7. Kapitel

 

Isolde lag noch wach, als die fahlen Schatten der Morgendämmerung in den Raum krochen. Sie hatte ihren Kopf auf ihren abgewinkelten Arm gestützt und betrachtete Pauls Gesicht.

Wenn du eine Blume wärst, dann eine Nelke…, sinnierte sie stumm und immer wieder vor sich hin, als hätte sie seine Worte wie ein delphisches Orakel in ihre Seele inhaliert. Trotz allem quengelten sich Zweifel an der Verbindlichkeit seiner Aussage zwischen ihre Gedanken. Nein, dachte sie und wimmelte Bedenken kopfschüttelnd ab. Er war noch nicht besoffen genug, als dass er sich über die Bedeutung seines Lippenbekenntnisses nicht im Klaren gewesen wäre. Es war eine verschlüsselte Liebeserklärung, deren Code zu knacken es keiner besonderen Fähigkeiten bedurfte. Das Passwort “Zuneigung“ stand auf seiner Stirn geschrieben. Der Zugang führte direkt in seine Augen. Sie brauchte sich nur einzuloggen und schon war sie ans Netzwerk seiner Gefühlswelt angeschlossen. Isolde war sich sicher, dass es hier keine Trojaner gab.

Zufrieden blickte sie auf den Reisewecker, der direkt gegenüber auf der Nachtkommode stand. Paul wollte 8.30 Uhr aufstehen, um einzukaufen. Einen Grabstein wollte er kaufen, ja, das hatte sie gestern Nacht noch einigermaßen nüchtern aufgeschnappt. Jetzt war es erst 6.00 Uhr. Sie überlegte, wie sie die Zeit am besten überbrücken könnte. Obwohl ihr der Schlaf fehlte, ihr beinahe die Lider zuklappten und sie sich viel lieber an Paul herangekuschelt hätte, folgte sie ihrem Instinkt dieser Verlockung nicht auf den Leim zu gehen. Eine Frau im Bett, die ihren Rausch ausschläft, anstatt sich um ein kräftiges Frühstück zu kümmern, erweckt keinen guten Eindruck. Außerdem musste sie dringend aufs Klo. Vorsichtig tastete sie sich aus dem Bett und schlich auf Zehenspitzen zur Tür hinaus. Im Flur angekommen, öffnete sie einige Türen, bis sie das Badezimmer gefunden hatte. Staunend blickte sie sich um. Eine ebenerdige Duschkabine für zwei Personen aus grün getöntem Plexiglas, eine farblich dazu abgestimmte Schrankwand mit integrierter Beleuchtung, eine ovale, im Boden versenkte Badewanne aus schwarzem Marmor, golden gerahmte Spiegel an den Wänden, ein Badeteppich aus echtem Nerz – das zeugte von einem Lebensstil, den Isolde nur aus Büchern und Filmen kannte. Skeptisch musterte sie die marmorne Toilettenschüssel mit goldener Klobrille. Eine gewöhnungsbedürftige Ausführung, die Isolde mehr an einem Thron als an einen Gebrauchsgegenstand erinnerte. Wenn ich die Wahl hätte, würde ich jeden herkömmlichen Wald- und Wiesenbusch vorziehen. Aber ihre voranschreitenden Blähungen ließen ihr keine Wahl. Mit dem ihr verfügbarem Potenzial an Würde nahm sie Platz und versuchte, anfallende Geräusche zu vermeiden. Der gegenüberliegende Spiegel gab Isolde Gelegenheit, sowohl ihre Mimik als auch ihre Körperhaltung dem Niveau des Raums anzupassen. Pervers, dachte Isolde verständnislos. Wie kann man sich einen Spiegel ausgerechnet dort hinhängen, und dann auch noch so ein riesiges Teil. Hat sich diese Hexe wirklich für so schön gehalten, dass sie sich sogar beim Scheißen beobachten musste? Isolde hob majestätisch ihr Kinn und korrigierte die unvorteilhafte Stellung ihrer Beine, während sie geziert nach den Feuchttüchern langte. Anschließend erhob sie sich würdevoll und begutachtete mit akribischem Interesse ihren Stuhlgang.

