1. Kapitel

 

Immer wieder stach sie zu. Erst zaudernd. Von einem natürlichen Ekelgefühl gelenkt. Dann energischer, wie eine Besessene, die gegen die Aussichtslosigkeit ihres Tun angekämpft.

Es war schwülheiß an jenem Tag. Eine drückende, feuchte Hitze, die jedes überflüssige Wort im Keim erstickte und jede Bewegung in einen Kraftakt verwandelte. Eine Hitze, die still und unheilvoll über dem Land brütete und jeden vernünftigen Menschen ins Haus oder in ein schattiges Plätzchen kriechen ließ. Isolde besaß diese Möglichkeit. Sie hätte ins Haus gehen oder sich mit einem kühlen Getränk unter ihren Sonnenschirm setzen können – ein schattenspendendes Ungetüm, das sie im Preisausschreiben des „Landshuter Volksblatts“ gewonnen hatte. Aber Isolde hatte mit Wichtigerem als dem Wetter zu tun. Sie schenkte auch der knisternden Spannung keinerlei Beachtung, die sich mehr und mehr unter dem bleiernen Dunstschleier auflud. Gebückt, mit einem kleinen Plastikeimer am Handgelenk, schleppte sie sich über die Terracottafliesen, leise vor sich hinfluchend, durch Pflanzen und Sträucher und stach mit einer Gabel auf die Nacktschnecken ein, die auf dem besten Weg waren, alles in ihrem Garten zu vertilgen, was noch grün und saftig war.

Freilich hätte es genügt, die illegalen Einwanderer mit der Gabel nur aufzupieksen und sie dann am Rand des Eimers abzustreifen, statt den Tieren alle vier Zinken in den Rücken zu rammen. Aber Isolde war verzweifelt und wütend. Zudem wollte sie mit ihrer Methode das Risiko ausschalten, dass ihr die kleinen Schleimer wieder aus dem Spielzeugeimerchen krochen. Davon abgesehen neigte Isolde nicht zu halben Sachen. Entweder tat sie etwas ganz oder gar nicht. Das galt nicht nur für die Schnecken. Also stach sie zu. Unermüdlich und konsequent. Bis ein kehliges Krächzen sie ablenkte und ihre Aufmerksamkeit erregte. Isolde begradigte ihren Rücken, schirmte mit der Hand die Augen und verfolgte erwartungsfroh einen Kolkraben, der sich auf den Ast des Baumes niederließ. Eine alte Buche, mit einem mächtig verdrehten Stamm. Einige Äste waren kahl und sahen aus wie die Klauenfinger eines boshaften Dämons. Dieses knorrige Gebilde war der einzige Baum in Isoldes Garten. Er diente nicht nur als Zufluchtsort für die Rabenvögel, sondern er barg auch ein Geheimnis. Versteckt zwischen dem Geäst, fand sich ein Vogelhäuschen, das in Wahrheit ein Briefkasten war. Eine okkulte Zufluchtstätte, die Isoldes geheime Gedanken und Wünsche beherbergte. Sie brachte derlei in einsamen Stunden zu Papier. Genau genommen waren es Bettelbriefe, die sie schrieb. An eine imaginäre Macht gerichtet. Eine Macht, um deren Gunst sie unerbittlich buhlte. Bettelte, wie es nur Menschen können, denen das rationale Bewusstsein, diese Zensurbehörde gutbürgerlichen Lebens, irgendwo zwischen Kümmernis und Hoffnungslosigkeit abhanden gekommen ist. Es tat ihr gut, sich einer höheren Instanz anzuvertrauen. Ihr Herz auszuschütten. Ein bisschen mit dem Schicksal zu feilschen. Ihm detaillierte Tauschangebote zu machen. Nein, sie wollte ja gar nichts geschenkt haben. Sie war sich bewusst, dass die geheime Macht für ihre Wünsche ein angemessenes Opfer verlangte. Aber da war zugleich die Angst, nicht erhört zu werden. Sich als einfältige Bittstellerin lächerlich zu machen, und womöglich noch als Verrückte zu gelten, die ein Vogelhaus für einen Briefkasten für dämonische Postdienstleistungen hielt.

 

Isolde lächelte und betrachtete den Raben, dem das Gefieder wie Pech im Sonnenlicht glänzte. Sie bewunderte die Art wie der Vogel auf dem Ast saß. Jene erhabene Gleichgültigkeit, wie sie nur Rabenvögel vortäuschen konnten.

„Mephisto!“, rief Isolde und streckte ihren linken Arm aus.

