Prolog
Im Schein des Mondes stand Isolde in ihrem Garten. Es war eine schwülwarme Sommernacht. Die Grillen zirpten. Aus weiter Ferne schrie ein Käuzchen. Ein wenig abseits lag Pauls Leiche.
Isolde schaufelte. Sie tat es, als würden ihre Hände ein eigenes Leben und ihre Bewegungen einer eigenen Choreographie folgen. Sie kam sich vor wie ein prähistorisches Ungeheuer, das nur im Mondschein zum Leben erwacht.
Isolde war es gelungen, ihn auf ihren Rücken zu hieven. Das erschien ihr einfacher als den Mann in ein Laken zu wickeln und davonzuschleifen. Sie wollte Spuren vermeiden, aber auch keine Gegenstände bei sich behalten, die sie später mit ihm in Verbindung bringen könnten. So trug sie Pauls Leiche im Huckepack durch die Terrassentür, hinaus in den Garten und zwängte sich durch die kleine Lücke in der Thujenhecke hindurch. Der kalte Adrenalinstoß gab ihr die Kraft. Dabei musste sie daran denken, dass sie ihn eigentlich mal auf Händen tragen wollte. Aber das war lange her.
Ganze drei Stunden.
Weitermachen, weitermachen! Isoldes Hände schmerzten. Aber sie schaufelte weiter. Sie tat es, bis die Grube tief genug war, das Käuzchen schwieg und die Dämmerung wie eine Verräterin den Horizont hinauf kroch.
„Nichts wie raus aus dieser Totengruft“, keuchte Isolde. Sie warf die Schaufel über den Grubenrand, hielt sich an einer Wurzel fest und kletterte hinaus.
„Zwei Meter lang, ein Meter breit und zwei Meter tief – Die Bilanz einer Liebe … Einer bösen Liebe“, murmelte sie während sie in die Grube starrte. Sie fühlte sich wie betäubt, erschöpft auch von der Arbeit und doch blitzten vereinzelt die Gedanken. Jeder hat seine eigene Art seine Liebe zu begraben, ging ihr durch den Kopf, ihre Methode gehörte ganz sicher nicht zu den gängigsten.
Isolde wurde plötzlich schwarz vor Augen. Ihre Knie zitterten. Sie überkam das Gefühl den Boden unter den Füßen zu verlieren. Nur nicht schlapp machen. Bitte, nicht jetzt. Ein Kniefall vor diesem Grab, nein, das war blanker Hohn. Isolde sackte auf die Knie.
Sie brauchte dringend eine Verschnaufpause. Aber der heranbrechende Tag duldete keine Extrawürste. Sie nahm die Schaufel wieder zur Hand, zog sich mühselig daran empor und erstarrte in ihrer Bewegung.
Ihr Herz hämmerte. Was war das? Ein Schatten. Eine Bewegung. Ein Rascheln. Direkt in ihrer Nähe. Sie war sich ganz sicher. Ängstlich verwirrt folgte Isolde dem Geräusch.
Im Zeitlupentempo bewegte sie den Kopf, blieb mit den Augen an Pauls Leiche hängen. Fixierte seinen Kopf. Sie konnte nicht glauben, was sie sah.
Mephisto? Isolde bewegte ihre Lippen, aber es kam kein Laut heraus.
„Mephisto, bist du das?“, Isoldes Stimme zitterte.
Doch Mephisto reagierte nicht auf seinen Namen. Er kam auch nicht, wie er das sonst tat, auf ihre Schulter geflattert. Mephisto, der Rabe, hackte unbeirrt auf Pauls Gesicht ein.
Ich hätte ihm doch die Augen schließen sollen. Dieser Gedanke setzte für einige Augenblicke Isoldes Reaktionsvermögen außer Gefecht.
Er spürt ja nichts mehr. Er ist tot, war die logische Schlussfolgerung, die dem Grauen den Schrecken nahm und Isolde wieder bewusst handeln ließ.
Mit der Schaufel in der Hand versuchte sie, den Raben zu verjagen. Vergebens. Der Rabe ließ sein Opfer nicht aus den Augen. Den Vogel mit der Schaufel zu verletzen, brachte Isolde nicht übers Herz. Auch wenn sie mit ansehen musste, wie der Rabe Hautfetzen aus dem Gesicht des Toten hackte. Isolde liebte Tiere. Leider auch solche, die ihren Opfern die Augen herauspickten. Abrupt wandte sie sich von dem schaurigen Szenario ab. Die Angst saß ihr in den Knochen, die Zeit im Nacken. Die Vorstellung, dass die Leiche eine ganze Schar von Mephistos Artgenossen anlocken könnte, ließ Isolde erschaudern. Dass es gleich hell werden würde, versetzte sie in Panik. Sie musste sich sputen. Die Leiche verscharren. Mit oder ohne Vogel, das war ihr jetzt egal. Mit beiden Händen umklammerte sie die Beine des Toten und schleifte die Leiche zum Grubenrand. Der Kolkrabe spreizte die Flügel, erhob sich und suchte sich auf dem Erdhügel neben dem Grab seinen Platz. Mit ein, zwei kräftigen Fußtritten stieß Isolde die Leiche in den Abgrund. Sie biss sich auf die Lippen, zog den Kopf ein, als könne sie damit den dumpfen Aufprall abfedern. Isolde widerstand der Idee, noch einen letzten Blick auf die Leiche zu werfen.
Eine gute Stunde später stand Isolde mit hängenden Schultern vor dem zugeschütteten Grab. Sie überlegte, was es noch alles zu tun gäbe. Ein Gebet sprechen – für sich. Den Rest der ausgehobenen Erde sollte sie auf dem angrenzenden Feld verteilen. Das Grab bepflanzen – Stiefmütterchen, Primeln, Salat? Irgendwas.
Isolde lauschte der Kirchturmglocke. Sie zählte in Gedanken mit. Es war 6 Uhr. Ein schöner Morgen. Sie hörte den Bach plätschern, die Vögel zwitschern und sie spürte die Sonnenstrahlen, die nun langsam durch die Nebelschwaden drangen. Ein friedliches Idyll, das nach Leben roch.
Entspannt schloss Isolde ihre Augen und sog die frische Morgenluft ein. Das frische Gras duftete. Vor ihrem inneren Auge sah sie sich selbst hier in der Morgenfrische stehen: Sie, die gewissenhafte Buchhändlerin, die sich stets für andere verantwortlich fühlte. Sie, die Suppen auslöffelte, die ihr andere eingebrockt hatten. Sie sah sich, die erfolgreiche Bogenschützin, die stets ins Schwarze traf, aber im richtigen Leben daneben zielte. Ja, sie sah auch die alternde Schabracke, mit diesem lächerlichen weißen Fetzen am Leib, der nach totem Schweiß und fremder Pisse stank.
Isolde öffnete die Augen und bewegte abweißend ihre rechte Schulter.
„Verschwinde!“, zischte sie. „Lass mich in Ruhe, du stinkst nach Tod.“
Aber nichts geschah.
Isolde ließ den abgeschnittenen Zopf, den sie wie eine Peitsche in der Hand hielt, in ihre linke Handfläche federn.
Ihr wurde erst jetzt das Groteske ihrer Situation klar. Ein verbissenes Lächeln kräuselte ihre Mundwinkel.
Ja, da stand sie nun, dachte sie. Sie, die vierfache Mörderin, mit einem Raben auf der Schulter, der sich nicht verjagen ließ. Isolde spürte einen warmen Schwall auf ihren Rücken. Mephisto war nicht stubenrein.