„Ich bin ein Goldesel“, stellte sie fest.

Unter Zuhilfenahme einer Haarklemme grub sie geschickt den Ring aus ihrer Notdurft, wusch in sauber und ließ ihn in ihrem Kleid verschwinden. Reflexartig drückte sie auf eine metallene Zierfliese an der Wand, von der sie annahm, dass es sich dabei um die Spülung handelte. Aber da tat sich nichts. Auch eine genauere Inspektion des Umfelds blieb erfolglos. Isolde wurde nervös. Verzagt klappte sie den Klodeckel zu – die Spülung setzte sich beinahe geräuschlos in Gang.

„Hexenwerk!“, zischelte sie bissig.

Wesentlich entspannter gestaltete sich Isoldes Suche nach einer Zahnbürste. Sie durchstöberte einige Schubladen und fand mehrere original verpackte Zahnbürsten. Sie entschied sich für eine grüne, ihre Lieblingsfarbe. Sie wusch sich zuerst Gesicht und Hände, dann löste sie die Zahnbürste aus ihrer Verpackung, putzte sich gründlich die Zähne und stellte die Zahnbürste anschließend in den goldenen Zahnputzbecher. Die Zahnbürste der Toten warf sie in den Toiletteneimer. Anschließend wandte sie sich den Schminkprodukten in der gläsernen Vitrine zu, die eindeutig zu den Hinterlassenschaften der Toten gehörten. Beinahe ehrfürchtig legte sie die schönen Dinge, mit denen sie sich ihr Gesicht verschönert hatte, an ihren Platz zurück, richtete ihr Haar und betrachtete sich eingehend im Spiegel. Schon lange nicht mehr, hatte sie ihrem Spiegelbild so viel Beachtung geschenkt und schon lange nicht mehr gefiel ihr das, was sie sah. Isolde verließ das Badezimmer, schlich die Treppe zum Foyer hinab und durchforstete Pauls Jacke, die am Garderobenständer hing. Sie wollte gerade das Haus verlassen, als sie ein bekanntes Geräusch vernahm. Der Hund, dachte sie. Ohne lang zu überlegen, schnappte sie sich das Körbchen, das immer noch im Wohnzimmer auf dem Tisch stand und verließ mucksmäuschenstill das Haus. Dabei achtete sie darauf, dass sie von niemandem entdeckt wurde. Ihre Armbanduhr zeigte 7.15 Uhr an. Also brauchte sie sich nicht zu beeilen, um den Bus um 7.30 zu erreichen. Die Haltestelle war gerade mal fünf Minuten entfernt. So schlenderte sie wie eine Schulschwänzerin des Weges dahin und sprach mit dem Hund, der leise und in merkwürdig verschraubten Tönen, vor sich hinjaulte.

„Ja, ja schon gut, du hast Kohldampf, ich kauf dir dann eine große Wurst. Apropos Wurst, vielleicht willst du ja dein Geschäft verrichten...“

Sie blieb stehen, band das Tier vom Henkel des Körbchens los und führte ihn an der Leine hinter einen Haselnussbusch.

„Brav, lobte sie, als sie ihm dabei zusah, wie er sich entleerte. Gleichzeitig kramte sie nach einem Erfrischungstuch, das sie stets bei sich trug und wischte dem Hund das Hinterteil ab. Sie überlegte kurz, ob sie das Tier wieder ins Körbchen legen sollte, entschied sich aber anders und ließ den Hund an der Leine laufen. An der Bushaltestelle angekommen, vertrieb sich Isolde die Zeit damit, den Autos nachzuschauen, die in hoher Geschwindigkeit an ihr vorbeischossen. Ein Lkw-Fahrer hupte. Isolde blickte ihm verwundert nach und hob, mehr reflexartig als beabsichtigt, die Hand. Der Lastwagen setzte den Blinker und kam einige Meter von ihr entfernt zum Stehen.

