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Peers erste Amtshandlung bestand darin, Elenas Fall zur Chefsache zu erklären. Mittlerweile gab es genügend Hinweise, die diesen Schritt rechtfertigten.

Hinzu kam, dass inzwischen die Untersuchungsergebnisse der Bilder vorlagen, die Elena am Unglückstag aufgenommen hatte. Die Auswertung der Kriminaltechnik hatte ergeben, dass sich hinter dem Schatten ein weglaufender Mann verbarg. In der Vergrößerung war zudem ein Schuh sichtbar geworden. Mithilfe eines besonderen Bildbearbeitungsprogrammes war es den Kriminaltechnikern gelungen, die ganzen Details des Schuhs auf dem Foto zu erkennen und zuzuordnen. Es handelte sich um einen massiven Schnürstiefel der Marke Wrangler, vermutlich Schuhgröße 43. Elena erinnerte sich, dass Danko ein solches Paar Stiefel besessen hatte.

So richtig ins Rollen war der Fall jedoch erst nach Hennings Anruf und dem Hinweis auf das Kasino in Las Vegas gekommen. Danach war alles ganz schnell gegangen.

Nach Vorliegen des von der Staatsanwaltschaft und des BKA auf den Weg gebrachten Amtshilfeersuchens hatte Peer zwei Plätze für den nächsten Flug nach Las Vegas gebucht.

Für ihn stand außer Frage, dass Henning ihn begleiten würde. Schließlich war er es gewesen, der die entscheidende Wendung herbeigeführt hatte.

Als Dank dafür hatte sich sein ehemaliger Arbeitgeber entschlossen, ihn für die Dauer seines Auslandsaufenthaltes in den aktiven Dienst zurückzuholen.

 

Knapp 20 Stunden nachdem sich die beiden Männer in Frankfurt am Main an Bord einer Boing begeben hatten, landeten sie auf dem McCarran International Airport in Las Vegas, wo sie bereits von ihren amerikanischen Kollegen erwartet wurden.

Man hatte für sie zwei Einzelzimmer in einem Hotel nahe des Flughafens reserviert.

Am nächsten Morgen wurden sie zu einer Besprechung abgeholt.

Laut den Einreiseunterlagen war Tom Hartmann, alias Danko Dierks, am 25. Januar 2005 mit seiner damals fünf Monate alten Tochter Joel per Flugzeug in den Bundesstaat Nevada eingereist. Sein Pass hatte ihn als deutschen Staatsbürger amerikanischer Herkunft ausgewiesen. Seine doppelte Staatsbürgerschaft ermöglichte ihm und seiner Tochter eine problemlose Integration. Kurz darauf hatte er eine Stelle als Arzt im Valley Hospital angetreten und eine Wohnung in der Hastings Avenue bezogen.

Joels derzeitiger Aufenthaltsort war den amerikanischen Behörden unbekannt. Doch sie arbeiteten fieberhaft daran, ihn ausfindig zu machen.

Während sie sich über ihr weiteres Vorgehen abstimmten, war Danko in Untersuchungshaft genommen und dem Richter vorgeführt worden. Er hatte keinerlei Widerstand geleistet, als ihn ein Beamter mit seinem richtigen Namen ansprach und mit den gegen ihn erhobenen Vorwürfen konfrontierte. Im Gegenteil: Als die Handschellen klickten, hatte sich fast so etwas wie Erleichterung auf seinem Gesicht breitgemacht. Als hätte er schon die ganze Zeit darauf gewartet.

Ob dem wirklich so war, darüber schwieg sich Danko aus. Er hatte seit seiner Verhaftung noch kein einziges Wort gesagt.

 

Die anschließende Vernehmung fand in einem fensterlosen Raum statt, der mit seinen erbsengrün gestrichenen Wänden eine nüchterne Atmosphäre bot. In der Mitte stand ein von vier grauen Plastikstühlen umgebener Tisch, über dem eine Neonleuchte hing.

Man hatte sich darauf verständigt, Danko zunächst von Peer und einem weiteren Beamten vernehmen zu lassen. Henning war ein Platz im angrenzenden Beobachtungsraum zugewiesen worden. Dieser befand sich hinter einem Einwegspiegel und bot ihm die Möglichkeit, die Geschehnisse direkt mitzuverfolgen.

Kurz darauf öffnete sich die Tür. Gefolgt von einem Vollzugsbeamten betrat Danko Dierks in Handschellen den Raum. Der Blick, mit dem er die beiden am Tisch sitzenden Beamten streifte, erinnerte Henning an ein Tier, das zur Schlachtbank geführt wird.

Erschöpft sank Danko auf den ihm zugeteilten Stuhl. Seinen Bewegungen fehlte jeglicher Schwung. Das grelle Licht verlieh ihm ein kränkliches Aussehen.

