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Sobald Marlies ihr Vorhaben mit den Ärzten besprochen und sich Elenas Einverständnis geholt hatte, rief sie Henning an. Als er sich tags darauf hinter das Steuer seines Wagens setzte, um zu dem vereinbarten Termin in die Klinik in Stralsund zu fahren, kamen ihm erneut Bedenken.

Doch dann stand er Elena Dierks gegenüber. Ihr Anblick rührte ihn derart, dass er all seine Zweifel über Bord warf und ihr warm lächelnd die Hand reichte.

Um ihnen eine ungestörte Unterhaltung zu ermöglichen, hatte sich die Klinikleitung nach anfänglichem Zögern bereit erklärt, ihnen einen der Aufenthaltsräume zur Verfügung zu stellen. Eine Pflegerin brachte sie in ein Zimmer, dessen Fenster vergittert waren. Henning fühlte sich wie in einem Vernehmungsraum. Doch er versuchte sich seine Empfindungen nicht anmerken zu lassen. Schließlich waren sie nicht hier, um die Aussicht zu genießen. Nachdem sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, steuerten sie einen der Resopaltische an und nahmen einander gegenüber in orangefarbenen Plastikstühlen Platz.

Henning legte sich Notizbuch und Stift zurecht. Er registrierte, wie Elena ihn dabei verstohlen musterte. Sie wirkte verunsichert. Als ihre Blicke sich begegneten, meinte er, in ihren Augen die bange Frage lesen zu können, ob sie ihm trauen konnte.

»Weshalb sind Sie …? Ich meine …«

»Weshalb ich hier bin?«

Sie beantwortete seine Rückfrage mit einem unmerklichen Nicken.

Mit einem aufmunternden Lächeln fügte er hinzu: »Schwester Marlies schickt mich. Sie bat mich darum, mir Ihre Geschichte anzuhören.«

Kaum hatte er seinen Satz beendet, verdüsterte sich Elenas Miene. »Geschichte – ach, ja?«

Ihre Worte machten ihm klar, dass er sich wie ein Elefant im Porzellanladen verhalten hatte.

Noch so eine unbedachte Äußerung und er würde keine einzige Silbe mehr aus ihr herausbekommen. Die Vorstellung verursachte ihm Unbehagen, auch wenn er selbst nicht wusste, warum. Obwohl er Elena Dierks erst seit wenigen Minuten kannte, ging irgendetwas von ihr aus, dem er sich nur schwer entziehen konnte. Als ihre Blicke sich erneut begegneten, glaubte er, in ihren Augen eine tiefe Trauer und Verletzlichkeit zu erkennen. Man musste kein Psychologe sein, um herauszufinden, dass der Verlust ihres Kindes sich wie ein dunkler Schatten auf ihre Seele gelegt hatte. Genauso hatte sich Henning nach dem Tod seiner Frau gefühlt. Schon deshalb konnte er gut nachvollziehen, wie es in Elena aussehen musste. Für einen Moment lang blitzte das Bildnis seiner verstorbenen Frau am Rande seines Bewusstseins auf. Auch wenn sie zum Zeitpunkt ihres Todes längst kein Kind mehr gewesen war, änderte das nichts am Schmerz, den ihre Mutter verspürt haben musste. Von seinen Erinnerungen überwältigt, sah er sich am Grab seiner Frau stehen.

Das Geräusch von Schritten, die sich vom Gang her näherten, brachte ihn schlagartig in die Realität zurück und machte ihm seine wie unter einer schweren Last nach vorn gebeugte Haltung bewusst. Kein Wunder, dass er sich plötzlich viel älter fühlte, als er in Wirklichkeit war. Als ihre Blicke sich begegneten, ging ein Ruck durch seine zusammengesunkene Gestalt. War da nicht ein flüchtiges Lächeln über Elenas verhärmtes Gesicht gehuscht? Henning nahm es als positives Zeichen, dass sie ihm seine unbedachte Äußerung nicht länger nachtrug. »Ich kann Ihnen nur helfen«, wagte er mit sanfter Stimme einen weiteren Vorstoß, »wenn Sie mir erzählen, was passiert ist.«

Elena löste ihre vor dem Oberkörper verschränkten Arme und schloss die Augen.

