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In der folgenden Nacht lag Henning lange Zeit wach. Während sich seine Gedanken, die um die bislang eingegangenen Hinweise kreisten, an der dämmrigen Grenze des Schlafes bewegten, ging die Finsternis allmählich in die frühe Schwärze eines neuen Tages über. Erst als das Telefon klingelte, wurde ihm bewusst, dass er tatsächlich geschlafen hatte. Martina Funke war am Apparat, um ihm die versprochene Anschrift durchzugeben. Henning legte auf und sein Blick fiel auf die Uhr. Es war kurz nach acht. Noch ganz verschlafen stand er auf und trottete ins Badezimmer. Nachdem es ihm mit der doppelten Menge seiner üblichen Kaffeedosis gelungen war, die Müdigkeit aus seinen Gliedern zu vertreiben, beschloss er Astrid Schulz aufzusuchen. Sie wohnte in der Plauener Innenstadt.

 

Unter der angegebenen Adresse sah sich Henning einem älteren Mehrfamilienhaus gegenüber, das zwischen Lutherkirche und Vogtlandbibliothek lag und in dessen Erdgeschoss sich ein Obstladen befand.

Seine Nachfrage ergab, dass Astrid Schulz vor längerer Zeit ausgezogen war. Von den Nachbarn schien niemand etwas über ihren Verbleib zu wissen. Als er sich beim Einwohnermeldeamt erkundigte, erlebte er die nächste böse Überraschung. Sie war noch immer in der Neundorfer Straße registriert. Was im Klartext nichts anderes bedeutete, als dass sie sich nach ihrem Auszug in Luft aufgelöst zu haben schien. Dafür musste es einen triftigen Grund gegeben haben. Laut Hennings Aufzeichnungen war Rufus Kirchner am 11. Januar verunglückt. Kaum zwei Wochen später hatte Astrid Schulz ihre Stellung gekündigt. Den Aussagen der Hausbewohner zufolge war sie etwa im selben Zeitraum ausgezogen. Selbst wenn es sich als völlig belanglos herausstellen sollte, irritierte Henning dieses zeitliche Aufeinandertreffen. Um einen Zusammenhang ausschließen zu können, würde er ihren derzeitigen Aufenthaltsort in Erfahrung bringen müssen. Er unterdrückte einen unschönen Fluch. Wie es aussah, war er wieder einmal auf Peers Hilfe angewiesen. Nachdem er ihn telefonisch von den neuesten Entwicklungen in Kenntnis gesetzt und sich seiner Unterstützung versichert hatte, fuhr er zurück, um sich für den Theaterbesuch am Abend in Schale zu werfen.

 

Nach der nasskalten Witterung der letzten Tage kam es Henning wie eine Wohltat vor, am nächsten Morgen von Sonnenstrahlen geweckt zu werden. Nichts hielt ihn mehr im Bett. Beim Verlassen des Bades wehte ihm der Duft von frischem Kaffee und gebratenen Eiern mit Speck entgegen. Als er die Küche betrat, war Leona gerade dabei, den Tisch einzudecken. Henning ging ihr zur Hand und lauschte den Radionachrichten im Hintergrund. Laut Wetterbericht versprach das vor ihnen liegende Wochenende trocken und heiter zu werden.

»Traumhaft«, meinte Leona angesichts des strahlend blauen Himmels, der sich ihr beim Blick aus dem Fenster auf die im Tal liegende Göltzschtalbrücke bot. »Was hältst du von einem Ausflug? Wir könnten nach Auerbach fahren. Wie ich dich kenne, brennst du darauf, zu sehen, was sich dort in der Zwischenzeit alles verändert hat. Anschließend würde ich gerne noch an der Falkensteiner Talsperre vorbeischauen. Einer meiner Kollegen besitzt dort ein Wochenendgrundstück. Das wollte ich mir schon längst mal ansehen.« Eine verräterische Röte überzog ihr Gesicht.