Als Peer sich erkundigte, ob er einverstanden sei, das Gespräch aufzuzeichnen, zuckte er mit der Schulter, als wäre es ihm egal.

Im Nebenraum war Henning inzwischen ganz dicht an den Spiegel getreten und versuchte, sich ein Bild von Danko Dierks zu machen.

Wer war dieser Mann? War er tatsächlich so skrupellos, wie die bislang über ihn bekannten Fakten vermuten ließen? Oder hatte ihn lediglich seine Spielsucht zu einem willfährigen Handlanger eines bislang noch unbekannten Verbrecherrings gemacht?

Henning wusste es nicht. Er wusste nur, dass es unentschuldbar war, was er Elena angetan hatte.

Dieser Ansicht schienen auch Peer und sein amerikanischer Kollege, ein Typ mit Wabbelbauch und beginnender Glatze, zu sein. Sie machten jedenfalls keinerlei Anstalten, ihm die Vernehmung zu erleichtern, geschweige denn, ihn mit Samthandschuhen anzufassen.

Trotzdem gelang es ihnen nicht, Danko nur ein einziges Wort zu entlocken. Sein beharrliches Schweigen verschärfte den ohnehin schon barschen Ton.

Nach einer weiteren Runde des Viele-Fragen-keine-Antworten-Spiels öffnete sich die Tür. Ein bulliger Typ mit raspelkurzem Haarschnitt erschien und bedeutete den beiden Beamten, ihm auf den Flur zu folgen.

Kaum war Danko allein im Zimmer, war von seiner Gelassenheit nichts mehr zu sehen und er fiel wie ein Kartenhaus in sich zusammen.

Seine aufrechte Haltung war einem gekrümmten Rücken gewichen und er machte einen ausgesprochen nervösen Eindruck. Er erinnerte Henning an ein Kind, das man bei etwas Unrechtem ertappt hatte und das nun krampfhaft nach einer Möglichkeit suchte, um sich aus seiner misslichen Lage zu befreien.

Man musste kein Prophet sein, um zu erkennen, dass alle Pläne, die Danko sich für sein Leben und seine Zukunft gemacht haben mochte, in Trümmern lagen.

Als draußen auf dem Gang eine Tür ins Schloss fiel, zuckte er wie unter einem Peitschenhieb zusammen. Sein Blick irrte durch den Raum, streifte das auf dem Tisch stehende Tonbandgerät und blieb an der Tür haften. Anscheinend erwartete er, dass sie sich jeden Moment öffnete.

Doch seine Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt.

Gerade als Henning sich zu fragen begann, ob man ihn auf diese Weise weichkochen wollte, kehrten die beiden Polizisten zurück.

Ihre Mienen verrieten Henning, dass es Neuigkeiten gab. Peer hielt eine dünne dunkelblaue Mappe in der Hand, die er wie eine Trophäe vor sich her trug.

Interessiert verfolgte Henning, wie er sie ablegte und aufschlug. Peer wartete, bis sein amerikanischer Kollege das Tonbandgerät aktiviert hatte. Dann räusperte er sich. »Herr Hartmann oder soll ich besser Dierks zu Ihnen sagen?«

Keine Reaktion.

»Also gut, wie Sie wollen. Hier steht, Sie sind am 25. Januar 2005 mit ihrer Tochter Joel in die Staaten eingereist. Ist das korrekt?«

Seiner Frage folgte ein kaum merkliches Nicken.

»Und wo ist Joel jetzt?«, fuhr Peer unbeirrt fort. »Oder Lea, wenn Ihnen das lieber ist. Ich möchte gerne wissen, warum Sie damals mit ihr fortgingen und was aus ihr wurde.«

»Wüsste nicht, was Sie das angeht«, knurrte Danko, bevor er wieder in störrisches Schweigen verfiel.

Auf Peers Stirn schwoll eine Ader an. »Was uns das angeht?«, fuhr er ihn an. »Vielleicht sollten Sie das besser mal Elena fragen? Wissen Sie eigentlich, was Sie ihr angetan haben? Ich meine, haben Sie auch nur die geringste Ahnung davon, durch welche Hölle sie die letzten beiden Jahre gegangen ist? Und das alles nur Ihretwegen!«

Ein flüchtiges Zucken in Dankos Gesicht bewies, dass der provokante Ton etwas bewirkte.

»Ich frage mich, wen Sie mit Ihrem Schweigen zu decken versuchen? Vielleicht Ihre zweite Ehefrau … Exehefrau?«, verbesserte er sich rasch.

Sein Gesichtsausdruck verriet Henning, dass Danko ganz und gar nicht gefiel, was sie alles herausbekommen hatten.