Im selben Moment verselbstständigten sich ihre Gedanken und die damaligen Ereignisse spulten sich wie ein Film vor ihrem inneren Auge ab. »Die Scheißfotos«, begann sie, und als Henning irritiert guckte, erzählte sie stockend, dass sie als freiberufliche Fotografin gearbeitet hatte. »Der Bildband über Rügen, es war ein interessanter Auftrag, und Danko, mein Mann, hat vorgeschlagen, doch ein paar Tage Ostseeurlaub damit zu verbinden. Unsere damalige Pension befand sich in der Nähe des Sassnitzer Hafens.« Elena rief sich die Ansicht des mit Reedgras gedeckten Ferienhäuschens ins Gedächtnis zurück. »Danko und Lea haben mich, wann immer es sich anbot, auf meinen Streifzügen entlang des Jasmunds begleitet. Bekam ich dabei ein geeignetes Motiv vor die Kamera, brauchte ich nur noch den Auslöser zu drücken. Für den zwölften Dezember hatte der Wetterbericht ein von Norden her kommendes Sturmtief vorhergesagt. Alles, was mir in meiner Sammlung noch fehlte, waren Aufnahmen einer tosenden See, die den Kampf des Meeres mit den Urgewalten widerspiegelten.«

Obwohl sich ihre Miene bei der Erinnerung daran verdüsterte, sprach sie tapfer weiter: »Ausgerechnet an dem Morgen plagten Danko Magenkrämpfe. Ihm ging’s so elend, dass er weder nach draußen gehen noch auf Lea aufpassen konnte. Aber ich brauchte diese Fotos, das Wetter war ideal. Der Bildband über Rügen … Und am nächsten Tag wollten wir nach Hause fahren … Also habe ich Danko mit einer Kanne Kamillentee versorgt. Danach bin ich mit Lea zum Parkplatz an der Waldhalle gefahren. Dort angekommen schlief Lea. Ich legte sie in den Kinderwagen und machte mich mitsamt der Kameraausrüstung auf den Weg zu den Wissower Klinken.«

Mit jedem ihrer Worte schien Elena tiefer und tiefer in die Vergangenheit einzutauchen. Ihr in sich gekehrter Blick und ihre immer leiser werdende Stimme ließen ihren Schmerz erahnen. Trotz der vergangenen Zeit konnte sie sich noch an jedes Detail erinnern: »Es war über Nacht kalt geworden. Nieselregen hatte die Wege in gefährliche Rutschbahnen verwandelt. Und der mit Orkanstärke wehende Nordostwind peitschte immer neue Wellenberge gegen die Klippen. Doch ich war wild entschlossen, mir von der rauen Witterung keinen Strich durch die Rechnung machen zu lassen. Schließlich war es das ideale Wetter für die noch fehlenden Aufnahmen. Lea ließ sich davon nicht beeindrucken; sie schlief wie ein Murmeltier. Dennoch hätte ich beinahe umkehren müssen, als ich an einen Abstieg gelangte, der für mich allein mit dem Kinderwagen nicht zu bewältigen war. Zum Glück kamen zwei Jogger vorbei, die mir beim Tragen halfen.« Elena schluckte. »Aus heutiger Sicht war es natürlich alles andere als Glück.«

»Das war ganz schön mutig«, meinte Henning. Er versuchte sich die junge Frau in dieser Ausnahmesituation vorzustellen.