Henning vermutete, dass ihr Interesse nicht nur dem Anwesen galt. Gleichzeitig verriet ihm ihr Blick, dass er sie besser nicht darauf ansprach.

Als sie sich eine halbe Stunde später auf den Weg machten, bot sich ihnen ein beeindruckendes Bild. Die Kälte hatte die Landschaft in eine weiß glitzernde Winterpracht verwandelt. Es war so blendend hell, dass Henning während der Fahrt immer wieder die Augen zusammenkneifen musste.

Nach einem kurzen Zwischenstopp an der Göltzschtalbrücke fuhren sie an der Burg Mylau vorbei, die auf einem Bergsporn thronte, entlang des Göltzschtals in Richtung Lengenfeld. Knappe zehn Minuten später passierten sie den Ortseingang von Auerbach.

Sie parkten in der Nähe der Nicolaikirche. Nur wenige Meter von der Innenstadt entfernt, die an diesem Sonnabendvormittag wie ausgestorben wirkte. Als sie der Hunger zu quälen begann, steuerten sie die am Altmarkt gelegene Gaststätte ›Zum Kerkermeister‹ an. Das Gebäude diente in früheren Jahrhunderten als Gerichtshaus und Kerker, woher es seinen Namen hat. Sie ließen sich Rouladen und Grüne Klöße schmecken und setzten anschließend ihre Erkundungstour mit einem Abstecher in die Berthold-Brecht-Straße fort.

»Hier hab ich gewohnt«, sagte Henning, als sie vor einem Wohngebäude im Villenstil angelangt waren. Als er die mit Ornamenten verzierte Fassade betrachtete, stand ihm plötzlich wieder jener Tag vor Augen, an dem er die Nachricht vom Tod seines Freundes Rüdiger Paulus erhalten hatte. Ein Anruf hatte ihn davon in Kenntnis gesetzt, dass er bei einer Schießerei am Leipziger Hauptbahnhof ums Leben gekommen war. Zusammen mit seiner in diese Zeit fallenden Pensionierung hatte ihn der Tod seines Freundes jeglichen Halt verlieren und zur Flasche greifen lassen.

Als der Krebs das Leben seiner Frau gefordert hat, stand Henning schon einmal kurz davor, diesen Weg einzuschlagen. Damals hatte ihn lediglich die Flucht in die Arbeit davor bewahren können, es so weit kommen zu lassen. Nach Rüdigers Tod hingegen gab es nichts mehr, was ihn hätte auffangen können. Als Henning daran dachte, wie alt und nutzlos er sich zu jener Zeit gefühlt hatte, ergriff ihn ein eisiges Frösteln. Wer weiß, was ohne die Aussicht auf einen Neubeginn aus ihm geworden wäre.

Nachdem ihn Leonas Räuspern aus seinen trübseligen Erinnerungen gerissen hatte, machte er sie auf ein Gebäude aufmerksam, das in knapp hundert Metern Entfernung lag. »Siehst du das hellblau gestrichene Haus? Dort befindet sich das Polizeirevier. Ich habe jedoch keine Lust auf eine Stippvisite. Lass mich dir lieber etwas von der Stadt zeigen.« Er deutete auf drei Türme, die weithin sichtbar die Silhouette des knapp 20.000 Einwohner zählenden Ortes prägten. »Sie sind das Wahrzeichen von Auerbach.«

Durch die Fußgängerzone, die mit ihren hübschen, kleinen Geschäften zum gemütlichen Bummel durch die Innenstadt einlud, gingen sie zum Auto zurück und fuhren nach Falkenstein. Aufgrund des herrlichen Wetters war schon ein Großteil der Parkplätze nahe der Staumauer belegt. Dementsprechendes Gedränge herrschte auf dem Rundweg, der um die Talsperre führte. Das Wochenendgrundstück befand sich unweit eines ehemals als Ferienheim genutzten Gebäudes. Obwohl Leona bei seinem Anblick nicht das Geringste anzumerken war, nahm sich Henning vor, die Sache im Auge zu behalten.