2

Die lormyrische Küste war in einem warmen Nebel untergegangen, und Herzog Avan Astrans Schoner richtete den schmalen Bug nach Westen auf das Kochende Meer.

Die vilmirische Besatzung des Schoners war ein weniger anstrengendes Klima und ein weniger anstrengendes Arbeitstempo gewohnt und kam Elric ziemlich verdrossen vor.

Graf Smiorgan Kahlschädel stand neben Elric auf dem Poopdeck des Schiffes und wischte sich den Schweiß von der Glatze. »Die Vilimirier sind ein fauler Haufen, Prinz Elric«, knurrte er. »Für eine solche Reise brauchte Herzog Avan richtige Seeleute. Ich hätte ihm eine ordentliche Mannschaft ausgesucht, aber ich hatte ja keine Gelegenheit.«

Elric lächelte. »Keiner von uns hatte die Gelegenheit dazu, Graf Smiorgan. Die Mannschaft war bereits komplett. Ein kluger Mann, dieser Herzog Avan.«

»Eine Klugheit, die ich aber nicht voll zu respektieren vermag, denn er ließ uns eigentlich keine Wahl. Ein freier Mann ist ein besserer Reisebegleiter als ein Sklave - das sagt schon ein alter Aphorismus.«

»Warum bist du dann nicht ausgestiegen, solange du noch die Chance dazu hattest, Graf Smiorgan?«

»Wegen der Hoffnung auf den Schatz«, anwortete der Mann mit dem schwarzen Bart, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen. »Ich möchte ehrenvoll in die Purpurnen Städte zurückkehren. Vergiß nicht, daß ich eine Flotte befehligt habe, die untergegangen ist.«

Elric verstand den anderen durchaus.

»Meine Motive sind sehr einfach«, fuhr Smiorgan fort. »Die deinen sind viel komplizierter. Du scheinst dich nach der Gefahr zu sehnen, wie andere nach der Liebe oder nach dem Alkohol - als könntest du in der Gefahr Vergessen finden.«

»Trifft das nicht auf viele Berufssoldaten zu?«

»Du bist aber kein bloßer Berufssoldat, Elric. Das weißt du so gut wie ich.«

»Dennoch haben mir nur wenige Gefahren, die ich durchstehen mußte, beim Vergessen geholfen«, wandte Elric ein. »Vielmehr haben sie mich noch stärker an das erinnert, was ich bin - an das Dilemma, dem ich mich gegenübersehe. Meine Instinkte stellen sich gegen die Traditionen meiner Rasse.« Elric tat einen tiefen Atemzug und sagte melancholisch: »Ich suchte die Gefahr, weil ich glaubte, darin vielleicht eine Antwort zu finden - einen Grund für all das Tragische und Widersprüchliche. Gleichzeitig weiß ich, daß ich sie nie finden werde.«

»Aber deshalb fährst du doch nach R'lin K'ren A'a, oder? Du hoffst, deine entfernten Vorfahren wußten die Antwort, die du brauchst?«

»R'lin K'ren A'a ist ein Mythos. Selbst wenn sich die Karte als echt erweist, werden wir nicht viel mehr finden als ein paar uralte Ruinen. Imrryr steht seit zehntausend Jahren und wurde mindestens zwei Jahrhunderte erbaut, nachdem sich mein Volk auf Melnibone niederließ. Die Zeit muß R'lin K'ren A'a ausgelöscht haben.«

»Und die Statue, den Jademann, von dem Avan gesprochen hat?«

»Wenn die Figur je existiert hat, kann sie in den vergangenen hundert Jahrhunderten längst geraubt worden sein.«

»Und das Wesen, das zum Leben verurteilt wurde?«

»Eine Sage.«

»Aber du hoffst doch, nicht wahr, daß alles so ist, wie Herzog Avan es beschrieben hat.?« Graf Smiorgan legte Elric eine Hand auf den Arm. »Oder?«

Elric starrte in den Dampf, der aus dem Meer stieg. Er schüttelte den Kopf.

»Nein, Graf Smiorgan. Ich fürchte, daß alles so ist, wie Herzog Avan es dargestellt hat.«

Der Wind zeigte sich launisch, und der Schoner kam nur langsam voran, während die Hitze weiter zunahm und die Besatzung immer mehr litt und bald ein angstvolles Raunen anstimmte. Auf den verschwitzten Gesichtern zeigte sich ein Anflug von Entsetzen.