»Vielleicht war es auch nur verantwortungslos«, räumte Elena mit einem hilflosen Achselzucken ein. »Aber ich …, ich brauchte die Aufnahmen doch so dringend.« Ihre Hände ballten sich zu Fäusten, als sie mit vor Erregung rauer Stimmer hinzufügte: »Es wäre mir nie in den Sinn gekommen, den Kinderwagen unbeaufsichtigt abzustellen. Ach, hätte ich doch bloß auf die gut gemeinten Ratschläge der Jogger gehört und wäre umgekehrt! Vielleicht hätte das Schicksal dann eine andere Wendung genommen und Lea …«

Mit bebenden Nasenflügeln suchte sie nach einem Taschentuch. Wortlos schob Henning ein Päckchen Tempos über den Tisch.

Nachdem ihre Tränen versiegt waren, schilderte Elena, wie sie ein paar Meter nach der Ernst-Moritz-Arndt-Sicht beschlossen hatte, den Hauptweg zu verlassen, um sich über Nebenpfade in unmittelbare Nähe der Klippen durchzuschlagen. »Ich war so in meine Arbeit vertieft, dass ich kaum wahrnahm, wie der eisige Regen meine Kleidung durchdrang und mir in nadelfeinen Stichen ins Gesicht peitschte. Eine halbe Stunde später erreichte ich eine Stelle, an der es weder eine Absperrung noch ein Geländer gab. Dafür war der Ausblick, der sich durch eine Lücke zwischen den Bäumen am Abgrund bot, umso atemberaubender. Um mich ungestört meiner Arbeit widmen zu können, hatte ich den Kinderwagen ein paar Schritte entfernt abgestellt.

Dass ausgerechnet diese Stelle von einer dünnen Eisschicht überzogen war und zum Meer hin abfiel, wurde mir erst bewusst, als der Kinderwagen bereits dem Abgrund entgegenrollte. Mein Leben lang werde ich dieses Bild nie vergessen. Es hat sich wie ein rotglühendes Eisen in mein Gedächtnis eingebrannt. Im Bruchteil einer Sekunde war ich mir wie in einem Albtraum vorgekommen: Ein Albtraum, aus dem es kein Erwachen gab und der mich fast den Verstand gekostet hätte. Dabei hatte ich doch nur rasch ein paar Bilder von den mit schäumender Gischt überzogenen Felsen schießen wollen. Stattdessen musste ich mit ansehen, wie der Kinderwagen mit meinem Baby, mit meiner Lea, wie durch Geisterhand bewegt dem Abhang entgegenrollte. Sofort stürmte ich los – doch es gelang es mir nicht, ihn aufzuhalten. Sekunden, bevor sich meine Finger um den Griff des Kinderwagens schließen konnten, hatte ihn der Abgrund verschlungen. Eine auf den Wellenbergen treibende Plane war das letzte, was ich von ihm zu sehen bekam. Dann bin ich wohl besinnungslos zu Boden gesunken – in diesem Zustand hat mich zumindest ein Spaziergänger gefunden.

Wie mir später erzählt wurde, setzte der Mann einen Notruf per Handy ab und kurze Zeit später trafen Rettungsarzt, Polizei und Feuerwehr ein. Polizeitaucher bargen die Überreste des Kinderwagens aus dem Meer; da brach ich ein zweites Mal zusammen und wurde der Vorsicht halber in die Psychiatrie eingewiesen. Mir wurden Beruhigungsmittel verabreicht, die mich in einen gnädigen Dämmerzustand versetzten und mich jegliches Zeitgefühl vergessen ließen. Unter wattigen Wolken begraben schien das tragische Unglück seinen Schrecken verloren zu haben. Zumindest für den Augenblick. Doch irgendwann durchdrang die Erkenntnis, was geschehen war, den medikamentös errichteten Schutzwall. Mein Kind, ich bin schuld, dass mein Kind …«

Ihren Worten folgte Schweigen, was Henning erahnen ließ, dass weder die Ärzte noch ihr Mann ihr diese Schuld hatten nehmen können.

