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Graf Smiorgan und Vassliss aus Jharkor sahen zu, während Elric keuchend und bleich auf die Decksplanken sank. Sein erster Versuch, in dieser Welt Zauberkräfte herbeizurufen, war fehlgeschlagen und hatte ihn viel Kraft gekostet.

»Ich bin mehr denn je davon überzeugt«, sagte er zu Smiorgan, »daß wir uns auf einer anderen Existenzebene befinden, denn meine Beschwörungen hätten weniger anstrengend sein müssen.«

»Es hat nicht geklappt.«

Elric erhob sich mühsam. »Ich versuche es noch einmal.«

Er wandte das weiße Gesicht zum Himmel; er schloß die Augen; er streckte die Arme aus, und sein Körper erstarrte, als er die Beschwörung erneut sprach, dabei wurde seine Stimme immer lauter und höher, bis sie an das Kreischen eines Sturms erinnerte.

Er vergaß, wo er war; er vergaß seine eigene Identität; er vergaß die beiden, die bei ihm waren; sein Verstand konzentrierte sich voll auf den Ruf. Er schickte diesen Ruf über die engen Grenzen der Welt in jene seltsame Ebene, in der die Elementargeister hausten und in der die mächtigen Wesen der Luft noch zu finden waren - die Sylphen der Windstöße, die Sharnahs, die in den Stürmen lebten, und die mächtigsten von allen, die h'Haarshanns, Geschöpfe des Wirbelsturms.

Einige dieser Wesen begannen nun doch auf seinen Ruf zu reagieren, bereit, ihm zu dienen, wie sie auf der Grundlage eines uralten Pakts schon seinen Vorfahren gedient hatten.

Langsam begann sich das Segel des Schiffes zu füllen, die Planken ächzten, Smiorgan lichtete den Anker, und das Schiff glitt von der Insel fort, durch das Felstor der Hafeneinfahrt, hinauf aufs offene Meer - unter der fremdartigen blauen Sonne.

Nach kurzer Zeit bildete sich eine Riesenwelle ringsum, eine Woge, die das Schiff anhob und so schnell über den Ozean trug, daß Graf Smiorgan und das Mädchen nur staunen konnten, während Elric, die roten glasigen Augen blicklos aufgerissen, weiter lockend mit seinen unsichtbaren Verbündeten sprach und sie zur Hilfe veranlaßte.

So glitt das Schiff über das Meer, und endlich war die Insel nicht mehr zu sehen, und das Mädchen, das nach der Stellung der Sonne die Position prüfte, vermochte Graf Smiorgan Information zu geben, nach denen er seinen Kurs ausrichten konnte.

Sobald er vom Steuerrad fortkam, begab sich Graf Smiorgan zu Elric, der an Deck hockte, reglos wie zuvor, und schüttelte ihn an der Schulter.

»Elric! Du mühst dich so sehr, daß es dich noch das Leben kostet! Wir brauchen deine Freunde nicht mehr!«

Sofort ließ der Wind nach, die Woge verschwand, und Elric sank keuchend zu Boden.

»Es ist mühsamer hier«, sagte er. »Soviel mühsamer. Es ist, als müßte ich über größere Abgründe hinwegrufen als je zuvor.«

Dann legte sich Elric schlafen.

Er lag in einer warmen Koje in einer kühlen Kabine. Durch das Bullauge drang diffuses blaues Licht herein. Er atmete prüfend durch die Nase. Es roch angenehm nach heißem Essen. Als er den Kopf drehte, sah er Vassliss neben sich stehen, eine Schale voll Suppe in der Hand. »Ich hab' dir eine Suppe gekocht«, sagte sie. »Sie wird dich stärken. Soweit ich es zu sagen vermag, nähern wir uns dem Roten Tor. In der Nähe ist immer unruhiger Seegang, du mußt also bei Kräften sein.«

Elric dankte ihr freundlich und begann die Brühe zu löffeln; sie sah ihm zu.

»Du bist Saxif D'Aan sehr ähnlich«, sagte sie. »Auf eine Weise härter, doch zugleich sanfter. Er ist der Welt irgendwie entrückt. Ich weiß, warum das Mädchen ihm nicht sagen konnte, daß sie ihn liebte.«

Elric lächelte. »Ach, die Geschichte, die ich da vorhin erzählt habe, ist doch nichts anderes als eine Sage, glaube ich. Dieser Saxif D'Aan mag eine ganz andere Person sein - vielleicht ein Betrüger, der nur den Namen führt, oder ein Zauberer. Manche Zauberer nehmen die Namen anderer Zauberer an, in dem Glauben, daß sie dadurch stärker werden.«

Von oben ertönte ein Ruf, doch Elric vermochte die Worte nicht zu unterscheiden.

