3
Da er sich an seine Fahrt auf dem Schwarzen Schiff kaum erinnerte, sollte Elric auch nie erfahren, wie er in die Welt gelangt war, in der er sich nun befand. In späteren Jahren würde er sich an die meisten Erlebnisse nur als Träume erinnern, Erlebnisse, die schon im Augenblick des Geschehens irgendwie traumhaft auf ihn wirkten.
Er schlief unruhig. Am Morgen hingen die Wolken tiefer, durchdrungen von einem bleiernorangeroten Licht; die Sonne selbst war allerdings nicht zu sehen. Smiorgan Kahlschädel von den Purpurnen Städten war bereits aufgesprungen und deutete in stillem Triumph zum Himmel.
»Genügt das, um dich zu überzeugen, Elric aus Melnibone?«
»Ich bin überzeugt, daß das Licht hier - und vielleicht die ganze Gegend - eine Eigenschaft hat, die die Sonne blau erscheinen läßt«, antwortete Elric. Angewidert betrachtete er die Toten ringsum, eine scheußliche Kulisse. Elric wurde von einem vagen Unbehagen befallen, das weder Reue noch Mitleid entsprang.
Smiorgans Seufzen klang sarkastisch. »Nun, Herr Skeptiker, dann sollten wir dorthin zurückkehren, woher ich komme, und mein Schiff suchen. Was meinst du?«
»Einverstanden«, sagte der Albino.
»Wie weit hattest du dich von der Küste entfernt, als du uns fandest?«
Elric schilderte ihm die Lage.
Smiorgan lächelte. »Dann bist du ja gerade rechtzeitig gekommen. Ich wäre heute in ärgste Verlegenheit geraten, hätte ich meinen Piratenfreunden kein Dorf präsentieren können. Ich werde nicht vergessen, was du für mich getan hast, Elric. Ich bin Graf der Purpurnen Städte und habe großen Einfluß. Wenn ich nach unserer Rückkehr etwas für dich tun kann, mußt du es mir sagen.«
»Ich danke dir«, antwortete Elric gemessen. »Aber zuerst müssen wir einen Fluchtweg finden.«
Smiorgan hatte einen Sack mit Nahrungsmitteln und etwas Wasser und Wein vorbereitet. Elric stand nicht der Sinn nach einem Frühstück zwischen den Toten, so warf er sich den Sack über die Schulter. »Ich bin fertig«, sagte er.
Smiorgan war zufrieden. »Komm - diese Richtung.«
Elric folgte dem Seemann über den trockenen, knirschenden Boden. Die steilen Mauern des Tals ragten hoch über ihnen auf, gesäumt von einem seltsamen und unangenehm grünen Schimmer -das blaue Licht der Sonne wurde durch braunes Blattwerk über ihnen gefiltert. Als sie den Fluß erreichten, der ziemlich schnell zwischen Felsen dahinströmte, die das Überqueren einfach machten, legten sie eine Ruhepause ein und aßen. Beide Männer spürten noch die Nachwirkungen des Kampfes tags zuvor; beide waren froh, sich das getrocknete Blut und den verkrusteten Schmutz abwaschen zu können.
Erfrischt stiegen sie schließlich über die Felsbrocken und kehrten dem Fluß den Rücken; sie nahmen die Hänge in Angriff und sprachen dabei wenig, um sich den Atem für den Aufstieg aufzuheben. Es war Mittag, als sie das Tal verließen und eine Ebene vor sich sahen, ähnlich der, die Elric schon überquert hatte. Der Albino hatte nun eine gewisse Vorstellung von der Geographie der Insel; sie ähnelte einer Bergspitze, mit einer Einkerbung in der Mitte, die das Tal darstellte. Wieder fiel ihm das Fehlen tierischen Lebens auf, und er machte eine entsprechende Bemerkung zu Graf Smiorgan, der ihm bestätigte, daß er ebenfalls nichts gesehen hatte - keinen Vogel, keinen Fisch und auch kein Insekt.
»Eine öde kleine Welt, Freund Elric. Der Seemann, der hier strandet, hat großes Pech.«
Sie wanderten weiter, bis sie den fernen Horizont ausmachten, an dem sich Meer und Himmel trafen.
Schließlich war es Elric, der auf das Geräusch hinter ihnen aufmerksam wurde; er erkannte den gleichmäßigen Hufschlag eines galoppierenden Pferdes. Als er sich jedoch umdrehte, war von einem Reiter nichts zu sehen, auch zeigte sich keine Stelle, an der sich ein Reiter hätte verstekken können. Er nahm an, daß er in seiner Erschöpfung das Opfer einer Halluzination geworden war. Sicher hatte er nur fernen Donner gehört.
