2

 

 

Das Schrillen des Telefons riss den pensionierten Kriminalkommissar Henning Lüders unsanft aus seiner Mittagsruhe. Müde rieb er sich den Schlaf aus den Augen. Seit er zur Aufklärung der auf Pascal Austens Konto gehenden Frauenmorde beigetragen hatte, war es ruhig um ihn geworden, zu ruhig für seine Begriffe. Ihm graute vor einem weiteren dieser langen und einsamen Winterabende.

Noch ganz benommen setzte er sich auf. Sein Blick streifte die Tageszeitung und blieb an einer im Auftrag des Bundesforschungsinstituts für Tiergesundheit erstellten Studie haften. Die Überschrift ließ ihn an seine Puten und Hühner denken, von denen er sich wegen des auf Rügen nachgewiesenen Vogelgrippeerregers H5N1 hatte trennen müssen. Wegen ihrer aufwendigen Haltung hatten sie ihm das Gefühl gegeben, gebraucht zu werden. Um sich einen Ausgleich zu schaffen, war er zur Bienenzucht übergegangen. Seither stand ein zum Bienenhaus umfunktionierter Bauwagen in seinem Garten und statt des Frühstückseis gab es Honig aus eigener Produktion.

Als er nach dem Hörer griff, bedauerte er ein weiteres Mal, dass das Frühjahr noch in so weiter Ferne lag.

Sein Freund Peer war am Apparat. »Marlies lässt fragen, ob du Lust hast, uns heute Abend beim Essen Gesellschaft zu leisten? Es gibt gebratene Scholle mit Kartoffelsalat.«

Natürlich wollte Henning. Schon der bloße Gedanke an den in goldgelber Butter gebratenen Fisch ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen. Seine Laune besserte sich schlagartig.

Er griff sich seine Winterjacke, stülpte die Strickmütze über sein schütter gewordenes Haar und ging nach draußen. Obwohl er auf die 70 zuging, war sein Gang noch immer aufrecht und gerade. Kaum hatte er die Haustür hinter sich ins Schloss gezogen, kam ihm sein Dackel Rex entgegengeeilt. Er und Asta hatten seinem Patenonkel gehört. Seit die Hündin im letzten Herbst an Altersschwäche gestorben war, hing Rex wie ein Schatten an ihm.

Henning leinte ihn an und gemeinsam schlugen sie den Weg in Richtung Strand ein, über das an sein Grundstück grenzende Feld. In Höhe des ›Strandhauses‹ angekommen, überquerten sie die nach Göhren führende Straße und bogen auf einen schmalen Pfad ab, der an einer Pferdekoppel vorbei hinunter zum Nordstrand führte. Die mit ›Rügenressort Lobbe‹ überschriebene Bautafel ließ Henning missmutig den Kopf schütteln. Seine Miene verdüsterte sich. Er konnte und wollte nicht glauben, dass hier in Kürze 80 Ferienwohnungen und 19 Ferienvillen samt Wellnesszentrum aus dem Boden gestampft werden sollten. Es machte ihn wütend und hilflos, dass dafür 85.000Quadratmeter unberührter Natur geopfert werden sollten. Er fragte sich, wie man so kurzsichtig sein konnte. Doch sobald Geld ins Spiel kam, schwand alle Vernunft dahin. Dabei stand die Insel im Sommer schon jetzt kurz vor einem Verkehrsinfarkt. Noch mehr Touristen würden die Situation nur weiter verschärfen, die für die Einheimischen ohnehin schon frustrierend war. Henning war davon überzeugt, dass das bittere Erwachen nicht lange auf sich warten lassen würde. Nur wäre es dann zu spät. Eine alte Indianerweisheit kam ihm in den Sinn: ›Erst wenn der letzte Baum gerodet, der letzte Fluss vergiftet, der letzte Fisch gefangen, werdet ihr feststellen, dass man Geld nicht essen kann.‹ Wie wahr, dachte er seufzend.

Inzwischen trennte sie nur mehr ein schmales Waldstück vom Steilufer. Vor ihm stürmte Rex auf den zwischen den Bäumen liegenden Trampelpfad zu, an dessen Ende sich der Blick auf die unendliche Weite des Meeres auftat. Direkt unter ihnen befand sich der Strand. Dahinter lag die Ostsee wie ein silberner Spiegel unter der Kuppel eines schiefergrauen Himmels. In der frostigen Luft gefror sein Atem zu kleinen Wölkchen. Es war ungewöhnlich windstill. Direkt vor ihnen ragte die Greifswalder Oie aus dem Wasser. Die Sicht auf die kleine Insel war erstaunlich gut. Mit der Zeit hatte Henning das als Hinweis für einen baldigen Wetterumschwung zu deuten gelernt. Während er die malerische Küste betrachtete, fragte er sich, ob es einen Sturm geben würde.

Als Rex ungeduldig an seiner Leine zu zerren begann, wandte Henning sich zum Gehen. Dabei brach unter seinen Füßen ein Stück Erdreich weg und polterte mit lautem Getöse dem menschenleeren Strand entgegen. Henning fröstelte, als er an die Urlauberin denken musste, die Ende Februar fast an der gleichen Stelle von herabfallendem Geröll und Erdmassen erschlagen worden war. Er sah den Küstenabbruch mit Sorge.