Der Rabe folgte dem Ruf, breitete seine Schwingen aus und landete mit geräuschvollem Flügelschlag auf Isoldes Schulter.

 

Vor vier Jahren hatte Isolde dem Vogel das Leben gerettet. Gerade noch rechtzeitig glückte es ihr, das Rabenküken aus den Krallen von Nachbars Katze zu befreien. Es war schwer verletzt. Mit Herzblut und Geduld gelang es Isolde, den kleinen Unglücksraben aufzupäppeln. Seitdem wich ihr der Rabe nicht mehr von der Seite, selten von der Schulter. Eine Marotte, die Isolde nicht gern duldete, da der Rabe dazu neigte, an diesem Platz seine Notdurft zu verrichten.

 

„Ich hab was Leckeres für dich“, lockte Isolde. Sie ließ den Raben auf ihren Handrücken hüpfen und setzte ihn anschließend auf dem Rand des Eimers ab. Lächelnd sah sie ihm zu, wie er sich eine Schnecke nach der anderen aus dem Schleimergrab herauspickte.

„Die hättest du dir auch selbst fangen können. Da hätte ich mir die Schinderei ersparen können“, beklagte sie sich. „Außerdem hast du viel bessere Augen als ich.“

Das ernste Gespräch zwischen Frau und Vogel wurde plötzlich gestört. Isolde vernahm Stimmen. Ein komplizenhaftes Kichern. Werde ich beobachtet? Machte sich jemand über sie lustig? Nein, sie sah niemanden. Misstrauisch äugte Isolde zum Nachbargrundstück hinüber, gut verborgen hinter der angrenzenden Thujenhecke. Sie war sich sicher, dass es nur von da drüben kommen konnte, dieses Kichern, das sich nun mit einer anzüglichen Nuance wiederholte. In geduckter Haltung schlich Isolde die Büsche entlang und spähte an einer kahlen Stelle hindurch. Direkt in Nachbars Garten, direkt auf das Schwimmbecken. Doch was sie sah, ließ sie zurückzucken. Sie hatte damit gerechnet, neue Nachbarn zu sehen, wahrhaftig, das hatte sie. Schließlich konnte ihr gestern der große Möbelwagen kaum entgangen sein, der noch am Abend vor der Villa stand, nicht der erste des Tages. Wenn man mal davon absah, dass die Herrschaften ihr Umzugsgeschäft an einem Sonntag verrichten mussten, hatte soweit alles seine Ordnung. Und dass Isolde trotz ihres Feldstechers nicht genau erkennen konnte, welcherlei Habseligkeiten die sonntäglichen Fuhren bargen, war auch nicht weiter tragisch. Sie hätte ja beim Ausladen mit anpacken und sich somit einen Überblick über den Wohngeschmack der Ankömmlinge verschaffen können. Es wäre nicht verkehrt gewesen zu wissen, wer oder was sich da einnistet: Kultivierte Spießer oder halbseidenes Gesindel. Jetzt war Isolde schlauer. Die Frau, die da nackt und mit gegrätschten Beinen auf ihrem beleibten Hinterteil klebte, war mit Sicherheit nicht viel älter als Isolde. Ende Vierzig, wenn nicht gar Anfang Fünfzig. Aber das war auch schon alles, was es in der ersten Schrecksekunde an Gemeinsamkeiten zu erhaschen gab. Erst beim zweiten Blick, stellte Isolde fest, dass ihre neue Nachbarin noch über andere Qualitäten verfügte – nicht bloß über Schamlosigkeit. Die Dame verfügte über eine beträchtliche Oberweite und einer glatt rasierten Scham – auch nicht unbedingt Isoldes Naturell.

Was Isolde am heftigsten fuchste: Das Weib hatte ein Mannsbild bei sich. Kein Schönling, eher ein drahtiges Gestell, in seiner grazilen Art einem Grashüpfer nicht ganz unähnlich. Er schien trotz seiner körperlichen Reizlosigkeit, immerhin, ein einfühlsamer Kerl zu sein, der sich mit viel Liebe zum Detail um die Belange dieser Weibsperson kümmerte. Zärtlich ölte er ihren Rücken ein, ihre Brüste, und liebkoste ihren Nacken. Eine Geste, die von ihr mit einen wonnigen Stöhnen quittiert wurde.

Diese Frau wusste, wie stark die Kraft der Erotik war. Und sie hatte, eingeölt, wie sie sich da unter seinen Fingern bewegte, gewiss keinen blassen Schimmer davon von wie viel Sehnsucht das Leben verfinstert wurde, wenn sie nicht vorhanden war. Die Erotik. Isolde wusste es.