Grundgütiger, der will mich doch nicht etwa aufladen, dachte sie. Im gleichen Augenblick sah sie, wie die Beifahrertür geöffnet wurde. Der Fahrer sein schütteres Haupt herausstreckte und sie heranwinkte. Vielleicht will er mich nur nach dem Weg fragen, fiel ihr ein und lief zögerlich auf den LKW zu.

„Kann ich Sie mitnehmen?“ Der Fahrer sprach im bayerischen Dialekt, war nicht mehr der Jüngste und besaß ein einfaches, aber vertrauensvolles Gesicht.

„Ich warte auf meinen Bus – ich hab’s nicht eilig“, erwiderte Isolde fröhlich.

„Ich auch nicht! Kommen’s steigen’s ein!“

Isolde stieg ein.

„Übrigens, ich bin der Sepp. Man nennt mich auch Kapitän der Landstraße … das ist meine Stammroute…“

„Wie interessant, und die Damen dort…“, Isolde verwies mit dem Kinn auf die am Armaturenbrett befestigten Spielkarten, auf denen sich nackte Schönheiten präsentierten, “gehören sicher zu Ihrer Stammcrew?“

Sepp nickte lebhaft und lachte geschmeichelt.

„Wo müssen’s denn hin, hübsche Frau?“

„Nach Essenbach, zum Baumarkt“, antwortete Isolde.

„Fesch, und auch noch praktisch veranlagt, ha, was will ein Mann mehr!“, stellte Sepp leichthin fest.

„Ich kann auch gut blasen“, entgegnete Isolde trocken und musterte ihr Gegenüber mit dem Charme eines Feldwebels.

„Oh“, stieß Sepp verblüfft hervor.

„Ja“, beteuerte Isolde. „Aber machen Sie sich keine Hoffnungen, ich bin schon vergeben.“

„Oh“, wiederholte Sepp nervös, wobei er mit den Fingern auf dem Lenkrad klimperte.

Isolde hingegen regulierte die Lautstärke des Radios und begann munter vor sich hin zu pfeifen. Sie hatte ihre Beine ausgestreckt und die Füße auf das Armaturenbrett gelegt. Ihr langer Rock war etwas nach oben gerutscht. Sepp registrierte es aus den Augenwinkeln heraus. Bei jeder anderen Frau, hätte Sepp diese Pose als einladend gewertet und einen Annäherungsversuch gestartet. Aber bei Isolde widerstand er dem Impuls, versuchsweise seine Hand auf ihren Schenkel zu legen. Warum, konnte er selbst nicht erklären. Stattdessen wurde ihm heiß, er begann zu schwitzen und schielte wiederholt mit gesenktem Blick auf Isoldes gebräunte Beine – so, als suche er nach einer Erklärung für seine Zurückhaltung.

„Sie sind nicht sehr gesprächig, wie?“, holte Isolde aus, während sie entspannt ihren Kopf zurücklehnte und geradeaus blickte.

Sepp räusperte sich ertappt und zuckte hilflos mit den Schultern.

„Och“, mehr brachte er nicht zusammen.

„Haben Sie eigentlich gewusst“, fuhr Isolde im Plauderton fort, „dass Männer im Durchschnitt 11-mal am Tag eine Erektion haben?“

Sepp spürte den erwartungsvollen Blick seiner Beifahrerin auf sich geheftet und fragte sich, warum ihm diese Frau so komische Sachen erzählte. Wie eine Frau überhaupt über so einen Schweinskram reden konnte – die sieht doch eigentlich ganz harmlos aus, dachte er weiter und schwieg.