Smiorgan schritt ungeduldig weiter, obwohl er die Geräusche ebenfalls gehört haben mußte.
»Smiorgan? Hast du den Reiter gehört?«
Smiorgan ging weiter, ohne sich umzudrehen. »Ja«, knurrte er verdrossen.
»Du kennst die Laute?«
»Ich habe sie oft gehört. Die Piraten ebenfalls, und einige nahmen an, das Pferd wäre ihr Schicksal, ein Engel des Todes, der sie strafen wolle.«
»Du weißt aber nicht, woher diese Geräusche kommen?«
Smiorgan blieb stehen, und als er sich umdrehte, war sein Gesicht grimmig verzerrt. »Ich glaube, ich habe ein- oder zweimal kurz ein Pferd gesehen. Ein riesiges Tier - weiß, prunkvoll aufgezäumt, doch ohne Reiter auf dem Rücken. Kümmere dich nicht darum, Elric, wie ich. Es gibt größere Rätsel für uns.«
»Hast du Angst davor, Smiorgan?«
Er widersprach nicht. »Aye, ich gestehe es. Aber weder Angst noch Mutmaßungen befreien uns davon. Komm!«
Elric mußte Smiorgans Logik einsehen; als das Geräusch etwa eine Stunde später wieder zu hören war, konnte er trotzdem nicht anders: er drehte sich um. Dabei glaubte er den Umriß eines großen Hengstes wahrzunehmen, zum Ausritt aufgezäumt und gesattelt - aber es konnte sich genausogut um eine Vision handeln, die durch Smiorgans Worte ausgelöst worden war.
Es wurde kälter, und in der Luft lag ein seltsamer bitterer Duft. Elric machte eine Bemerkung darüber und erfuhr von Graf Smiorgan, daß dies nichts Neues war.
»Der Geruch kommt und geht, ist aber in einer gewissen Stärke fast immer vorhanden.«
»Wie Schwefel«, stellte Elric fest.
In Graf Smiorgans Lachen lag eine gewisse Ironie, als habe Elric einen ganz privaten Scherz angesprochen, den Smiorgan mit sich herumtrug. »Oh, aye! Schwefel, in der Tat!«
Als sie sich der Küste näherten, wurde der Hufschlag lauter, und schließlich wandten sich Elric und Smiorgan erneut um.
Nun war deutlich ein Pferd zu sehen - reiterlos, aber gesattelt und gezäumt. Die dunklen Augen blickten intelligent herüber, der prachtvolle weiße Kopf war stolz erhoben.
»Bist du immer noch sicher, daß es hier keine Zauberer gibt, Herr Elric?« fragte Graf Smiorgan mit einer gewissen Befriedigung. »Das Pferd war unsichtbar. Jetzt ist es sichtbar.« Er rückte seine Streitaxt auf der Schulter zurecht. »Entweder das - oder das Tier bewegt sich mühelos von einer Welt in die andere, so daß wir hauptsächlich nur seinen Hufschlaghören.«
»Wenn das so ist«, sagte Elric sarkastisch und ließ den Hengst nicht aus den Augen, »kann uns das Pferd ja vielleicht in unsere Welt zurückbringen.«
»Du gibst also zu, daß wir in einem Nirgendwo gestrandet sind?«
»Na schön - ja. Ich räume ein, daß diese Möglichkeit besteht.«
»Hast du denn keine Zauberkräfte, um das Pferd einzufangen?«
»Die Zauberei fällt mir generell nicht leicht, denn ich mag sie im Grunde nicht«, gestand der Albino.
Während des Sprechens waren sie auf das Pferd zugegangen, das sie aber nicht näher heranlassen wollte. Es schnaubte und tänzelte rückwärts, so daß die Entfernung gleich blieb.
Schließlich sagte Elric: »Damit verschwenden wir nur unsere Zeit, Graf Smiorgan. Begeben wir uns auf direktem Wege zu deinem Schiff, vergessen wir blaue Sonnen und verhexte Pferde so gut wir können. Sind wir erst einmal an Bord, kann ich dir sicher mit einem kleinen Zauberspruch aushelfen - wir brauchen ein wenig Unterstützung, wenn wir ein großes Schiff allein bemannen wollen.«
Sie marschierten weiter, aber das Pferd folgte ihnen. Sie erreichten den Rand der Klippen hoch über einer kleinen Felsenbucht, in der ein ramponiertes Schiff vor Anker lag. Das Schiff hatte die hohe, anmutige Form eines Frachters der Purpurnen Städte, doch die Decks waren übersät mit Segelfetzen, Tauenden, Holzsplittern, aufgerissenen Tuchballen, zerschlagenen Weinkrügen und allen möglichen anderen Trümmern; die Holzgeländer waren an mehren Stellen zerbrochen, etliche Rahen geknickt. Kein Zweifel - dieses Schiff hatte Stürme und Seeschlachten hinter sich; ein Wunder, daß es überhaupt noch schwamm.
