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Er machte kehrt. Eine rotstrahlende Wand erhob sich vor ihm und blendete ihn.
Er schrie auf, und seine Stimme wurde zu einem dünnen Klagelaut, der ihn zu verspotten schien.
Er versuchte sich zu bewegen, doch er wußte nicht zu sagen, ob er an derselben Stelle verharrte oder ein Dutzend Meilen zurücklegte.
Plötzlich stand jemand einige Meter vor ihm, wie von einem Schirm aus durchscheinenden bunten Edelsteinen verdeckt. Elric trat vor und machte Anstalten, den Schutzwall fortzuschieben, doch schon verschwand das Gebilde von allein. Er hielt inne.
Sein Blick fiel auf ein Gesicht, das einen Ausdruck unendlicher Trauer zeigte.
Und das Gesicht war sein eigenes, nur war die Hautfarbe des Mannes normal und sein Haar schwarz.
»Wer bist du?« fragte Elric mit schwerer Zunge.
»Ich habe schon viele Namen geführt. Einer lautet Erekose. Ich bin schon viele Menschen gewesen. Vielleicht vereine ich alle Menschen in mir.«
»Aber du siehst aus wie ich!«
»Ich bin du.«
»Nein!«
In den Augen des Phantoms standen Tränen.
»Weine nicht um mich!« schrie Elric. »Ich brauche dein Mitleid nicht!«
»Vielleicht weine ich um mich selbst, denn ich kenne unser Schicksal.«
»Und das wäre?«
»Du würdest es doch nicht verstehen.«
»Erzähl mir davon!«
»Frag deine Götter.«
Elric hob sein Schwert und sagte heftig: »Nein -ich will die Antwort von dir hören!«
Da verblaßte das Phantom und verschwand.
Elric fuhr schaudernd zusammen. Plötzlich war der Korridor mit tausend ähnlichen Phantomen angefüllt. Jedes murmelte einen anderen Namen. Jedes trug andere Kleidung. Doch jedes hatte sein Gesicht, wenn auch nicht seinen Teint.
»Fort!« brüllte er. »Oh, bei den Göttern, was ist dies für ein Ort?«
Auf dieses Kommando hin verschwanden die Wesen.
»Elric?«
Der Albino fuhr mit kampfbereit erhobenem Schwert herum. Doch es war Herzog Avan Astran aus Alt-Hrolmar. Er berührte mit zitternden Fingern sein Gesicht, sagte aber ruhig: »Ich muß dir sagen, ich glaube, ich verliere den Verstand, Prinz Elric.«
»Was hast du gesehen?«
»Viele Dinge. Ich vermag sie nicht zu beschreiben.«
»Wo sind Smiorgan und die anderen?«
»Zweifellos ist jeder seines Weges gegangen, wie wir auch.«
Elric hob Sturmbringer und ließ die Klinge gegen eine Kristallwand krachen. Das Schwarze Schwert stöhnte, doch die Wand veränderte lediglich ihre Stellung. Durch eine Lücke sah Elric normales Tageslicht. »Komm, Herzog Avan - hier können wir fliehen.«
Betäubt folgte ihm Avan, und sie traten aus dem Kristall und befanden sich auf dem Hauptplatz R'lin K'ren A'as.
Doch nun war ringsum Lärm zu hören. Wagen und Kutschen bewegten sich um den Platz. Auf einer Seite standen Verkaufsstände. Menschen schlenderten dahin. Und der Jademann beherrschte nicht den Himmel. Die Statue war verschwunden.
Elric blickte in die Gesichter. Es waren die geisterhaften Gesichter der Melniboneer. Und doch hatten diese Gesichter einen anderen Zug, den er nicht gleich zu definieren wußte. Dann aber erkannte er das Besondere: die innere Ruhe. Er streckte die Hand aus, um eine der Gestalten zu berühren.
»Freund, sag mir, welches Jahr.?«
Aber der Mann hörte seine Worte nicht. Er ging vorbei.
Elric versuchte mehrere Passanten anzuhalten, doch keiner vermochte ihn zu sehen oder zu hören.
»Wie konnten sie nur diesen inneren Frieden verlieren?« fragte Herzog Avan staunend. »Wie konnten sie wie du werden, Prinz Elric?«
Elric hätte beinahe die Beherrschung verloren; mit heftiger Bewegung fuhr er zu dem Vilmirier herum. »Still!«
Herzog Avan zuckte die Achseln. »Vielleicht ist dies nur eine Illusion.«
»Vielleicht«, sagte Elric traurig. »Trotzdem bin ich sicher, daß sie so gelebt haben- bis zur Ankunft der Hohen Lords.«
»Dann gibst du also den Göttern die Schuld?«
»Nein, der Verzweiflung, die die Götter mitbrachten.«
Herzog Avan nickte ernst. »Ich verstehe.«
Er wandte sich wieder dem großen Kristall zu und verharrte lauschend. »Hörst du die Stimme, Prinz Elric? Was sagt sie?«
Elric hörte die Stimme. Sie schien aus dem Kristall zu kommen. Sie sprach die alte Sprache Melnibones, wenn auch mit seltsamem Akzent. »Hier entlang«, sagte sie. »Hier entlang.«
Elric zögerte. »Ich habe keine Lust, dorthin zurückzukehren.«
»Was bleibt uns anderes übrig?« fragte Avan.