War es jetzt nur der Schmerz der Entsagung, der nackte Futterneid, der über Isoldes Neugier siegte? Sie zog sich zurück hinter ihr schützendes Gebüsch. Das ist ja nicht zu fassen! Isolde dachte nach. Fassungslosigkeit über diese sittliche Entgleisung? Nein, das war es nicht allein. Ihr grub sich die Botschaft ins Herz, die dieser Blickfang ihr brachte:

Schaut her! Wir lieben uns! Wir genießen den Sex! WIR SIND GLÜCKLICH! Glück – ja genau das war es – Glück! Das Ergebnis, das unterm Strich übrig blieb.

Wie lange war es her, dass sie zuletzt von ganzem Herzen Glück verspürte? Isolde überlegte. Sie konnte sich nicht erinnern. Beileibe nicht. Nach dem Tod ihres Mannes, hatte sie sich einen guten Freund zugelegt – den Alkohol. Der konnte ihr zwar nicht hundertprozentig, aber doch zumindest hochprozentig versprechen, dass er ihr das Leben erträglicher machte. Glück, das hatte sie sonst nur in seinen flüchtigen Formen erlebt: Ein wunderschöner Sonnenuntergang oder ein gewonnenes Preisausschreiben. Vielleicht war das ja die Rache des Schicksals? Eine Art Fluch, der auf ihr lastete. Aber ihr Mann war nun schon seit sieben Jahren tot. Den haben doch schon längst die Maden aufgefressen. Wie sollten ein paar abgenagte Knochen ihr Leben beeinflussen? Nein, Isolde war nicht abergläubisch. Aber sie neigte zur Schwermut. Ein Ergebnis, das aus einer Verkettung unglücklicher Umstände resultierte. Oberflächlich betrachtet gehörte sie zu den Menschen, denen man Stimmungen nicht anmerkt. Die mit Gleichmut alles hinnehmen und kommentarlos registrieren, was das Leben bietet. Ein Trugbild. Isolde nahm gern am Leben anderer teil. Sie liebte es, den Erfahrungen anderer zu lauschen. Weniger den guten Dingen, als den bösen. Und noch lieber mochte sie es, wenn man ihr ein Geheimnis anvertraute. Die waren von Haus aus delikat. Da musste sie nicht so tun, als ob sie sich mitfreute, wenn man ihr irgendwelche glücklichen Sachen erzählte. Dann konnte sie sich ausgiebig am Gespräch beteiligen, statt immer nur mit einem „Echt!“, „Großartig!“ oder „Wunderbar!“ freundliches Mitgefühl zu flunkern. Es waren die seelischen Abgründe ihrer Mitmenschen, die Isolde aus der Reserve lockten. Die Unbekümmertheit, mit denen diese Menschen auf den Tretminen ihrer Eitelkeit herumhopsten. Die Leichtfüßigkeit, mit der sie vor den Selbstschussanlagen des Liebeswahns lustwandelten, weil sie den lächelnden Totenkopf nicht ernst nahmen, der auf dem Warnschild prangte und mit den qualvollen Niederungen der menschlichen Existenz drohte: Waidwund, herzwund, liebestot.

 

Zum Beispiel ihre Kollegin, mit der sie aushilfsweise in der Gemeindebücherei in Landshut arbeitete, balancierte seit geraumer Zeit auffallend beschwingt im Reich des Lächelns. Ich sehe es doch, wenn’s Lächeln wie eine Unterleibskrankheit daherkommt. Während ihrer Urlaubsreise nach Kenia, hatte die liebe Frau Kollegin sich in einen Einheimischen verliebt. Einen waschechten Schwarzen. Und das, obwohl Margit die Sechzig schon überschritten hatte und ihr als Kirchenchorleiterin ein doch solide konservativer Ruf anhaftete. Isolde wurde als Erste ins Vertrauen gezogen und wusste die Ehre wie stets zu würdigen. Wird Bayern nicht schon von den Schwarzen regiert? Sie verbot sich jede rassistische Anspielung, sondern bestärkte Margit in ihrem Vorhaben, den schwarzen Mann nach Deutschland zu holen. Ihm ein menschenwürdiges Zuhause zu bieten. Ihn behutsam in die Zivilisation einzuführen und ihm etwas Ordentliches zum Anziehen zu kaufen. Von Isoldes Seite gab es keinerlei Einwände. Weder was den kulturellen noch was den Altersunterschied betraf. Nur ganz verkneifen konnte sie sich die Frage nicht, ob es denn stimmt, dass diese Wilden ein derartig beachtliches Geschlechtsteil besitzen? Doch hatte Margit keinerlei sachdienlichen Auskünfte erteilt und nur an Isolde vorbeigestarrt. Margits Blick, so glaubte Isolde zu erkennen, ging dabei doch leicht ins Spermatöse. Ansonsten fragte Isolde nur belanglose Sachen: Was denn nun aus Rudi, Margits Ehemann, werden solle. Der kann ja nun vor dem schwarzen Mann nicht einfach davonlaufen, weil er doch seit seinem Schlaganfall im Rollstuhl sitzt.