„Schon erstaunlich, wie?“, resümierte Isolde unbeschwert. „Vor allem, wenn man bedenkt, dass es sich lediglich um den Durchschnitt handelt. Was ja nichts anderes heißt, dass die einen 20-mal am Tag einen Ständer haben und die anderen vielleicht nur 2-mal und der Rest über die Morgenlatte nicht hinauskommt.“

Sepp stieß einen verunglückten Lacher hervor und sah angestrengt auf die Fahrbahn, so als stünde ein komplizierter Parcours bevor.

„Ja, ja“, seufzte Isolde versonnen und streichelte ihren Hund.

„Wie heißt er denn?“, versuchte Sepp vom Thema abzulenken.

„Hund, einfach nur Hund! Wenn er eine große Tat vollbringen sollte, werde ich ihm einen Namen geben“, erwiderte Isolde gleichgültig.

„Zu welcher Sorte gehören Sie eigentlich? Zum oberen oder unterem Durchschnitt?“, fuhr sie übergangslos fort.

„Das geht Sie nichts an“, brummte Sepp peinlich berührt.

„Schade“, entgegnete Isolde, „es hätte mich halt nur so studienhalber interessiert, ob, na ja … ob Sie bereits eine Erektion hatten, als Sie mich gesehen haben oder ob Sie erst jetzt eine haben.“

„Weder noch.“

„Sind Sie sicher“, hakte sie nach.

„Ja“, hüstelte Sepp verschleimt, wobei er seine Sitzhaltung etwas korrigierte und sich mit dem Oberkörper weiter nach vorn beugte, so als läge die Befürchtung nahe, dass Isolde sich von der Richtigkeit seiner Behauptung überzeugen könnte.

„Lassen Sie mich bitte da vorn aussteigen. Ich möchte die paar Meter zu Fuß gehen.“

Sepp gehorchte. Er war heilfroh dieses seltsame Frauenzimmer endlich wieder loszuwerden. Die gehört doch in die Gummizelle, dachte er.

Isolde stieg aus.

„Vielen Dank fürs Mitnehmen! Vielleicht sieht man sich mal wieder!“, verabschiedete sich Isolde.

Eher nicht, dachte Sepp.

 

Auf den Weg ins Gewerbecenter hielt Isolde an einer Würstchenbude an. Sie kaufte eine klein geschnittene Bockwurst mit Brötchen und einen Espresso. Die Wurst verfütterte sie an den Hund, das Brötchen an die Spatzen. Während sie den dampfenden Kaffeebecher umklammerte, beobachtete sie eine Horde Bauarbeiter, die um einen Stehtisch gruppiert ihr Frühstück verzehrten und sich die erste Ration Bier einverleibten. Einer von ihnen prostete Isolde vergnügt mit der Bierflasche zu. Isolde schenkte ihm ein Lächeln und legte als Vergütung noch einen betörenden Augenaufschlag drauf. Komisch, dachte sie amüsiert. Wieso schenken mir die Mannsbilder auf einmal Beachtung? Was ist geschehen? Was hat sich an mir verändert? Steht es auf meiner Stirn geschrieben, dass ich eine Samenräuberin bin? Wird man wegen einer Hand voll Sperma attraktiver? Riechen die Kerle das noch? Sie trank ihren Kaffee aus, stopfte die Servietten hinein und zielte mit dem Pappbecher auf den drei Meter entfernten Abfalleimer.

„Volltreffer!“, johlten die Bauarbeiter im Chor.

Isolde nickte erhaben. „Schönen Tag noch, die Herren!“, empfahl sie sich und wandte sich mit einem frivolen Hüftschwung zum Gehen.

Himmelherrgott nochmal, was ist nur los mit mir? Ich tue Dinge, die ich noch nie getan habe. Ich stelle Fragen, die mir früher nie in den Sinn gekommen wären. Ich bin verrückt, stellte sie hormontrunken fest – ich bin verrückt, verrückt, verrückt, weil ich verliebt bin. Oder bin ich verliebt, weil ich verrückt bin? In gespielter Verzweiflung legte sie ihre Stirn in Falten.