Herzog Avan schien als einziger den Mut nicht zu verlieren. Er forderte die anderen auf, sich zu fassen; er versicherte ihnen, daß sie bald reich sein würden, und ordnete an, die Ruder auszufahren, da man sich auf den Wind nicht mehr verlassen konnte. Die Männer murrten, und zogen die Hemden aus; die Haut darunter war so rot wie die gekochter Krebse. Herzog Avan witzelte darüber. Die Vilmirier aber lachten nicht mehr über seine Scherze, wie sie es noch im milderen Klima ihrer Heimatgewässer getan hatten.

Das Meer rings um das Schiff brodelte und brauste, und sie berechneten den Kurs nach den wenigen Instrumenten, die sie hatten, denn der Dampf nahm ihnen die Sicht.

Einmal fuhr etwas Grünes aus dem Meer empor, starrte sie unheilvoll an und verschwand wieder.

Sie aßen und schliefen wenig, und Elric verließ das Poopdeck nur selten. Graf Smiorgan erduldete die Hitze klaglos, und Herzog Avan, der kein Unbehagen zu empfinden schien, stolzierte forsch auf dem Schiff herum und redete aufmunternd auf seine Männer ein.

Das Phänomen faszinierte Graf Smiorgan. Er hatte von dem Meer erzählen hören, ohne es je durchfahren zu haben. »Dies sind nur die Randbezirke, Elric«, sagte er nicht ohne Erstaunen. »Stell dir vor, wie es in der Mitte aussehen muß!«

Elric verzog das Gesicht. »Lieber nicht. Wie die Dinge liegen, fürchte ich zu Tode gesotten zu werden, wenn die Lage nicht bald anders wird.«

Herzog Avan hörte seine Worte und versetzte ihm einen Schlag auf die Schulter. »Unsinn, Prinz Elric! Der Dampf tut dir gut! Etwas Gesünderes gibt es nicht!« Und er reckte die Glieder; offenbar fühlte er sich sehr wohl. »Holt alle Gifte aus dem Körper.«

Graf Smiorgan bedachte ihn mit einem mürrischen Blick, und Herzog Avan lachte. »Kopf hoch, Graf Smiorgan. Nach meinen Karten - soweit man sich darauf verlassen kann - erreichen wir in ein paar Tagen die Küste des westlichen Kontinents.«

»Der Gedanke muntert mich nicht gerade auf«, sagte Graf Smiorgan, doch angesteckt von Avans guter Laune, lächelte er dennoch.

Nach kurzer Zeit beruhigte sich das Meer tatsächlich, der Dampf verteilte sich, die Hitze wurde etwas erträglicher.

Endlich erreichten sie einen ruhigen Ozean unter einem schimmernden blauen Himmel, an dem eine rotgoldene Sonne stand.

Drei Männer der ilmirischen Besatzung hatten die Durchquerung des Kochenden Meeres nicht überlebt, und vier weitere waren von einer Krankheit befallen, die sie husten und zittern und nachts aufschreien ließ.

Eine Zeitlang herrschte Flaute, dann aber kam ein leichter Wind auf, der die Segel des Schoners füllte. Nach kurzer Zeit sichteten sie das erste Land - eine kleine gelbe Insel, auf der sie Früchte und eine Süßwasserquelle fanden. Hier wurden die drei Männer bestattet, die der Krankheit des Kochenden Meeres erlegen waren; die Vilmirier hatten sich geweigert, die Toten im Ozean zu bestatten, weil sie darin ›wie im Topf gesotten‹ worden wären.

Während der Schoner vor der Insel vor Anker lag, rief Herzog Avan Elric in seine Kabine und zeigte ihm die alte Karte zum zweitenmal.

Hellgoldenes Sonnenlicht fiel durch die Fenster der Kabine auf das alte Pergament, aus der Haut eines Wesens gegerbt, das längst ausgestorben war. Elric und Herzog Avan Astran aus Alt-Hrolmar beugten sich über die Zeichnung.

»Siehst du«, sagte Herzog Avan und deutete mit dem Finger. »Die Insel ist eingezeichnet. Der Maßstab der Karte scheint einigermaßen zu stimmen. Noch drei Tage, dann haben wir die Flußmündung erreicht.«

Elric nickte. »Trotzdem wäre es klug, hier eine Weile zu ruhen, bis wir wieder zu Kräften gekommen sind und die Moral der Besatzung sich gebessert hat. Schließlich muß es Gründe geben, warum die Menschen den Dschungel des Westens jahrhundertelang gemieden haben.«

»Bestimmt gibt es dort Wilde - es heißt sogar, daß sie gar keine Menschen sind -, aber ich bin überzeugt, daß wir mit den Gefahren fertigwerden. Ich habe Erfahrung mit solchen Reisen in fremde Länder, Prinz Elric!«

»Aber du hast selbst gesagt, daß du Angst vor anderen Gefahren hättest.«

»Das ist richtig. Also schön, wir tun, was du sagst.«

Am vierten Tag erhob sich ein starker Ostwind, und sie lichteten Anker. Mit halber Segelfläche sprang der Schoner förmlich über die Wellen; die Mannschaft sah darin ein gutes Vorzeichen.