Gemeinsam schritten sie durch den Eingang.
Wieder befanden sie sich in dem Spiegellabyrinth, das aus einem Korridor oder vielen bestehen mochte, und nun war die Stimme deutlicher zu verstehen. »Zwei Schritte nach rechts«, befahl sie.
Avan musterte Elric. »Was war das?« Elric übersetzte. »Wollen wir es tun?« fragte Aven.
»Aye.« Die Stimme des Albinos klang resigniert.
Sie machten zwei Schritte nach rechts.
»Jetzt vier nach links«, sagte die Stimme.
Sie machten vier Schritte nach links.
»Jetzt einen Schritt vorwärts.«
Sie traten auf den zerstörten Hauptplatz R'lin K'ren A'as hinaus.
Smiorgan und ein vilmirischer Seemann standen dort.
»Wo sind die anderen?« wollte Avan wissen.
»Frag ihn«, sagte Smiorgan erschöpft und deutete mit dem Schwert, das er in der rechten Hand hielt.
Sie starrten auf den Mann, der ein Albino war oder an Lepra litt. Er war völlig nackt und ähnelte Elric sehr. Zuerst dachte Elric, es handele sich um ein neues Phantom, doch dann sah er im Gesicht doch einige Unterschiede. In der Seite des Mannes, unmittelbar über der dritten Rippe, steckte etwas. Erschrecken bemerkte Elric den abgebrochenen Schaft eines vilmirischen Pfeils.
Der nackte Mann nickte. »Aye - der Pfeil fand sein Ziel. Aber er konnte mich nicht töten, denn ich bin J'osui C'reln Reyr...«
»Du glaubst, du bist das Wesen, das zum Leben verurteilt wurde«, sagte Elric.
»Das bin ich.« Der Mann lächelte bitter. »Meinst du etwa, ich versuche dich zu täuschen?«
Elric betrachtete den Pfeilschaft und schüttelte den Kopf.
»Du bist zehntausend Jahre alt?« Avan starrte ihn an.
»Was sagt er?« fragte J'osui C'reln Reyr. Elric übersetzte.
»Ach, nicht länger?« Der Mann seufzte. Dann bedachte er Elric mit einem starren Blick. »Du gehörst meiner Rasse an?«
»Es hat den Anschein.«
»Von welcher Familie?«
»Der Königsfamilie.«
»Dann bist du endlich gekommen! Ich bin ebenfalls von diesem Blut.«
»Ich glaube dir.«
»Wie ich sehe, sind die Olab hinter dir her.«
»Die Olab?«
»Die Primitiven mit den Knüppeln.«
»Aye. Wir haben sie am Fluß kennengelernt.«
»Ich bringe euch in Sicherheit. Kommt.«
Elric ließ sich von J'osui C'reln Reyr über den Platz zu einer Stelle führen, wo eine ziemlich brüchige Mauer stand. Der Mann hob eine Steinplatte und deutete auf eine Treppe, die in die Dunkelheit hinabführte. Sie folgten ihm vorsichtig, während er dafür sorgte, daß sich die Platte über ihren Köpfen wieder senkte. Dann erreichten sie einen kleinen Raum, erhellt von primitiven Öllampen. Bis auf ein Lager aus trockenem Gras war der Raum leer.
»Du lebst bescheiden«, stellte Elric fest.
»Mehr brauche ich nicht. Die Einrichtung kann ich mir denken.«
»Woher kommen die Olab?« erkundigte sich Elric.
»Die sind erst kürzlich in der Gegend aufgetaucht - tausend Jahre ist das her - vielleicht auch nur fünfhundert. Sie kamen von der Fluß-mündung her, nachdem sie sich mit einem anderen Stamm verfeindet hatten. Normalerweise kommen sie nicht auf die Insel. Ihr müßt viele umgebracht haben, wenn sie so sehr hinter euch her sind.«
»Wir haben viele getötet.«
J'osui C'reln Reyr deutete auf die anderen, die sich voller Unbehagen umsahen. »Und die? Ebenfalls Wilde, eh? Sie gehören nicht zu unserem Volk.«
»Von unserer Rasse gibt es nicht mehr viele.«
»Was hat er gesagt?« fragte Herzog Avan.
»Er sagt, die Reptilienkrieger heißen Olab«, antwortete Elric.
»Und sind die Augen des Jademannes von den Olab gestohlen worden?«
Als Eric die Frage übersetzte, zeigte sich das Wesen, das zum Leben verurteilt war, überrascht. »Wißt ihr es denn nicht?«
»Was denn?«
»Nun, ihr seid in den Augen des Jademannes gewesen! Die riesigen Kristalle, durch die ihr gewandert seid - das sind seine Augen!«