Das Mädchen zog ein besorgtes Gesicht. Wortlos eilte sie aus der Kabine.

Elric richtete sich taumelnd auf und folgte ihr die Treppe hinauf.

Graf Smiorgan Kahlschädel stand am Ruder seines Schiffes und deutete auf den Horizont hinter dem Schiff. »Was hältst du davon, Elric?«

Elric starrte über das Meer, konnte aber nichts erkennen. Oft waren seine Augen schwach wie in diesem Augenblick. Das Mädchen aber sagte mit leiser Verzweiflung:

»Ein goldenes Segel.«

»Du erkennst es?« fragte Elric.

»O ja. Es ist die Galleone von Graf Saxif D'Aan. Er hat uns gefunden. Vielleicht wußte er, daß wir hier entlangkommen würden, und hat uns aufgelauert.«

»Wie weit ist es noch bis zum Tor?«

»Das weiß ich nicht genau.«

In diesem Augenblick war von unten ein schrecklicher Laut zu hören, als versuche jemand, die Planken des Schiffes einzuschlagen.

»Im vorderen Laderaum!« rief Smiorgan. »Kümmere dich darum, Freund Elric! Aber nimm dich in acht, Mann!«

Vorsichtig hob Elric die vordere Decksluke an und starrte in die dämmerige Weite des Laderaums. Das Stampfen und Hämmern ging weiter, und als seine Augen sich an die Lichtverhältnisse gewöhnt hatten, erkannte er die Ursache.

Dort unten stand das weiße Pferd. Bei seinem Anblick wieherte es, fast als wolle es ihn begrüßen.

»Wie ist das Tier an Bord gekommen?« fragte Elric. »Ich habe nichts davon gesehen oder gehört.«

Das Mädchen war beinahe so bleich wie Elric.

Sie sank neben der Luke auf die Knie und barg das Gesicht in den Armen.

»Er hat uns! Er hat uns!«

»Noch haben wir die Chance, das Rote Tor vor ihm zu erreichen«, sagte Elric beruhigend.

»Und sind wir erst wieder in meiner Welt, nun, dann kann ich zu unserem Schutz viel stärkere Zauberkräfte aufbieten.«

»Nein!« schluchzte sie. »Es ist zu spät. Aus welchem anderen Grunde sollte das weiße Pferd hier sein? Es weiß, daß Saxif D'Aan uns bald entern wird.«

»Dann muß er kämpfen, ehe er dich bekommt«, versprach Elric.

»Du hast seine Männer noch nicht gesehen. Alles Halsabschneider. Verzweifelt und wild wie Wölfe! Die kennen keine Gnade. Am besten lieferst du mich sofort an Saxif D'Aan aus und bringst dich in Sicherheit. Für dich gibt es nichts zu gewinnen, wenn du mich zu schützen versuchst. Aber ich möchte dich um einen Gefallen bitten.«

»Und der wäre?«

»Verschaffe mir ein kleines Messer, damit ich mich selbst töten kann, sobald ich weiß, daß ihr beide in Sicherheit seid.«

Elric lachte und zerrte sie hoch. »Von solchen melodramatischen Taten will ich nichts wissen, Mädchen. Wir kämpfen. Vielleicht können wir mit Saxif D'Aan einen Handel abschließen.«

»Was hättet ihr denn zu bieten?«

»Sehr wenig. Aber das weiß er ja nicht.«

»Offenbar kann er Gedanken lesen. Er verfügt über große Macht!«

»Ich bin Elric von Melnibone. Auch von mir wird behauptet, daß ich gewisse Zauberkünste beherrsche.«

»Aber du bist nicht so zielstrebig entschlossen wie Saxif D'Aan«, sagte sie schlicht. »Ihn beherrscht ein einziger Gedanke - das Bedürfnis, mich zu seiner Gefährtin zu machen.«

»Viele Frauen würden sich geschmeichelt fühlen, wenn ein Mann so um sie würbe; sie wären gern die Gemahlin eines melniboneischen Herrschers.« Elrics Ton war sarkastisch.

Sie ging nicht auf seinen Tonfall ein. »Deshalb fürchte ich ihn ja so sehr«, sagte sie leise. »Würde ich auch nur einen Augenblick lang in meiner Entschlossenheit wankend werden, könnte ich ihn lieben. Es wäre mein Untergang. Das muß sie auch gewußt haben!«