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Nach einer Nacht voller unruhigen Träume rief Henning am nächsten Morgen bei Martina Funke an, um sich zu erkundigen, ob sie ihm für seine Nachforschungen Bilder von Rufus Kirchner und Astrid Schulz zur Verfügung stellen könnte. Nachdem er ihr das Versprechen abgenommen hatte, nachzuschauen und sich dann bei ihm zu melden, galt sein nächster Anruf seinem Freund Erich Kröger.

Statt Erich meldete sich dessen Schwester. »Sie haben Glück, dass Sie überhaupt jemanden erreicht haben. Ich bin bloß auf einen Sprung vorbeigekommen, um die Blumen zu gießen und frische Wäsche für meinen Bruder zu holen. Erich ist vor zwei Tagen in die Klinik eingeliefert worden. Er wird an der Hüfte operiert. Ich kann ihm aber gerne etwas von Ihnen ausrichten«, erbot sie sich.

Henning ließ Grüße und gute Besserung an seinen Freund ausrichten und legte auf. Nachdenklich starrte er ins Leere. Nun war guter Rat teuer.

 

»Vielleicht solltest du es mal mit einem Privatdetektiv versuchen«, schlug Leona vor, als er ihr beim Abendessen von seinen erfolglosen Bemühungen berichtete.

Henning musterte sie. »Kann es sein, dass du dabei an jemanden ganz Bestimmtes denkst?«

Ein Nicken bestätigte seine Vermutung. »Er heißt Bruno Engel. Ein absoluter Fachmann, der aufs Beste mit allen möglichen bürokratischen Archiven vertraut ist und selbst die zwielichtigsten Existenzen aufspüren kann. Vor allem hat er die Fähigkeit, sich in die Person hineinzuversetzen, die er gerade observiert. Glaube mir, wenn da irgendetwas faul ist, schießt er so sicher auf sein Ziel zu wie ein programmiertes Cruise-Missile.«

»Na toll! Dann kannst du mir sicher auch verraten, woher ich das Geld dafür nehmen soll. Etwa aus der Portokasse?«

Leona winkte ab. »Darum mach dir mal keine Sorgen.«

»Ach, und wieso nicht?«

»Weil ihm ein Lotteriegewinn zu weit mehr Geld verholfen hat, als er jemals ausgeben kann«, lautete ihre verblüffende Antwort. »Offiziell hat er sich in Italien zur Ruhe gesetzt. Was ihn jedoch nicht davon abhält«, fügte sie augenzwinkernd hinzu, »sich seine Frühstücksbrötchen weiterhin als privater Ermittler zu verdienen. Wenn Bruno den Fall übernimmt, dann bestimmt nicht wegen des Honorars. Da bin ich mir ganz sicher.«

»Wenn das so ist, lass ihn uns am besten gleich anrufen.«

Sein Vorschlag rang Leona ein schuldbewusstes Lächeln ab. »Die Mühe kannst du dir sparen.«

»Wieso? Ich meine, er wird doch wohl telefonisch zu erreichen sein?«

»Das schon«, räumte sie ein, »nur dass eine solche Anfrage keinen Einfluss auf seine Entscheidung haben würde.«

»Sondern?«

»Kannst du dir das denn nicht denken?«

Es dauerte einen Moment, bis Henning begriff. »Soll das etwa heißen, dass ich persönlich …«

»Ich fürchte schon.«

»Vergiss es!«, stellte er mit einer wegwerfenden Handbewegung klar. »Am Ende gefällt diesem Bruno meine Nase nicht und ich muss unverrichteter Dinge wieder abziehen!«

»Wer sagt denn, dass du allein fahren sollst?«

Noch bevor Henning etwas darauf erwidern konnte, erkundigte sich Leona, ob er schon einmal in der Toskana war.

Ihre Frage brachte ihn derart aus dem Konzept, dass er nur den Kopf schütteln konnte. »Dann hast du definitiv eine Bildungslücke.«

»Ich …, also ich weiß wirklich nicht …«

»Aber ich!« Ihr Ton erübrigte jede weitere Diskussion. »Lass mich nur machen!« Sie beugte sich verschwörerisch über den Tisch. »Im Augenblick geht es bei mir auf Arbeit relativ ruhig zu. Schätze mal, da dürften ein paar Tage Urlaub drin sein«, fügte sie mit einem entwaffnenden Lächeln hinzu.

»Sieht ganz danach aus, als ob es dir tatsächlich ernst damit wäre.«

»Todernst«, bestätigte sie. »Italien ist schließlich nicht das Ende der Welt. Mit etwas Glück sind wir locker in zehn Stunden dort. Außerdem können wir uns beim Fahren abwechseln.« Sie fuhr sich mit einer energischen Handbewegung durchs Haar. »Lass mich nur noch rasch ein paar Einkäufe und Telefonate erledigen, dann können wir von mir aus schon morgen starten – du bist doch dabei?«

Sein wenn auch zögerliches Nicken wurde mit einem zufriedenen Lächeln zur Kenntnis genommen.

»Dann werd ich jetzt gleich mal bei Bruno anrufen und unser Kommen ankündigen.«

Als Leona nach dem Hörer griff, begann Hennings Handy zu klingeln. Es war Martina Funke. »Ich glaub, ich hab da was für Sie. Ist zwar nur eine Gruppenaufnahme. Aber dafür sind die Gesichter gut zu erkennen.«

»Das ist ja wunderbar!«, freute sich Henning. »Kann ich das Bild heute noch abholen?«

»Warum nicht.« Sie hielt kurz inne. »Was halten Sie davon, wenn wir uns am Tunnel treffen? Vielleicht so gegen fünf?«

Henning versprach pünktlich zu sein.

Alles, was seiner Sammlung nun noch fehlte, war ein Foto von Danko Dierks. Während er nach einem plausiblen Vorwand suchte, Elena darum zu bitten, fiel ihm der Speicherchip ein und er verließ das Zimmer, um ihn in seinem Reisegepäck zu suchen.

Als er zurückkam, hatte Leona gerade ihr Auslandsgespräch beendet.

»Bruno freut sich schon auf unseren Besuch«, fasste sie das kurze Telefonat zusammen. »Ich soll dich herzlich von ihm grüßen.«

»Erst mal sehen, ob der Kerl deinen Lobeshymnen überhaupt gerecht wird«, erwiderte Henning verhalten, bevor er Leona von seinem Gespräch mit Martina Funke erzählte und ihr den Chip überreichte.

 

Sie hatten in etwa die Hälfte der Bilder gesichtet, als sie auf eine Reihe privater Fotos stießen, auf denen neben Elena und Lea auch Danko Dierks zu sehen war.

Während Leona den Drucker aktivierte, starrte Henning wie gebannt auf das Gesicht des Mannes, der ihn vom Bildschirm her anlächelte. Die Fotografie zeigte ein ovales, von dunklem Haar umgebenes Gesicht. Zusammen mit den fast schwarz wirkenden Augen, dem olivefarbenen Teint und dem Schwung seiner Lippen erinnerte er Henning an einen Schauspieler aus Hollywood, dessen Namen ihm im Moment nicht einfallen wollte. In seinem leicht gehetzten Blick erkannte Henning die unterdrückte, aber dennoch sichtbare Nervosität eines Mannes, der vor irgendetwas auf der Flucht zu sein schien. Vielleicht auf der Flucht vor seinem Gewissen? Je länger Henning darüber nachdachte, umso passender schien ihm dieser Vergleich.