, das ist hart, aber du hast dir das ja nun irgendwie auch selbst eingebrockt.“
Sie wirkt bedrückt, innerlich aufgewühlt, dachte Isolde. Sie verheimlicht mir etwas, sie hadert mit ihrem Gewissen – sie hat meinen Brief gelesen, weiß jetzt, dass ich eine Mörderin bin.
„Ja, du hast Recht“, erwiderte Isolde vage. Vor ihrem geistigen Auge verwandelte ein Polizeibagger ihren Garten in ein Schlachtfeld.
„Kann ich sonst noch was für dich tun. Hast du vielleicht noch einen letzen Wunsch“, unterbrach die Nachbarin Isoldes Gedanken. „Soll ich deine Blumen gießen oder irgendetwas in deinem Garten erledigen? Mir ist aufgefallen, dass du da ein neues Beet errichtet hast. Soll da was Bestimmtes eingepflanzt werden? Du kannst mir ruhig vertrauen.“
„Nein!“, schrie Isolde entsetzt auf, fing sich jedoch gleich wieder, schon weil der Schmerz ihre Heftigkeit bremste.
„War ja nur eine Frage“, entgegnete die Müllerin, fast etwas beleidigt.
„Bist ja nun einige Zeit weg, wer weiß wie lange, und wenn du wieder auf freien Fuß bist, dann kannst du dich vielleicht nicht mehr so bewegen. Was haben denn die Ärzte gesagt?“
„Es ist nicht so schlimm wie es aussieht.“
„Sieht aber aus, als wäre es sehr schlimm“, ließ Frau Müller nicht locker.
„Ich habe eine Rippenfraktur, zwei Rippen sind gebrochen, meine Kniescheibe ist auch gebrochen, mein Oberschenkel auch, mein Halswirbel ist nur angeknackst, mein Arm war ausgekugelt…“
„Das ist ja schon allerhand“, stellte die Müllerin zufrieden fest.
„Nun ja, das mit meiner Kniescheibe macht mir am meisten Sorgen, könnte sein, dass ich dann…“
„Hinke“, ergänzte die Müllerin eifrig.
„Wir werden sehen“, gab sich Isolde reserviert. „Das Leben ist voller Überraschungen.“
Die Müller nickte einsichtig.
„Du kannst mir einen Gefallen tun“, fuhr Isolde fort. „Dort in meinem Kleid ist ein Coupon für ein Preisausschreiben. Kannst du den bitte in den Postkasten werfen? Ach, und noch was…“
„Ja?“
Isolde betrachtete abschätzend ihre Nachbarin und überlegte, wie sie möglichst unauffällig auf den verhängnisvollen Brief zu sprechen kommen könnte. Aber nach Verlauf des Gesprächs, hatte sie nun doch Angst schlafende Hunde zu wecken.
„Nelken, äh, du könntest Nelken in das Beet pflanzen.“
„Nelken“, wiederholte Frau Müller. „Ich glaube, da habe ich sogar noch ein Sortiment zu Hause herumliegen. Bin ja nicht so der Nelkentyp – aber eine robuste Pflanze, einfach nicht tot zu kriegen.“
„Sonst noch was?“
„Ja, den Hund musst du versorgen, ja, und die Post – wäre schön, wenn du sie mir regelmäßig vorbeibringen würdest, und, ach ja, Bücher, bring mir Bücher mit!“
„Ja, gute Idee“, kommentierte die Müller altklug. „Ich habe da jetzt ein sehr interessantes Buch gelesen. Stimmen aus dem Jenseits – das solltest du unbedingt lesen.“
Die Müllerin tätschelte Isoldes Hand.
„Kopf hoch, meine Liebe. Ach so, entschuldige, das geht ja gar nicht“, verbesserte sie sich und blickte betreten auf Isoldes Halskrause. „Ach, was ich dich noch fragen wollte. Wo ist eigentlich dein Zopf abgeblieben?“
„Abgeschnitten“, murmelte Isolde zerstreut.
„Nun“, gab sich die Müller geheimnisvoll, „wenn Frauen ihre Haare abschneiden, hat das immer etwas zu bedeuten. Dann haben sie in der Regel einen Mann zu beklagen.“
Isolde wich dem forschenden Blick ihrer Nachbarin aus.
„Man wird ihn vermissen“, stellte Frau Müller bedauernd fest
und wandte sich zur Tür.
„Wen … wen wird man vermissen?“, quäkte Isolde ihr nach.
„Na, deinen Zopf natürlich!“