 

Vor dem Baumarkt angekommen blieb sie an einem Verkaufstresen am Eingang stehen, kaufte frische Brötchen, Wurst- und Käseaufschnitt, zwei kleine Flaschen Sekt und bei der Blumenfrau nebenan einen Strauß rosa Nelken. Anschließend betrat sie den Heimwerkermarkt und steuerte zielstrebig auf einen Servicestand zu.

„Sie wünschen?“

„Ich möchte diese drei Schlüssel nachgemacht haben.“

Der Handwerker nickte freundlich.

Isolde erwiderte sein Lächeln, und ihr fiel ein, dass Männer mindestens 70-mal am Tag an Sex denken.

 

Es war knapp 8.15 Uhr, als Isolde mit dem Bus wieder in der Wolfgangssiedlung eintraf. Zügig lief sie den Ahornweg zur Villa hinauf. Vor der Haustür angekommen, öffnete sie mit dem Schlüssel den Briefkasten.

„Passt!“, murmelte sie erfreut.

Aufmerksam sah sie die Post durch. Nichts wichtiges, stellte sie fest. Ein Brief von der Krankenkasse und eine Rechnung von der GEZ für Paul, zwei Kunstkataloge für die Tote und eine Ansichtskarte aus Kroatien, von einer gewissen Lydia, mit besten Grüßen an die Familie.

Isolde blickte sich suchend nach einer Papiertonne um. Ihr Blick verweilte an dem großen Garagentor. Das Ding geht bestimmt elektrisch auf, dachte sie. Sie nahm einen der zwei nachgemachten Schlüssel zur Hand, von dem sie nicht genau wusste, welchen Verwendungszweck er erfüllte und steckte ihn in den Schlüsselschalter, der an der Garagenwand montiert war.

„Passt!“

Das Tor öffnete sich automatisch. Zum Vorschein kamen zwei schwarze Nobelkarossen. Im hinteren Eck der Garage erspähte sie die Papiertonne. Verwundert schlängelte sie sich an den Autos vorbei. Wieso sind die nicht beschlagnahmt, fragte sie sich. Wobei sie geistesabwesend den Deckel der Papiertonne hob und die Kataloge entsorgte. Neugierig geworden, warf sie einen Blick ins Innere der Wagen. In dem Porsche steckte der Schlüssel im Zündschloss. Eine vergessene Kosmetiktasche und allerlei Krimskrams deuteten darauf hin, dass es sich um den Wagen der Toten handelte. Isolde öffnete die Tür und nahm die Kosmetiktasche an sich, klappte die Tür leise wieder zu und wienerte mit dem Rockzipfel den Türgriff blank. Nachdenklich nahm sie den Geländewagen ins Visier. Achtzylinder, stellte sie fachmännisch fest. „Den hätte ich eigentlich hören müssen“, dachte sie laut nach, den Tag ihrer Tat gedanklich vor Augen. Sie schluckte bedrückt, wandte sich ab, schloss die Garage und wieselte zur Eingangstür zurück. Dort warf sie die restliche Post zurück in den Briefkasten und steckte den Schlüssel in die Eingangstür.

„Passt!“

Sachte schloss sie die Tür auf, blickte sich lauschend um, tippelte zum Garderobenständer und verstaute Pauls Schlüsselbund wieder in seiner Jackentasche. Hoffentlich ist er noch nicht wach, dachte sie ängstlich, während sie zögerlich die Treppe zum Schlafzimmer hinaufging. Die Tür stand offen, das Bett war leer, aus dem Badezimmer ertönte eine tiefe Männerstimme.

„Wir sind die Moorsoldaten und ziehen mit dem Spaten ins Moor … dadada…“ Paul hatte offensichtlich den Text vergessen.

