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Einen Tag vor Hennings Abreise meldete sich der Winter zurück.

Der über Nacht gefallene Schnee hatte die Straßen in spiegelglatte Fahrbahnen verwandelt und zu zahlreichen Unfällen geführt. Obwohl in den Nachrichten vor weiteren Schneefällen gewarnt wurde, beschloss Henning, sich wie geplant auf den Weg zu machen.

Nachdem er sein Gepäck im Kofferraum verstaut und Rex bei Wilhelm, Peers Vater, abgeliefert hatte, brach er kurz vor acht Uhr auf. Während er sich durch die von Schnee verwehten Straßen kämpfte, verdichteten sich die grau und schwer über der Insel lastenden Wolken. Kein Wunder, dass es nicht hell werden wollte. Beim Überqueren des Rügendamms begann es so stark zu schneien, dass Stralsunds Silhouette, geprägt vom Hafen, den hohen Speicherfassaden und den drei gotischen Kirchen, hinter einem Vorhang aus dicken weißen Flocken zu versinken drohte. Henning warf einen letzten Blick auf das sanft geschwungene Band der neuen, vom Volksmund bereits auf den Namen ›Strelagate‹ getauften Brücke. Dann setzte er den Blinker, um auf die nach Greifswald führende Autobahn zu wechseln.

Je weiter südlich er kam, desto widriger wurden die Wetterverhältnisse. Als am frühen Nachmittag die sächsische Landesgrenze in Sicht kam, rief ihm sein knurrender Magen unsanft in Erinnerung, dass er seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte. Außerdem musste er tanken.

Er gönnte sich in der Autobahnraststätte ›Dresdner Tor‹ ein verspätetes Mittagessen. Der schneefreie Himmel ließ ihn hoffen, Netzschkau noch vor Einbruch der Dunkelheit zu erreichen.

Leona hatte darauf bestanden, dass er bei ihr wohnte. »Du kannst bleiben, so lange du willst«, hatte sie gesagt und dabei geklungen, als würde sie sich genauso wie er über das unverhoffte Wiedersehen freuen.

 

Er verließ die Autobahn an der Abfahrt Reichenbach, um wenig später im Stau zu stehen. Auf Höhe des Gewerbegebiets ›Kaltes Feld‹ stand ein Laster quer zur Fahrbahn. Henning tröstete sich mit der Aussicht, dass es von hier aus nicht mehr weit bis in die Neuberinstadt war.

Dort angelangt, besorgte er in einem Blumengeschäft in der Nähe des Marktplatzes einen Strauß gelber Rosen für Leona. Er wollte nicht mit leeren Händen bei ihr erscheinen.

Eine halbe Stunde später passierte er das Ortseingangsschild von Netzschkau. Leona wohnte in einem Mietshaus am Ortsrand, unweit einer von der Diakonie betriebenen Seniorenwohnanlage. Als die ersten der an einen bewaldeten Hang geduckten Wohngebäude in Hennings Blickfeld kamen, beschleunigte sich vor Vorfreude sein Herzschlag.

Dann stand er Leona gegenüber. In ihrer Jeans und dem dicken, moosgrünen Fleecepulli, erinnerte sie Henning weniger an eine gestandene Rechtsmedizinerin als an eine Studentin aus dem ersten Semester. Vielleicht erschien sie ihm auch nur deshalb so jung, weil sie ihr Haar kürzer trug. Es reichte nunmehr nur noch bis zum Kinn und umspielte ihr schmales, von Sommersprossen übersätes Gesicht mit den katzenhaft grünen Augen, deren wacher Ausdruck ihn von Anfang an fasziniert hatte.

Sie führte ihn ins Wohnzimmer. »Nimm doch schon mal Platz, ich bin gleich wieder da.«

Als Leona in die angrenzende Küche verschwand, um die Rosen zu versorgen und nach ihrem Braten im Ofen zu sehen, nutzte Henning die Zeit, um den Raum zu betrachten. Neben einer locker um einen ovalen Couchtisch gruppierten Ledersofagarnitur standen Schränke und Bücherregale aus Kirschholz. Gegenüber befand sich ein Essbereich mit einem für zwei Personen eingedeckten Tisch, der durch eine offenstehende Schiebetür abgeteilt wurde.

Durch das dahinterliegende Fenster war ein Stück flüssigen Himmels zu sehen, der sich in Schneeregen aufzulösen schien. Gerade als er die über dem Esstisch hängenden Fotografien näher in Augenschein nehmen wollte, erschien Leona mit einer heiß dampfenden Kasserolle, aus der es verführerisch nach in Rosmarin und Knoblauch gegartem Huhn duftete.

Beim Abendessen erzählte Henning ihr von Elena Dierks. Betroffenheit spiegelte sich in Leonas Gesicht. »Die Ärmste!« Sie schüttelte den Kopf. »Es ist nicht eben viel, was du bisher herausgefunden hast«, fasste sie zusammen, »und jetzt hoffst du, in Elenas Vergangenheit ein Motiv zu finden.«

»Oder in der von Danko Dierks und Rufus Kirchner«, ergänzte Henning.

»Aber die sind doch tot«, wunderte sich Leona.

»Könnte auch jemand aus ihrem Umfeld gewesen sein.«

»Oder sie war einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort. Was, wenn ein Fremder das Kind genommen hat? Die Gelegenheit war schließlich günstig: Weit und breit kein Mensch, die Mutter mit Fotografieren beschäftigt …«

Henning hatte ihr nachdenklich zugehört und schüttelte den Kopf. »Ne, ne. Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand so ein Risiko eingehen würde.«

Leonas skeptische Miene ließ ihn hinzufügen: »Er muss doch davon ausgehen, dass das Kind sofort losbrüllt, wenn er es aus dem Wagen nimmt …«

Dem wusste auch Leona nichts entgegenzusetzen. »Wie willst du weiter vorgehen?«

Henning zuckte mit den Schultern. »Das hängt ganz davon ab, was ich in der Stadtwaldklinik in Erfahrung bringe.«