»Wir müssen nach besten Kräften Ordnung schaffen. Aber selbst dann können wir nur das Hauptsegel verwenden«, sagte Smiorgan nachdenklich. »Hoffentlich bekommen wir genug Nahrung zusammen.«
»Sieh doch!« Elric hob den Arm. Er war überzeugt, in den Schatten am Achterdeck eine Bewegung gesehen zu haben. »Haben die Piraten etwa einen Mann zurückgelassen?«
»Nein.«
»Hast du nicht eben jemanden auf dem Schiff gesehen?«
»Meine Augen spielen dem Verstand oft übel mit«, sagte Smiorgan. »Das liegt an dem verdammten blauen Licht. An Bord sind ein paar Ratten, mehr nicht. Du hast sicher eine Ratte gesehen.«
»Möglich.« Elric blickte nach hinten. Das Pferd, das am braunen Gras zupfte, schien keine Notiz mehr von ihnen zu nehmen. »Nun, dann beenden wir unseren Ausflug.«
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Sie kletterten die steile Klippe hinab und erreichten nach kurzer Zeit die Küste. Durch das flache Wasser wateten sie zum Schiff, kletterten mühsam an den glatten Tauen empor, die noch über die Bordwand hingen, und betraten schließlich erleichtert das Deck.
»Schon fühle ich mich sicherer«, sagte Smiorgan. »Dieses Schiff war lange Zeit mein Zuhause!« Er wühlte in der verstreuten Ladung herum, bis er einen intakten Weinkrug fand, schnitt das Siegel ab und reichte Elric das Gefäß. Der Albino hob die Öffnung an die Lippen und ließ sich einen kleinen Schluck des guten Weins in den Mund laufen. Als Graf Smiorgan zu trinken begann, glaubte Elric eine neuerliche Bewegung am Achterdeck wahrzunehmen und machte einige Schritte in diese Richtung.
Er war fest davon überzeugt, daß da jemand mühsam und hastig atmete - das Atmen eines Menschen, der nicht entdeckt werden wollte und deshalb lieber sein Bedürfnis nach Luft unterdrückte. Die Atemzüge waren nicht laut, doch der Albino hatte gute Ohren - im Gegensatz zu seinen Augen. Er hielt sich bereit, das Schwert zu ziehen, und näherte sich der Ursache der Geräusche; Smiorgan folgte dicht hinter ihm.
Sie kam aus ihrem Versteck, ehe er sie erreichte. Das Haar rahmte in verklebten und schmutzigen Locken ihr bleiches Gesicht, die Schultern waren gebeugt, die weichen Arme hingen schlaff herab, das Kleid war schmutzig und zerrissen.
Sie sank vor Elric in die Knie. »Töte mich«, sagte sie ergeben, »aber ich flehe dich an - bring mich nicht zu Saxif D'Aan zurück, obgleich du sein Diener oder Verwandter bist.«
»Sie ist es!« rief Smiorgan verblüfft. »Unser Passagier! Sie muß sich die ganze Zeit versteckt haben!«
Elric trat vor und faßte die Frau am Kinn und hob ihren Kopf, damit er ihr Gesicht sehen konnte. Ihre Züge hatten etwas Melniboneisches; trotzdem nahm er an, daß sie eher aus den Jungen Königreichen stammte. Ihr fehlte auch der Stolz einer melniboneischen Frau. »Welchen Namen hast du geführt?« fragte er freundlich. »Hast du eben von Saxif D'Aan gesprochen? Graf Saxif D'Aan aus Melmbone?«
»Ja, Herr.«
»Du brauchst in mir nicht seinen Diener zu fürchten«, sagte Elric. »Und was die Verwandschaft angeht, nun, die dürfte mütterlicherseits bestehen - nein, eher großmütterlicherseits. Er war mein Vorfahr. Er muß seit mindestens zweihundert Jahren tot sein!«
»Nein«, sagte sie. »Er lebt, Herr!«
»Auf dieser Insel?«
»Die Insel ist nicht sein Zuhause, doch in dieser Ebene existiert er. Ich wollte ihm durch das Rote Tor entkommen. Ich floh in einem Ruderboot hindurch und erreichte die Stadt, in der du mich fandest, Graf Smiorgan, doch kaum war ich an Bord, zog er mich zurück. Er zog mich zurück, mitsamt dem Schiff. Bedauern erfüllt mich wegen dieser Tat - und wegen des Schicksals deiner Mannschaft. Jetzt weiß ich, daß er mich sucht. Ich spüre ihn näherkommen.«
»Ist er unsichtbar?« fragte Smiorgan plötzlich. »Reitet er ein weißes Pferd?«
Ihr stockte der Atem. »Seht ihr! Er ist wirklich in der Nähe. Aus welchem anderen Grund sollte das Pferd auf der Insel auftauchen?«
»Er reitet darauf?« fragte Elric.