„Auf und nieder geh’n die Posten, keiner, keiner kann hindurch…“, soufflierte Isolde kichernd. Sie hatte ihr Ohr an die Badezimmertür gepresst und war ganz aufgeregt. Am liebsten hätte sie laut mitgesungen, aber sie besann sich ihrer Pflichten und eilte lautlos in die Küche. In Windeseile setzte sie Kaffee an, legte die Eier in den Kocher, presste Orangen aus, dekorierte den Aufschnitt auf einer Platte. Mit der einen Hand, arrangierte sie die Blumen in einer Vase, mit der anderen die Brötchen in einer Schale. Im Handumdrehen hatte sie eine romantische Frühstückstafel gezaubert. Aufmerksam betrachtete sie ihr Werk, überlegte fieberhaft, ob noch etwas fehlte, strich glättend zum x-ten Mal über die Tischdecke, rückte wie ein Hütchenspieler Tassen und Gläser hin und her, zupfte an Servietten und Blumen. Als es endlich nichts mehr gab, was einer Korrektur bedurft hätte, drückte sie sich an der Tür herum wie ein Teenager, der seinem Idol auflauerte. Endlich hörte sie die Badezimmertür zuklappen, pfeifen, Schritte, die sich leichtfüßig näherten. Rasch setzte sich Isolde an den gedeckten Tisch. Sprang wieder auf. Verzweifelt nach einer Pose suchend, die den Anlass einem zwangloseren Flair verlieh. Vielleicht entspannt in einer Illustrierten blätternd am Fenster lehnen und in einen knackigen Apfel beißen. Zu spät. Als Paul im Türrahmen erschien, wirkte sie wie ein verstörtes Huhn, das ein dreieckiges Ei gelegt hatte.

„Du bist noch da?“, hörte sie ihn sagen, dabei musterte er sie wie einen ungebetenen Gast, der einfach vergessen hatte wieder zu gehen.

Ich gehe nie mehr weg, nur über deine Leiche, widersprach sie sprachlos, mit geöffnetem Mund. Ihren Blick in ängstlicher Verzückung auf seinen Körper gerichtet. Nur mit einem Handtuch um seine Hüften geschlungen, die Haare noch nass, seine Haut feucht und verführerisch duftend, stand er da. So selbstverständlich, so verfügbar, so wie es sein sollte.

„Stimmt was nicht? Du guckst mich an, als wäre ich ein tasmanischer Teufel“, versuchte Paul zu scherzen. Es klang belanglos, so wie man eben etwas sagt, wenn jemandem dankenswerter Weise die Worte fehlen, weil man ahnt, dass man sie nicht hören will.

„Du bist schön wie ein Gott“, entgegnete Isolde ernst, ihre Stimme in samtige Tiefen gesenkt, ihre Augen von scheuer Hingabe erfüllt auf seine Hüften gerichtet.

Paul räusperte sich und fuhr sich mit der Hand verlegen durchs Haar. Er wusste nicht zu erwidern. Die Anwesenheit dieser Frau machte ihn hilflos und aggressiv. Zwiespältige Gefühle, die sich unerklärlicherweise mit erotischen Fragmenten verknüpften. Unweigerlich dachte er an die letzte Nacht, an die er sich nur bruchstückhaft erinnern konnte. Wie ist er ins Bett gekommen? Hatte er sich selbst entkleidet? Hatte er diese erotische Spannung, die er verspürte, nur geträumt? Oder war sie real? Er konnte sich an nichts mehr erinnern. Nur an dieses orgiastische Gefühl, das seinen Körper durchströmte, dass er dadurch erwachte, die Augen aufriss, diese Frau erblickte, die neben ihm lag. Sie hat gekichert. Warum? Er war zu erschöpft und müde, um es herauszufinden.

