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Smiorgan entdeckte das Rote Tor als erster. Den großen roten Edelstein in der Hand haltend, deutete er nach vorn.
»Da! Da, Elric! Saxif D'Aan hat uns nicht getäuscht!«
Riesige unruhige Wellen umgaben sie plötzlich. Das Hauptsegel lag noch zerrissen an Deck, so daß die Mannschaft Mühe hatte, das Schiff zu steuern, doch die Chance einer Flucht aus der Welt der blauen Sonne spornte die Männer zum letzten Einsatz an: Langsam näherte sich die goldene Kampfbarke den hochaufragenden roten Säulen.
Das Gebilde stand im brausenden grauen Wasser und warf ein schimmerndes Licht über die Schaumkronen der Wellen. Es schien gar nicht wirklich zu sein, trotzdem widerstand es den unzähligen Tonnen bewegten Wassers.
»Wollen wir hoffen, daß sie weiter auseinander stehen, als es von hier den Anschein hat«, sagte Elric. »Schon bei ruhigem Wellengang wäre eine Navigation durch das Tor schwierig, doch bei dieser unruhigen See.«
»Am besten stelle ich mich ans Ruder«, sagte Graf Smiorgan, reichte Elric den Edelstein, schritt das schwankende Deck hinauf, stieg zum geschützten Ruderhaus empor und löste den verängstigten Steuermann ab.
Elric konnte nur zusehen, wie Smiorgan das riesige Schiff in die Wellen drehte, die er nach bestem Vermögen abzureiten begann: zuweilen stürzte das Schiff so heftig in ein Wellental, daß Elric das Herz bis in den Hals schlug. Auf allen Seiten drohten mächtige Klippen aus Wasser, doch schon erklomm das Schiff die nächste Woge, ehe sich das Wasser mit voller Kraft über die Decks ergießen konnte. Trotzdem war Elric sofort von Kopf bis Fuß durchnäßt und obwohl ihm der gesunde Menschenverstand riet, sich nach unten zu begeben, klammerte er sich an der Reling fest und sah zu, wie Smiorgan das Schiff mit unnatürlicher Sicherheit auf das Rote Tor zusteuerte.
Im nächsten Augenblick war das Deck von rotem Licht überflutet, und Elric war halb geblendet. Überall spritzte graues Wasser empor, ein fürchterliches Scharren war zu hören, dann ein Knacken von Rudern, die an den Säulen des Tors zerbrachen. Das Schiff erbebte und begann sich im Wind seitwärts zu drehen, doch Smiorgan zwang es wieder zurück, und plötzlich veränderten sich unmerklich die Lichtverhältnisse, obwohl das Meer so unruhig blieb wie zuvor. Instinktiv erkannte Elric, daß hinter den schweren Wolken endlich wieder eine gelbe Sonne brannte.
Doch zunächst schallte aus den Tiefen des Schiffes ein lautes Krachen und Dröhnen empor. Der Modergeruch, den Elric schon wahrgenommen hatte, wurde stärker, beinahe überwältigend.
Smiorgan, der das Ruder wieder abgegeben hatte, eilte herbei. Er war bleich wie nie zuvor. »Das Schiff zerbricht, Elric!« rief er durch den Lärm von Wind und Wellen. Er taumelte, als eine riesige Wasserwand gegen das Schiff prallte und mehrere Planken aus dem Deck riß. »Das Schiff fällt auseinander, Mann!«
»Saxif D'Aan wollte uns davor warnen!« gab Elric zurück. »So wie er sich mit Zauberkräften am Leben erhielt, bewahrte er auch das Schiff vor dem Untergang. Es war bereits alt, als er es in jene Welt segelte. Drüben hatte der Zauber, der es konservierte, eine starke Wirkung - auf dieser Ebene aber wirkt er nicht mehr. Sieh!« Er zupfte an einem Stück Reling und zerkrümelte das alte Holz zwischen den Fingern. »Wir müssen uns eine Spiere suchen, die noch in Ordnung ist.«
Im gleichen Augenblick krachte eine Rahe vom Mast herab, prallte vom Deck zurück und rollte auf die Männer zu.
Elric kroch das schräge Deck hinauf, bis er die Stange zu greifen und zu prüfen vermochte. »Das Holz ist noch fest. Nimm deinen Gürtel oder etwas anderes und binde dich daran fest!«
Der Wind heulte durch die in Auflösung begriffene Takelage, die Wogen hämmerten gegen die Flanken des Schiffes und rissen unter der Wasserlinie riesige Löcher in die Bordwand.
Die Piraten waren in Panik geraten; einige versuchten Boote zu Wasser zu lassen, die aber bereits an den Davits auseinanderfielen; andere preßten sich an die vermoderten Decks und beteten zu den Göttern, die sie noch verehrten.
Elric schnallte sich so gut es ging an der abgebrochenen Rahe fest, und Smiorgan folgte seinem Beispiel. Die nächste Woge, d ie d as Schiff traf, schwemmte sie über die Reste der Reling in das kalte, tosende Wasser jenes schrecklichen Meeres.
Elric preßte die Lippen zusammen, damit er nicht zuviel Wasser schluckte, und dachte über die Ironie der Situation nach. Nachdem er so vielen Gefahren entronnen war, schien ihm nun ein ganz normaler Tod bevorzustehen, der Tod des Ertrinkens. Nach kurzer Zeit verlor er das Bewußtsein und gab sich dem wirbelnden und doch irgendwie willkommenen Wasser des Ozeans hin.
Er erwachte strampelnd.
Hände berührten ihn. Er versuchte sie abzuwehren, doch er war zu schwach. Jemand lachte rauh und gutmütig.
Das Wasser brauste und tobte nicht mehr. Das Heulen des Windes hatte aufgehört. Statt dessen hatte eine sanftere Bewegung eingesetzt. Er hörte Wellen gegen Holz schlagen. Er befand sich an Bord eines anderen Schiffes.
Er öffnete die Augen, blinzelte in den freundlichen gelben Sonnenschein. Rotwangige vilmirische Seeleute grinsten auf ihn herab. »Du bist ein glücklicher Mensch - wenn du überhaupt ein Mensch bist!« sagte einer.
»Mein Freund?« Elric suchte nach Smiorgan.
»Ihm ist es besser ergangen als dir. Er ist unten in der Kabine bei Herzog Avan.«
»Herzog Avan?« Elric kannte den Namen, doch in seiner Verwirrung wußte er den Mann nicht sofort unterzubringen. »Ihr habt uns gerettet?«
»Ihr triebt an einer abgebrochenen Rah mit den seltsamsten Schnitzereien, die ich je gesehen habe. Ein melniboneisches Schiff, nicht wahr?«
»Ja, aber ziemlich alt.«
Man half ihm hoch. Die Männer hatten ihm die nassen Sachen ausgezogen und ihn in Wolldecken gehüllt. Schon trocknete ihm die Sonne das Haar. Er fühlte sich sehr schwach.
»Mein Schwert?« fragte er.
»Herzog Avan hat es unter Deck.«
»Sagt ihm, er soll sich davor in acht nehmen.«
»Das tut er bestimmt.«
»Hier entlang«, sagte ein anderer Mann. »Der Herzog erwartet dich.«