Elena setzte wieder an: »Damals schloss ich mit allem ab und gab mich seitdem ganz dem Schmerz und der Verzweiflung hin. Und dann sehe ich Lea plötzlich im Fernsehen!«

Ihr Blick flackerte. Es war unglaubliche anstrengend für sie, darüber zu sprechen. Dennoch schien es sich positiv auf ihre Psyche auszuwirken, sich einem anderen Menschen anvertrauen zu können: Jemandem, der nicht ständig jedes Wort infrage stellte – es analysierte und auf die Goldwaage legte –, sondern sich vorbehaltlos anhörte, was sie zu sagen hatte.

»Was lässt Sie so sicher sein, dass es Lea war?«, tastete sich Henning behutsam vor.

»Ich konnte es spüren«, meinte sie mit gegen den Brustkorb gepressten Händen. »Hier drin habe ich gefühlt, dass sie es ist.«

Der Ausdruck, mit dem ihr Gegenüber sie betrachtete, ließ Elena hinzufügen: »Sehen Sie hier«, sagte sie und wies auf einen kaffeebraunen Leberfleck, den der Kommissar zwar registriert, ihm aber keine weitere Beachtung geschenkt hatte. Er saß direkt auf ihrem rechten Wangenknochen und ähnelte einem vom Daumen einer Mutter halb weggewischten Schmutzfleck.

»Den hat Lea auch. An der gleichen Stelle!« Sie musste nicht hinzufügen, dass das auch für das Kind im Fernsehen galt. Henning hatte es erahnt, bevor sie es aussprach. Um ihre Worte zu unterstreichen, zog sie eine an den Rändern leicht vergilbte Fotografie aus der Tasche ihrer olivgrünen Strickjacke hervor und reichte sie ihm. »Das bin ich, als ich in etwa so alt war wie Lea jetzt ist.«

Der Leberfleck war deutlich zu erkennen. »Das Kind im Fernsehen, es sah genauso aus! Auch wenn Sie mich für verrückt erklären. Ich weiß, dass es Lea war!«

Henning musste daran denken, dass Marlies vor Kurzem etwas ganz Ähnliches geäußert hatte.

Nur kam er so nicht weiter. Alles, was sie hatten, beruhte auf bloßen Vermutungen und der Tatsache, dass Leas sterbliche Überreste bis heute nicht geborgen werden konnten. Sie aber brauchten Fakten statt wilder Spekulationen.

Also versuchte er sich darauf zu konzentrieren, was jetzt konkret zu tun war.

Als hätte Elena seine Gedanken erraten, erkundigte sie sich zaghaft, wie er vorzugehen gedenke.

Ihm war bewusst, wie viel für sie von seiner Antwort abhing. Er durfte sie nicht enttäuschen. Deshalb schlug er vor: »Ich könnte versuchen, einen Mitschnitt der Sendung zu besorgen. Wissen Sie noch, wann und auf welchem Kanal die Sendung lief?«

Das Lächeln, das über ihre verhärmten Züge huschte, ließ etwas von der gut aussehenden Frau erahnen, die Elena früher gewesen sein musste. Sie zog ein sorgsam gefaltetes Stück Papier hervor, das sich als herausgerissene Seite einer Programmzeitschrift erwies. Ein roter Kringel markierte die Sendung. Sie schob es über den Tisch und bemerkte wie beiläufig: »Ich habe gehofft, Sie würden mir diesen Vorschlag machen.«

Bevor sie noch mehr Hoffnung schöpfen konnte, hob Henning abwehrend die Hände. »Warten wir’s erst mal ab. Bis jetzt habe ich den Mitschnitt nicht. Und selbst wenn ich ihn beschaffen kann, bedeutet das längst nicht, dass es sich bei dem Kind tatsächlich um Ihre Tochter handelt. Es wäre nicht das erste Mal, dass zwei Menschen sich gleichen wie ein Ei dem anderen.«

Elena begann unruhig auf ihrem Stuhl hin und her zu rutschen. Mehr noch als der Satz ›Ich weiß, dass es Lea war!‹, verriet ihm der Anblick ihrer hängenden Schultern und ihres zitternden Kinns das ganze Ausmaß ihrer Verzweiflung.