Seine Miene hellte sich erst wieder bei dem Gedanken an den vor ihm liegenden Abend auf. Glücklicherweise gab es Peer und dessen Vater Wilhelm. Sie waren im Laufe der Jahre zu zwei Konstanten in seinem Leben geworden. Ihr wöchentlicher Skatabend stellte nicht nur eine erfreuliche Abwechslung dar, sondern bot ihm auch die Gelegenheit, von Peer den neuesten Tratsch der Wache zu erfahren. Leider hatte sich sein Freund in letzter Zeit rar gemacht. Der Grund dafür war Marlies, der es in Windeseile gelungen war, ihm den Kopf zu verdrehen. Über Hennings Gesicht huschte ein wehmütiges Lächeln.

 

Als er ein paar Stunden später zum Haus seiner Freunde aufbrach, war es bereits stockdunkel. Auf sein Läuten wurde ihm von Marlies geöffnet. Sie war eine kleine, resolute Frau Anfang 30, deren üppige Formen ihre Vorliebe für gutes Essen spiegelten. Ihr rundes, von kupferroten Korkenzieherlocken umrahmtes Gesicht war von einem rosigen Schimmer überzogen, der von den Vorbereitungen für das Abendessen zeugte. Auch wenn die kleinen Fältchen in ihren Augenwinkeln und um ihren Mund erahnen ließen, dass ein langer, anstrengender Arbeitstag hinter ihr lag, war das Lächeln, mit dem sie ihn begrüßte, offen und warmherzig.

 

Nach dem Essen brachte sie die Sprache auf ein Thema, das ihr schon die ganze Zeit über unter den Nägeln brannte. Es verstieß gegen ihre Schweigepflicht als Krankenschwester, aber sie wollte den drei Männern unbedingt von Elena Dierks erzählen.

»Sie ist mit einem Nervenzusammenbruch bei uns eingeliefert worden«, begann sie. Sie erzählte von Elenas Vergangenheit und wie sie ihre Sprache wiedergefunden hatte.

Die Zuhörer schwiegen betroffen. Während seinen Freunden ein Schluck Bier half, ihre Worte zu verdauen, sog Henning gedankenversunken an seiner Pfeife. Einerseits hatte Marlies’ Schilderung ihn neugierig gemacht und seinen kriminalistischen Spürsinn auf den Plan gerufen. Andrerseits riet ihm sein Verstand davon ab, sich einzumischen. Was, wenn sich herausstellte, dass die Frau sich alles nur eingebildet hatte, das Ganze aufgrund ihrer seelischen Verfassung auf einer reinen Wunsch – wenn nicht sogar Wahnvorstellung beruhte?

Er wusste, welche Antwort sich Marlies von ihm erhoffte. Keine Frage: Sie wollte, dass er sich des Falls annahm, der von der Polizei längst zu den Akten gelegt worden war. »Frau Dierks befindet sich jetzt schon seit fast zwei Jahren bei uns in psychiatrischer Behandlung. Obwohl sie die ganze Zeit über brav ihre Medikamente geschluckt und an den Therapiesitzungen teilgenommen hat, zog sie sich immer mehr in sich zurück. Man brauchte sie sich nur anzuschauen. Allein ihre ausdruckslosen Augen sprachen Bände. Leben konnte man das nicht mehr nennen. Bestenfalls ein unter medizinischer Aufsicht stehendes Dahinvegetieren – und dann dieser plötzliche Wandel. Als hätte man einen Schalter umgelegt. Wenn ihr das Leuchten in ihren Augen gesehen hättet, wüsstet ihr, wovon ich spreche.«

»Pass bloß auf, dass du dich da nicht in etwas verrennst«, ermahnte Peer sie. Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, fügte er hinzu: »Ich war dabei, als man den Unglücksort gesichert und die Überreste des Kinderwagens aus dem Meer geborgen hat.

Wenn du mich fragst, hatte der Säugling keinerlei Chance, den Sturz zu überleben. Selbst für den Fall, dass ich mich irren sollte, hätte er spätestens in den eiskalten Fluten den Tod gefunden. Um ganz sicherzugehen, haben wir den Unfall mit einem baugleichen Kinderwagen und einem Babydummy rekonstruiert. Aller Wahrscheinlichkeit nach wurde das Kind von der starken Strömung aufs offene Meer hinausgezogen.«

»Aber irgendetwas muss doch diesen plötzlichen Sinneswandel bei ihr ausgelöst haben«, beharrte Marlies auf ihrem Standpunkt.

Um die Debatte zu entschärfen, schlug Henning vor: »Ich könnte ja mal mit ihr reden. Allerdings würde ich mir an deiner Stelle nicht allzu viel davon versprechen.«

»Keine Angst, das werd ich schon nicht. Hauptsache, Elena fühlt sich von dir ernst genommen.«

»Soll das heißen, ihr nehmt sie nicht ernst?«

»Natürlich tun wir das. Nur mit dem Unterschied, dass unsere Arbeit nicht darauf abzielt, ihre Behauptung zu beweisen, sondern sie zu analysieren. Uns interessiert lediglich das sich dahinter verbergende Verhaltensmuster. Psychologen setzen nun mal andere Schwerpunkte. Alles, was ich von dir möchte, ist, ihr zuzuhören und dir ein Bild zu machen. Wenn du danach immer noch der Meinung bist, die Sache sei es nicht wert, weiterverfolgt zu werden, dann war’s das eben. Ich möchte nur nichts unversucht lassen, verstehst du das?«

Henning nickte. Der Fall hatte seine Neugier geweckt