»Geistlose Dummköpfe!« sagte Smiorgan, der neben Elric im Bug stand und sich an den Wanten festhielt. »Es wird noch der Augenblick kommen, da sie sich wünschen, die saubere Pein des Kochenden Meeres zu erleiden. Diese Reise, Elric, wird niemandem von uns nützen, auch wenn die Reichtümer R'lin K'ren A'as tatsächlich noch vorhanden sein sollten.«

Elric aber antwortete nicht. Er hing seltsamen Gedanken nach, ungewohnten Gedanken für ihn; er dachte an seine Kindheit, an seine Mutter und seinen Vater. Sie waren die letzten wahren Herrscher des Strahlenden Reiches gewesen - stolz, rücksichtslos, grausam. Sie hatten von ihm erwartet - vielleicht wegen seines seltsamen Albinismus -, daß er den Glanz Melnibones wieder herstellen würde. Statt dessen drohte er nun die Reste dieses Glanzes zu zerstören. Sie - wie auch er - waren eigentlich in diesem neuen Zeitalter der Jungen Königreiche fehl am Platze, doch sie hatten sich dieser Erkenntnis widersetzt. Diese Reise zum westlichen Kontinent, in das Land seiner Vorfahren, löste ein besonderes Interesse in ihm aus. Hier waren keine neuen Nationen entstanden. Soweit er wußte, hatte sich der Kontinent nicht mehr verändert, seit R'lin K'ren A'a verlassen worden war. Der Dschungel war bestimmt derselbe Dschungel, den schon seine Vorväter gekannt hatten, das Land dasselbe Land, das diese seltsame Rasse hervorgebracht, das den Charakter seiner Bewohner geformt hatte, mit ihren unheimlichen Vergnügungen, melancholischen Künsten und ihren düsteren Zerstreuungen. Hatten seine Vorfahren dieselbe Qual des Wissens verspürt, diese Ohnmacht im Angesicht der Erkenntnis, daß die Existenz keinen Sinn, kein Ziel, keine Hoffnung mehr hatte? War dies der Grund, warum sie ihre Zivilisation nach diesem besonderen Muster errichtet hatten, warum sie die friedlicheren geistigen Werte der menschlichen Philosophen abgelehnt hatten? Er wußte, daß viele Intellektuelle der Jungen Königreiche das mächtige Volk von Melnibone als wahnsinnig bemitleideten. Aber wenn die Melniboneer wahnsinnig gewesen waren und diesen Wahnsinn einer Welt aufgedrückt hatten, die hundert Jahrhunderte lang bestanden hatte -was hatte sie so werden lassen? Vielleicht war das Geheimnis wirklich in R'lin K'ren A'a zu finden - in nicht greifbarer Form, sondern in der Ausstrahlung des dunklen Dschungels und der mächtigen alten Flüsse. Vielleicht gelang ihm hier endlich die wahre Rückbesinnung auf sich selbst.

Elric fuhr sich mit den Fingern durch das milchweiße Haar, und in seinen Augen standen unschuldige Pein. Womöglich war er der letzte seiner Art - und doch glich er dieser Art gar nicht. Smiorgan irrte; Elric wußte, daß alles Existierende ein Gegenstück hatte. In der Gefahr mochte er Frieden finden. Dabei lag natürlich im Frieden auch Gefahr. Als unvollkommene Kreatur in einer unvollkommenen Welt würde er immer wieder auf Widersprüche stoßen. Und das war der Grund, warum in einem Widerspruch zugleich immer eine Art Wahrheit lag. Aus diesem Grund florierte das Geschäft von Philosophen und Wahrsagern. In einer vollkommenen Welt hätten sie keinen Platz gefunden. In einer unvollkommenen Welt gab es immer Rätsel ohne Lösung - folglich auch eine große Auswahl an Lösungen.

Am Morgen des dritten Tages kam die Küste in Sicht, und der Schoner suchte sich seinen Weg zwischen den großen Sandbänken des riesigen Deltas und ankerte schließlich in der Mündung des dunklen, namenlosen Flusses.