Margit zuckte nur pikiert mit der Schulter:

„Ich lebe nur einmal“, hat sie gesagt, ihre Schultern gestrafft und die kerzengerade Haltung der strikten Chorleiterin eingenommen.

Isolde nickte zustimmend und ergänzte, dass das eigene Leben viel zu kurz sei, als dass man sich allzu viel Gedanken um die Leben anderer machen sollte.

Doch Margit hatte da schon wieder ihren abwesenden Blick, mit dem sie jetzt so oft zum Fenster hinausblickte, als ob sie von hier aus tief nach Süden schauen könnte.

„Übrigens“, begann sie unvermittelt zu sprechen.

Isolde war eigentlich schon auf dem Sprung, hatte sich verabschiedet, voll Vorfreude, sich daheim bei einer Tasse guten Bohnenkaffees – sie sagte das immer so, als gäbe es anderen – Margits finstere Zukunft mit Rudi, dem Rollstuhlmann und auswärtigem Neger auszumalen.

„Der Alfonso, der hat noch einen Bruder...“

Margits erwartungsvoller Blick ruhte auf Isoldes hochrotem Kopf. Isolde schluckte hörbar. Sie hatte Mühe, den drängenden Unterton in Margits Stimme zu verdauen.

„Ist der genau so schwarz?“, stieß Isolde glucksend hervor und strich sich einen imaginären Fussel vom Kleid.

„Hast du etwa was gegen Farbige?“ Margit hatte sich aufgerafft und sich vor Isolde aufgebaut.

„Nein ... nein“, beteuerte Isolde im Brustton der Überzeugung. „Ich denke nur, je schwärzer desto...“

„Leidenschaftlicher!“, vervollständigte Margit mit fiebrigen Augen.

„Man kann sich auch in seiner Leidenschaft verlieren“, widersprach Isolde zaghaft.

„Damit hat man weniger verloren, als wenn man seine Leidenschaft verloren hat“, setzte Margit dagegen.

„Ja, aber das ist das Problem. Ich bin doch eher eine...“

Isolde suchte nach dem richtigen Wort. Eine andere Bezeichnung für bodenständig, das schwebte ihr vor.

„Du gehörst nun mal nicht zu den Frauen, die nur an einem Stieleis zu lutschen brauchen, um den Männern zu einem dritten Standbein zu verhelfen“, half Margit ihr auf die Sprünge, begleitet von einem spöttischen Blick.

Da war Isolde der gleichen Meinung. Aber dafür hatte sie andere Qualitäten. Sie hielt sich für selbstbewusst und unternehmungslustig. Schließlich nahm sie aller vier Jahre als polnische Edelfrau am Landshuter Hochzeitszug teil. Soweit musste es Margit erst mal bringen. Bei diesem historischen Event durfte Margit bloß als Magd teilnehmen. Keine Glanzrolle, ganz am Ende des prunkvollen Trosses einen Holzkarren voll mit lebendigem Federvieh hinter sich herzuziehen. Wogegen Isolde hocherhobenen Hauptes, mit einer goldbestickten Schleierhaube, an der Spitze des Hochzeitszugs an der Seite eines stattlichen Edelmanns dahin schreiten durfte und sich von Schaulustigen mit Blütenblättern bewerfen ließ. Außerdem durfte sie an dem anschließenden Hochzeitsschmaus und allen damit verbundenen Festivitäten auf der Burg Trausnitz teilhaben. Grund genug, Margit Paroli zu bieten. Aber so weit kam es nicht. Margit erstickte Isoldes aufkeimenden Widerspruch mit einer wegwerfenden Handbewegung.