„Deine Eier werden kalt“, stellte Isolde fest, wobei sie betreten ihren Blick von seiner Hüfte auf den gedeckten Tisch wies. Kaum hatte Paul Platz genommen, war er ebenso hilflos Isoldes Bemühungen ausgeliefert. Eilfertig schenkte sie ihm Kaffee in die Tasse, reichte ihm die Schale mit den knusprigen Brötchen, die Butter, pries Wurst und Käse an. Umsonst. Paul trank viel lieber Tee und aß grundsätzlich Toast mit Nougatcreme zum Frühstück. Ohne großes Federlesens fügte sich Isolde seinen Wünschen. Sie kochte Tee, röstete den Toast und schaffte die gottverdammte Schokopampe herbei. Mit hochgezogenen Augenbrauen verfolgte Paul Isoldes Wettlauf mit der Perfektion. Sie benimmt sich wie ein Besen, der vor meinen Füßen herumfegt, dachte er und lächelte ihr milde gestimmt zu, als sie sich sichtbar erhitzt zu ihm an den Tisch setzte.

„Na dann, guten Appetit“, wünschte er.

Isolde nickte lebhaft und griff nach der Zuckerdose. Im gleichen Moment wie Paul. Er ließ ihr den Vortritt. Sie nahm die Dose in die Hand und gab sich drei gehäufte Löffel Zucker in ihren Kaffee.

„Und du?“, fragte sie, wobei sie den Löffel und die Zuckerdose startbereit in den Händen hielt.

„Auch drei“, murmelte Paul, „genau wie du“, stellte er noch fest.

Isolde quittierte seine Feststellung mit einem tiefverbundenen Nicken und zuckerte Pauls Tee. Anschließend nahmen beide ihren Löffel von der Untertasse und rührten gewissenhaft ihr Getränk um – gegen den Uhrzeigersinn, aber dieses weitere gewichtige Detail fiel zu ihrem größten Bedauern nur Isolde auf.

„Übrigens möchte ich mich bei dir bedanken“, begann Paul, während er beherzt in seinen Toast biss.

„Für was?“, fragte Isolde kauend.

„Nun“, murmelte Paul geheimniskrämerisch, „das weiß ich eben nicht so genau.“

Isolde legte die Brötchen auf den Teller zurück, nahm die Kaffeetasse schützend vors Gesicht und äugte spannungsgeladen über den Porzellanrand hinweg. Sie hatte das ungute Gefühl, sich vor Pauls vagen Andeutungen wappnen zu müssen. Paul fing ihren Blick mit ebenso suggestivem Gespür auf.

„Zum Beispiel für die letzte Nacht“, ließ er sachlich verlauten, ohne Isolde aus den Augen zu lassen.

„Es war schön mit dir“, fügte er etwas sanfter hinzu, als er bemerkte, dass sich sein Gegenüber nicht aus der Reserve locken ließ.

„Mit dir auch“, entgegnete Isolde mit brüchiger Stimme.

Mit einen kräftigen Räuspern korrigierte sie ihr Missgeschick und stellte scheppernd ihre Tasse auf den Teller. “Aber leider kann ich mich nicht mehr an alles erinnern“, beteuerte sie, „irgendwann hatte ich einen Filmriss.“ Isolde senkte schamhaft die Lider, ein Spielzug, den sie gezielt einsetzte.

„Ich kann mich lediglich noch daran entsinnen“, sie neigte sich in Richtung Vase und begann verträumt an einer Blüte zu spielen.

„An was?“, drängelte Paul.

„Dass du mir ein blumiges Kompliment gemacht hast“, rückte Isolde mit der Sprache heraus.

„Ich habe dich mit einer Nelke verglichen“, warf Paul ein, während sich Isolde mit nur halb gespieltem Erstaunen seinem Gesicht zuwandte. „Schön, dass du dich daran erinnerst.“

Paul überhörte Isoldes rührselige Worte und stocherte weiter. „Und? Weiter? An was erinnerst du dich noch?“

„Ich habe dich ins Bett gebracht, dich entkleidet … mich dann auch hingelegt, ich war ja selbst müde…“

„Und dann?“

„Dann kann ich mich an nichts mehr erinnern, Filmriss, wie ich schon sagte.“

Paul war sichtlich nur halb zufrieden mit ihrer Behauptung, aber es war ihm auch unangenehm ihr weiter auf den Zahn zu fühlen. Als hätte Isolde seine Gedanken erraten, blickte sie ihn beleidigt an.