»Nein, nein! Er fürchtet das Pferd beinahe so sehr wie ich ihn fürchte. Das Pferd verfolgt ihn!«
Elric zog das melniboneische Goldrad aus der Tasche. »Hast du diese Münze von Graf Saxif D'Aan?«
»Ja.«
Der Albino runzelte die Stirn.
»Wer ist dieser Mann, Elric?« fragte Graf Smiorgan. »Du beschreibst ihn als einen Vorfahren -doch lebt er in dieser Welt. Was weißt du über ihn?«
Elric wog das Goldrad in der Hand und steckte es wieder in die Tasche. »Mit ihm verbindet sich in Melnibone eine Art Legende. Seine Geschichte ist in unsere Literatur eingegangen. Er war ein großer Zauberer - einer der größten - und verliebte sich. Es geschieht selten genug, daß sich ein Melniboneer verliebt, so wie andere dieses Gefühl verstehen, doch noch seltener ergeben sich diese Gefühle gegenüber einem Mädchen, das nicht einmal unserer Rasse angehört. Sie war nur Halb-Melniboneerin, hieß es, stammte aber aus einem Land, das damals zu den melniboneischen Besitztümern gehörte, eine Provinz im Westen, bei Dharijor. Sie wurde von ihm gekauft, zusammen mit ein paar anderen Sklaven, die er für ein Zauberexperiment zu verwenden gedachte. Er trennte sie aber von der Gruppe und bewahrte sie von dem unbekannten Schicksal der anderen. Er überschüttete sie mit Aufmerksamkeiten, mit Geschenken. Für sie gab er seine Zaubertätigkeit auf und zog sich aus Imrryr zurück, um irgendwo ein stilles Leben zu führen, obgleich sie ihn nicht zu lieben schien. Es gab da nämlich einen anderen Mann, einen Krieger namens Carolak, wenn ich mich recht erinnere, ebenfalls Halb-Melniboneer. Er hatte sich in Shazar als Söldner anwerben lassen und stand am shazarischen Hof in hoher Gunst. Vor ihrer Entführung war sie diesem Carolak versprochen worden.«
»Sie liebte ihn?« fragte Graf Smiorgan.
»Sie wurde ihm als Ehefrau versprochen - aber laß mich die Geschichte zu Ende erzählen.« Elric fuhr fort: »Nun, nach einiger Zeit erfuhr Carolak, der inzwischen eine hohe Position bekleidete und nach dem König praktisch der zweite Mann in Shazar war, von ihrem Schicksal und schwor, sie zu retten. Er tauchte mit zahlreichen Kampfgefährten vor der melniboneischen Küste auf und brachte mit Zauberkräften in Erfahrung, wo Saxif D'Aans Schloß lag. Er suchte das Mädchen und fand sie in den Gemächern, d ie Saxif D'Aan ihr zur Verfügung gestellt hatte. Er sagte ihr, er sei gekommen, um sie als seine Braut mitzunehmen, um sie vor ihrem Verfolger zu retten. Seltsamerweise widersetzte sich das Mädchen seinem Wunsch, sie sagte, sie wäre zu lange in diesem melniboneischen Harem versklavt gewesen, um sich noch an das Leben einer Prinzessin am shazarischen Hof gewöhnen zu können. Carolak setzte sich spöttisch darüber hinweg und packte sie. Er schaffte die Flucht aus dem Schloß, hatte das Mädchen bereits im Sattel seines Pferdes und wollte gerade zu seinen Männern an der Küste zurückkehren, als Saxif D'Aan sie entdeckte. Soweit ich weiß, wurde Carolak getötet oder mit einem Zauberbann belegt, das Mädchen aber wurde von Saxif D'Aan, der in fürchterlicher Eifersucht überzeugt war, daß sie die Flucht mit ihrem Liebhaber geplant hatte, zum Tode auf dem Rad des Chaos verurteilt - eine Maschine, die eine gewisse Ähnlichkeit hat mit der Darstellung auf der Münze. Langsam wurden ihr sämtliche Glieder gebrochen, und Saxif D'Aan schaute zu, tagelang, wie sie eines langsamen Todes starb.