„Papperlapapp, du weißt nicht, was dir entgeht! Welch Wonnen, welch Glücksgefühl, welch Leidenschaft!“ Margit sagte es mit Pathos. Und mit dem Wortschatz der Chorleiterin. Mit einem so melodramatischen Ausdruck im Gesicht, dass Isolde sie mit großen Augen bestaunte – bis Margit abrupt unterbrach, ihre Arme, in die Hüfte stemmte und mit dem nüchternen Satz abschloss:

„Du wirst noch an mich denken…“

 

Jetzt hatte sie erreicht, was sie wollte, dachte Isolde verzagt. Als Zaungast durfte sie nun an den wollüstigen Wonnen, Leidenschaften, Glücksgefühlen oder wie das Zeugs so alles hieß, teilhaben. Wer hätte gedacht, dass sich Margits Prophezeiung so rasch bewahrheiten würde. Zufall? Oder hatte sich Margit zur Voodoohexe gemausert? Wenn überhaupt, kam nur eine schicksalhafte Fügung infrage, die jedes Detail, was zu einem Ergebnis beiträgt, zu einer Geschichte zusammenknüpft. Aber wessen Geschichte? Isoldes? War sie nicht schon längst erzählt? Ad acta gelegt und staubte im Archiv der Tragödien als drittklassiges Trauerspiel vor sich hin? Oder gab es wohlmöglich einen Neuanfang? Gern hätte sie diesen Gedanken zu Ende gesponnen. Mit allerlei Visionen und Träumen zu einem provisorischen Netz verwoben. Aber das aufreizende Stöhnen aus Nachbars Garten hatte sich zu einem atemlosen Ächzen emporgerungen. Alarmiert lugte Isolde durchs Gestrüpp. Wer weiß, dachte sie. Vielleicht war dieser schlüpfrige Akt bereits die Einleitung oder gar das erste Kapitel einer neuen Geschichte. Isolde schlug das Kreuz, erst die Stirn, dann die Brust, dann die rechte, dann die linke Schulter. Sich bekreuzigen, das tat sie sonst nie…

 