„Hast du Angst etwas getan zu haben, was du bereuen könntest?“

Mit vorgespieltem Interesse wandte sich Paul seinem Glas Orangensaft zu, schwenkte es hin und her, als wolle er den Fruchtgehalt prüfen.

„Und du?“, gab er Isoldes Frage zurück.

„Ich bereue grundsätzlich nichts und niemals, weil es keinen Sinn macht zu bereuen. Es gibt keine falschen Momente. Genau so wenig wie es richtige Entscheidungen zum falschen Zeitpunkt gibt.“ – Sie hielt inne. Auch wenn sie in den vergangenen Jahren sehr, sehr viel Zeit zum Grübeln hatte, kam ihr so viel Lebensphilosophie selten am Stück aus dem Mund.

„Merk dir!“, fuhr sie fort. „Der Moment ist immer heilig, weil er frei von rationalen Einflüssen ist.“

„Begnadigung für den Affekt. Amen!“, rundete Paul ab.

„Nenn es wie du willst“, murmelte Isolde, wobei sie sich konzentriert ihrem Frühstücksmesser widmete. Die Schneide mit dem Finger prüfend abtastete, ausholte und geschickt ihr Ei halbierte.

„Ein sauberer Schnitt“, stellte Paul anerkennend fest.

„Soll ich das mit deinen Eiern auch machen?“, bot sich Isolde an.

„Danke, das kann ich schon noch selbst.“

„Zack!“, feuerte Paul sich selbst an.

Das halbierte Ei landete zermatscht auf der Tischdecke. Isolde registrierte den missglückten Versuch mit erhobenen Augenbrauen.

„Deine Handhabung war unentschlossen. Außerdem musst du auf den richtigen Winkel achten“, kritisierte sie.

Zur Demonstration setzte sie ein noch unversehrtes Ei in den Eierbecher.

„Zack!“, sagte sie, während sie das Ei köpfte, ohne dass es seine ursprüngliche Form einbüßte.

Argwöhnisch betrachtete Paul das Ei. Isolde erwischte ihn dabei.

„Was ist?“, maulte sie. „Du guckst, als hättest du mit dem Ei noch ein Hühnchen zu rupfen.“

Mit einem süffisanten Lächeln fasste Paul seinen Gedanken in Worte:

„Als man die Verbrecher noch mit dem Schwert oder dem Handbeil aus der Welt geschafft hat, hättest du eine exzellente Henkerin abgegeben. Du hättest die Leute in aufrechter Haltung köpfen können, ohne dass denen die Birne wegfliegt.“

„Gewiss doch“, pflichtete Isolde im Plauderton bei, „wenn das Amt des Henkers nicht eine Domäne der Männer gewesen wäre.“

„Nun“, meinte Paul, „die Zeiten haben sich geändert.“

Spontan sprang Paul vom Stuhl auf.

„Ich muss los!“, verkündete er.

Isolde erhob sich ebenfalls und machte sich daran, den Tisch abzuräumen. Sie hatte die Küchenrolle bereits in der Hand, um Pauls Speisereste vom Tisch zu wischen, als sie seinen festen Griff an ihrem Arm zu spüren bekam.

„Ich möchte, dass du jetzt gehst“, ermahnte er sie eindringlich.

„Aber…“, widersprach Isolde hilflos und nickte Richtung Tisch und Eiermatsch.

„Du brauchst hier keine Spuren zu beseitigen. Geh jetzt! Bitte!“

„Wie du meinst“, lenkte Isolde verschnupft ein und pfefferte die Küchenrolle auf den Tisch. „Ich gehe!“, versicherte sie erhobenen Hauptes. Aber ich komme wieder!

Sie lächelte Paul ins Gesicht.