28

 

 

Im Nachhinein konnte Henning nicht mehr sagen, wie er nach draußen gefunden hatte. Weder konnte er sich darauf besinnen, die marmorne Eingangshalle durchquert zu haben, noch darauf, wie die schwere Haustür mit dem vergoldeten Löwenknauf hinter ihm ins Schloss gefallen war. Alles, woran er sich erinnern konnte, war Edmund Marks gehetzter Gesichtsausdruck, das Flackern in seinen Augen.

Henning kannte diesen Blick. Der Mann hatte etwas zu verbergen, so viel stand fest. Weshalb hätte ihn die Frage nach Lea sonst derart aus dem Gleichgewicht bringen können?

Die einzig mögliche Schlussfolgerung verursachte ein angenehmes Kribbeln in seiner Magengegend. Während seines Aufenthaltes in der Villa hatte ein schwacher Nieselregen eingesetzt, der rasch stärker wurde und ihn seine Schritte beschleunigen ließ.

Endlich schien Bewegung in den Fall zu kommen. Man musste nur die richtigen Fragen stellen.

Der mittlerweile in rauschenden Kaskaden herabströmende Regen holte ihn jedoch rasch aus der Hitze der Spekulation auf den Boden der Tatsachen zurück. Was er brauchte, waren Beweise. Während er seinen Wagen durch das Villenviertel lenkte, musste er an Kalles Andeutungen denken und daran, was er über Edmund Marks gesagt hatte. Darüber, dass es besser war, sich nicht mit ihm anzulegen.

 

In seine Überlegungen hinein klingelte sein Handy. Es war Marlies. Ohne Umschweife kam sie auf ihr Anliegen zu sprechen: »Ich habe mich gestern mit Elena unterhalten. Vielleicht ist es nicht von Bedeutung, aber wie es aussieht, ist die Ehe ihrer Eltern alles andere als harmonisch gewesen. Ihr Vater hatte ein Alkoholproblem.«

»… und ist fremdgegangen«, präzisierte Henning mit einer Miene, die genauso düster war wie das Wetter.

»Du meinst, er hatte ein Verhältnis?« Marlies’ Tonfall ließ unschwer erkennen, dass sie davon nicht die geringste Ahnung hatte.

»Mit seiner Sekretärin. Sie hat’s mir selbst erzählt.«

»Na, das sind ja tolle Neuigkeiten!« Obwohl sie meilenweit voneinander entfernt waren, konnte Henning spüren, dass Marlies’ Sarkasmus lediglich ein Schutzschild war. Nur dazu diente, ihre Betroffenheit zu verbergen.

Für einen Moment war nur ihr Atmen zu hören.

»Ich frage mich«, meinte Henning schließlich, »weshalb Elena dir nichts davon gesagt hat?«

»Scheint Gedankenübertragung zu sein«, entgegnete Marlies. »Das habe ich mich auch gerade gefragt.« Sie hielt kurz inne. »Meiner Meinung nach kann es dafür nur zwei Gründe geben. Entweder hat sie nichts davon gewusst, oder sie wollte nicht darüber sprechen. Dabei dachte ich, sie würde mir vertrauen.« Das klang niedergeschlagen. Als wäre keine andere Schlussfolgerung möglich.

»Nun mach aber mal nen Punkt!«, ereiferte sich Henning. »Ich meine, wenn sie es nicht wusste, wie hätte sie es dir dann sagen sollen?«

»Also schließt du aus, dass sie davon gewusst hat?«

»Ich schließe gar nichts aus«, widersprach Henning. »Ich gehe nur nach Wahrscheinlichkeiten.«

»Wobei Wahrscheinlichkeiten keine Gewissheiten sind«, gab Marlies zu bedenken.

»Wie auch immer. Ich wüsste jedenfalls nicht, was uns das angeht. Weshalb ich dir raten würde, Elena nicht noch einmal darauf anzusprechen.«

»Hältst du mich wirklich für so bescheuert?«

»Ganz im Gegenteil«, beeilte sich Henning ihr zu versichern. »Ich fände es nur schade, wenn du ihr eben erst gewonnenes Vertrauen gleich wieder verspielen würdest.«

»Weil du gerade von Vertrauen sprichst: Ich habe den Eindruck, es hat ihr gutgetan, mit dir zu sprechen«, sagte Marlies. »Sie sperrt sich auch nicht mehr gegen die Therapiesitzungen.«

»Dann scheint ihr kleiner Ausflug ja trotz aller Aufregung zu etwas gut gewesen zu sein.«

»Seh ich genauso«, stimmte ihm Marlies zu. »Apropos Aufregung: Hab ich dir schon erzählt, dass Peer morgen aus dem Krankenhaus entlassen wird?«