Die Haut wurde ihr vom Leib gezogen: Saxif D'Aan ließ sich kein Detail der Bestrafung entgehen. Bald wurde klar, daß die Drogen und Zauberkräfte, die sie am Leben erhielten, keine Wirkung mehr hatten. Daraufhin ließ Saxif D'Aan sie vom Rad des Chaos nehmen und auf eine Couch legen. ›Nun‹, sagte er, ›du bist dafür bestraft worden, daß du mich verraten hast, und ich bin froh. Jetzt darfst du sterben.‹ Und er sah, daß ihre blutverkrusteten, scheußlichen Lippen sich bewegten, und bückte sich, um ihre Worte zu hören.«
»Und was waren das für Worte? Rache? Ein Fluch?« fragte Smiorgan.
»Ihre letzte Bewegung war der Versuch, ihn zu umarmen. Und sie sprach Worte, die sie ihm noch nie gesagt hatte, so sehr er auch darauf gehofft hatte. Sie sagte sie immer wieder, bis der letzte Atemzug über ihre Lippen kam: ›Ich liebe dich. Ich liebe dich. Ich liebe dich.‹ Und dann starb sie.«
Smiorgan fuhr sich über den Bart. »Bei den Göttern! Und was dann? Was hat dein Vorfahr dann getan?«
»Da wußte er, was Reue bedeutet.«
»Natürlich!«
»Für einen Melniboneer war das gar nicht selbstverständlich. Reue wird bei uns nur selten empfunden - nur wenige lernen sie kennen. Von Schuldgefühlen zerrissen, verließ Graf Saxif D'Aan Melnibone und kehrte nie zurück. Man nahm an, daß er in irgendeinem fernen Land gestorben sei, bei dem Versuch, Buße zu tun für das, was er dem einzigen Wesen angetan hatte, das er je geliebt hatte. Doch nun hat es den Anschein, als habe er das Rote Tor gesucht, vielleicht in der Annahme, daß es ein Tor zur Hölle sei.«
»Aber warum plagt er mich!« rief das Mädchen. »Ich bin nicht sie! Ich heiße Vassliss und bin die Tochter eines Kaufmanns aus Jharkor. Als unser Schiff unterging, war ich unterwegs zu meinem Onkel in Vilmir. Einige von uns überlebten in einem offenen Boot. Neue Stürme überfielen uns.
Ich wurde aus dem Boot geschleudert und war im Begriff zu ertrinken, als.« - sie erschauderte -»als seine Galeere mich auffischte. Damals war ich ihm dankbar.«
»Was geschah?« Elric streifte ihr das verfilzte Haar aus dem Gesicht und bot ihr Wein an. Sie trank dankbar.
»Er brachte mich in seinen Palast und verkündete, er würde mich heiraten, ich solle für immer seine Gattin sein und neben ihm herrschen. Aber ich hatte Angst. In ihm wütete ein großer Schmerz - und zugleich eine unbeschreibliche Grausamkeit. Ich glaubte, er würde mich verschlingen, vernichten. Kurz nach meiner Rettung stahl ich Geld und ein Boot und versuchte durch das Tor zu fliehen, von dem er mir erzählt hatte.«
»Könntest du dieses Tor finden?« wollte Elric wissen.
»Ich glaube. Ich verstehe mich ein wenig auf die Seefahrt - mein Vater hat es mir beigebracht.
Aber was soll das nützen, Herr? Er würde uns ja doch wiederfinden und zurückholen. Dabei muß er schon jetzt ganz in der Nähe sein.«
»Ich verfüge meinerseits über gewisse Zauberkräfte«, beruhigte Elric sie, »die ich notfalls gegen Herzog Saxif D'Aans Zaubereien einsetze.« Er wandte sich an Graf Smiorgan. »Läßt sich bald ein Segel setzen?«
»Ziemlich bald.«
»Dann wollen wir uns beeilen, Graf Smiorgan Kahlschädel. Vielleicht bringe ich die Kraft auf, uns durch das Rote Tor zu führen und uns von der weiteren Verstrickung in die Angelegenheiten der Toten zu bewahren.«