Die nackte Frau hatte mittlerweile einen Stellungswechsel

in eine Position vorgenommen, die Isolde auf Anhieb an eine rossige Stute erinnerte. Ob dieses Weibsbild das aus eigenem Antrieb tat? Oder stand sie unter der Führung ihres Rittmeisters? Isolde hatte es nicht mitbekommen. Auf alle Fälle hatte die Ahnungslose das Gesicht nun ihrer heimlichen Beobachterin zugewandt. Sich mit beiden Händen am Beckenrand festgeklammert und ihr Hinterteil ihrem von Lüsternheit geilen Galan entgegengestreckt. Auch er befand sich nun in der Zielgeraden, auf Blickhöhe zu Isolde. Isolde wäre es lieber gewesen, wenn sich die beiden Nackten von der seitlichen Perspektive präsentiert hätten. Nicht, weil sie der Anatomie des männlichen Geschlechts besonderes Interesse beimaß. Keineswegs. Aber dann bestünde weniger Gefahr für sie, mit einem der beiden Augenpaare zu kollidieren. Dankenswerterweise waren die beiden Akteure voll und ganz in ihrem Liebesspiel vertieft. Während der Mann immer wieder sein Augenmerk auf das Hinterteil der Frau richtete, mit seiner Hand drauf schlug und mit gierigem Interesse das rhythmische Stoßen seines Ständers verfolgte, warf die Nackte ekstatisch ihren Kopf in den Nacken und griff sich fiebrig erregt, mit der einen Hand zwischen die Beine. Die Frau wirkte herausfordernd, bestimmte die Geschwindigkeit der Bewegungen und feuerte ihren Partner mit kommandoähnlichen Zurufen an. Isolde spitze die Ohren, verstand aber nichts von all dem, was die Frau sagte – oder besser: befahl. Das herannahende Donnergrollen übertönte ihre Worte. Abschätzend starrte Isolde in den Himmel, wo von Osten her eine schwarze Wolkenmauer heranrückte. Was die beiden aufeinander Herumreitenden aber nicht zur Kenntnis nahmen. Unbeirrt rangen sie sich dem Gipfel ihrer Fleischeslust empor, als könne sie keine Naturgewalt von diesem Ziel abhalten. Jedenfalls keine himmlische Naturgewalt. Isolde hatte Angst vor Gewitter. Immer wieder zuckte sie ängstlich zusammen, da es inzwischen nicht nur markerschütternd laut donnerte, sondern von fast allen Himmelsrichtungen her zu blitzen begann. Ein Unwetter, das drohte zu einem lebensgefährlichen Hexenkessel hochzukochen. Trotzdem konnte sie sich nicht von dem bizarren Schauspiel lösen. Sie war fasziniert. Geradezu überwältigt, mit welch furchtloser Hingabe die Liebe ihren Gesetzmäßigkeiten folgte. Wie sich Natur und Leidenschaft aufwiegelten. Miteinander! Gegeneinander? Isolde war geduldig. Gebannt sah sie ihnen zu, wie sie keuchten, sich abhetzten, zuckten. Wie ihre Körper dem Regen trotzten, der sintflutartig auf sie herabprasselte. Wie der Donner sie anbrüllte. Ihre animalischen Laute mit Heißhunger verschlang und sich ihre glitschigen Leiber im Blitzlicht aufbäumten. Bis sie sekundenlang wie ein Standbild, in ihrer Bewegung verharrten. Mit klappernden Zähnen fieberte Isolde mit. Stieß versehentlich selbst einen spitzen Schrei hervor und wartete ab, dass noch irgendetwas geschah. Etwas Dramatisches. Ein Finale. Ein Inferno. Aber sie wurde enttäuscht. Die beiden Nackten wurden nicht vom Blitz getroffen. Sie lösten sich aus ihrer Erstarrung. Rappelten sich auf und eilten mit tapsigen Schritten auf die Terrassentür zu, die zum Wohnzimmer des großen Hauses führte. Isolde sah, wie sich der Raum erleuchtete, konnte schemenhaft einen Klavierflügel und einen Kamin erkennen sowie eine geschwungene Treppe, die in die obere Etage führte. Völlig durchnässt raffte sich nun auch Isolde auf und trat mit butterweichen Knien den Rückzug an. Sie lief wie in Trance über ihre Beete, durch die aufgeweichte Erde. Blieb an Sträuchern hängen, bis sie die Hintertür ihres Hauses erreichte. Sie stolperte die kleine Kellertreppe hinauf, die in die Diele führte. Strich sich ihre schlammigen Sandalen ab und stellte sie sorgfältig in den Schuhschrank hinein. Mit nassen Füßen patschte Isolde die Stufen zum Schlafzimmer hinauf. Setzte sich, ohne das Licht anzuknipsen, aufs Bett und blickte apathisch auf die Spiegel des Kleiderschranks, der ihr direkt gegenüber stand. Sie vermisste ihr Spiegelbild. Sie wartete. Überlegte. Bis sie dahinter kam, dass etwas nicht stimmte. Ach ja, das Licht, und dass sie fröstelte, fiel ihr auch noch ein. Also stand sie auf, schaltete das Licht an und zog ihre durchnässte Kleidung aus. Das geblümte Leinenkleid und den Schlüpfer. Einen Büstenhalter trug sie nicht. Das klatschnasse Kleid hängte sie korrekt auf einen Bügel. Sie öffnete sachte die schwere Spiegeltür und hängte das Kleid in den Schrank, ohne sich an dessen Zustand zu stören. Sie kramte aus dem Schrank eine Flasche Sherry hervor, die sie als eiserne Reserve in einem Stiefel versteckt hatte und nahm einen beherzten Schluck. Sie schob die Spiegeltür wieder zurück und taxierte mit scheuem Interesse den nackten Körper, der ihr gegenüberstand und offensichtlich nicht so recht wusste, was er zu seiner Rechtfertigung zu sagen hatte. Isolde betrachtete mit abschätzendem Interesse ihr Gesicht. Ja, nun, ihr Gesicht. Das war so eine Sache. Es besaß das gewisse Nichts. Nichts Ausdrucksvolles, nichts Rätselhaftes, nichts Verräterisches. Ein Gesicht, das man sich nur einprägen konnte, wenn es über die Stränge schlug. Eindringlich begutachtete sie den matten Glanz ihrer heufarbenen Augen, die wirkten, als könnte sie kein Wässerchen trüben. Plötzlich wurde sie von einer inneren Unruhe erfasst. Ihr Herz hämmerte. Nichts Besonderes. Isolde kannte diese Panikattacken und wusste, was sie zu tun hatte. Sie zog sich den gestreiften Herrenbademantel über, der auf dem Bett lag, verknotete mit geschicktem Griff ihren langen blonden Zopf zu einem schneckenförmigen Gebilde und rülpste. Dann verstaute sie die Sherryflasche wieder im Kleiderschrank und schob die Spiegeltür mit einem energischen Ruck zu.

Eine Art Rausschmiss … unter Freunden.