Noch bevor er sich einen Reim darauf machen konnte, setzte Peer erneut an: »Den mir vorliegenden Informationen zufolge haben Sie kurz nach Ihrer Einreise geheiratet. Hier steht«, er entnahm der Mappe vor ihm ein amtliches Schreiben, »dass sie am 12. März 2005 eine gewisse Suzette Steinhagen geehelicht haben. Die von Ihnen geschlossene …«

Wie immer, wenn er das erste Anzeichen eines Zusammenhangs erkannte, durchfuhr Henning ein Adrenalinstoß. Suzette Steinhagen. Den Namen hatte er doch schon einmal gehört. Nur wo? Auf der Suche nach einer Antwort zückte er sein Notizbuch und überflog die Seiten. Kurz darauf hatte er den entsprechenden Eintrag gefunden, der seinen Verdacht bestätigte. Suzette Steinhagen. Jetzt erinnerte sich Henning wieder an die von Elsbeth Satorius hinterlassene Nachricht auf seiner Mailbox. Hastig blätterte er zurück. Zu den Notizen, die er sich bei ihrem Gespräch in der Eisdiele gemacht hatte. Suzette Steinhagen war demnach die Letzte gewesen, die mit Elenas Vater gesprochen hatte. Gestritten, verbesserte sich Henning in Gedanken. Seinen Aufzeichnungen zufolge war es zwischen den beiden zu einer lautstarken Auseinandersetzung gekommen. Kurz darauf hatte Elenas Vater einen tödlichen Schlaganfall erlitten. Noch während er nach einem Zusammenhang suchte, blieb sein Blick an einem weiteren Eintrag hängen. Er besagte, dass Suzette Steinhagen auf der Inneren gearbeitet hatte. In Hennings Kopf begann eine Alarmglocke zu läuten. War das nicht die Station gewesen, auf der sich Edmund Marks Frau einer Krampfaderbehandlung unterzogen hatte? Eine entsprechende Notiz gab seiner Vermutung recht. Bis jetzt hatte er der Information, dass Leonora Marks an einer Embolie gestorben war, keine weitere Bedeutung zugemessen. Doch nachdem, was er soeben in Erfahrung gebracht hatte, erschien ihm dieses Wissen nun in einem völlig neuen Licht. Konnte es sein, dass …?

»Die große Liebe kann es jedenfalls nicht gewesen sein«, riss ihn Peers vor Sarkasmus triefende Stimme aus seinen Überlegungen. »Sonst wären Sie jetzt nicht geschieden.« Wie aus seinen weiteren Ausführungen hervorging, hatte die Ehe gerade einmal sechs Monate gehalten. Nach der Scheidung war Suzette das Sorgerecht für Dankos Tochter übertragen worden.

Langsam begriff Henning die Zusammenhänge. Nur würde das nicht ausreichen. Was er brauchte, war Gewissheit. Henning musste herausfinden, wer den Totenschein von Frau Marks ausgestellt hatte. Für einen Moment dachte er daran, sich bei Leonas Freundin, dieser Krankenschwester, danach zu erkundigen. Doch dann verwarf er den Gedanken. Es gab nur einen Menschen, der ihm jetzt weiterhelfen konnte.

Voller Ungeduld sah Henning dem Ende der Vernehmung entgegen. Kaum war Danko abgeführt worden, stürmte er aus dem Zimmer.

Auf dem Gang traf er auf Peer. »Ich muss dich sprechen.« Seine Stimme hörte sich ganz rau an. Ohne eine Antwort abzuwarten, packte er seinen Freund am Arm und zog ihn hinter sich her. Sobald sich die Tür zum Beobachtungsraum hinter ihnen geschlossen hatte, unterrichtete er ihn in knappen Worten von seinem Verdacht. »Es geht um Leonora Marks. Möglicherweise hat Suzette Steinhagen etwas mit ihrem Tod zu tun«, fasste er seine Ausführungen zusammen. »Ich muss unbedingt wissen, wer den Totenschein ausgestellt hat. Kannst du dich darum kümmern?«

»Sicher kann ich das. Die Frage ist nur, inwieweit sich dein Verdacht damit beweisen lässt. Das Einzige, was in diesem Fall gegen Suzette Steinhagen sprechen würde, wäre ihre Unterschrift auf dem Totenschein. Doch was besagt das schon? Weder dass sie mit Danko gemeinsame Sache gemacht hat noch dass Leonora Marks Opfer eines Mordes wurde. Um das zu beweisen, bräuchtest du ihre Leiche. Womit wir schon beim nächsten Problem angelangt sein dürften«, gab Peer zu bedenken. »Was ist, wenn sie eingeäschert wurde?«

»Dann müssen wir uns eben etwas anderes einfallen lassen. Und ich hab schon eine Idee«, beharrte Henning, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, dass sein Plan noch vor der Ausführung zum Scheitern verurteilt sein könnte.