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Elric träumte.
Er träumte nicht nur vom Ende seiner Welt, sondern von dem Ende eines gesamten Zyklus in der Geschichte des Kosmos. Er träumte, er sei nicht nur Elric von Melnibone, sondern gleichzeitig auch andere Männer - Männer, die sich einem vagen Ziel verschrieben hatten, das sie selbst nicht erklären konnten. Weiter träumte ihm, er habe von dem Schwarzen Schiff und Tanelorn und A-gak und Gagak geträumt, während er irgendwo außerhalb der Grenzen Pikarayds an einer Küste lag; und als er erwachte, lächelte er sarkastisch und beglückwünschte sich zu seiner großartigen Phantasie. Doch die Eindrücke, die dieser Traum hinterlassen hatte, ließen sich nicht völlig abschütteln.
Diese Küste war nicht die aus dem Traum, also war wirklich etwas mit ihm geschehen - vielleicht hatten Sklavenhändler ihn eingeschläfert und später liegenlassen, als sie feststellten, daß er ihren Erwartungen nicht entsprach. Aber nein, diese Erklärung konnte nicht stimmen. Wenn er erst einmal wußte, wo er sich befand, fiel ihm bestimmt auch die Wahrheit ein.
Jedenfalls herrschte Morgendämmerung. Elric richtete sich auf und blickte in die Runde. Er lag auf einer dunklen, vom Meer bespülten Kalkfläche, die an hundert Stellen aufgeplatzt war, mit Rissen, die so tief klafften, daß die kleinen Ströme schäumenden Wassers, die sich durch die zahlreichen engen Kanäle ergossen, einen ansonsten stillen Morgen mit unangenehmen Geräuschen füllten.
Elric stand auf, wobei er sich auf dem in der Scheide steckenden Runenschwert abstützte. Seine weißen Lider schlossen sich einen Augenblick lang über den roten Augen, während er sich wieder einmal an die Ereignisse zu erinnern versuchte, die ihn hierhergeführt hatten.
Eine klare Erinnerung hatte er an seine Flucht aus Pikararayd - an seine Panik, an das eintretende Koma der Hoffnungslosigkeit, an die Träume. Da er offensichtlich weder tot noch gefangen war, ließ sich zumindest vermuten, daß seine Verfolger die Jagd endlich aufgegeben hatten, denn wäre er gefunden worden, hätten sie ihn bestimmt umgebracht.
Er öffnete die Augen, blickte sich um und registrierte den Blaustich des Lichts (zweifellos eine Verfärbung der Sonne hinter den grauen Wolken), ein Licht, das der Landschaft einen gespenstischen Anstrich verlieh und das Meer matt und metallisch schimmern ließ.
Die Kalkformationen, die sich terrassenförmig aus dem Meer erhoben und hoch über ihm aufragten, schimmerten stellenweise wie poliertes Blei. Einem Impuls folgend hielt er seine Hand ins Licht und betrachtete sie. Auf dem normalerweise glanzlosen Weiß seiner Haut lag ein leicht bläulicher Schimmer. Den Effekt fand er ganz angenehm und lächelte unschuldigstaunend, wie ein Kind.
Er hatte damit gerechnet, müde zu sein; doch plötzlich merkte er, daß er sich ungewöhnlich frisch fühlte, als habe er nach einer reichhaltigen Mahlzeit lange geschlafen. Er beschloß, diesem glückhaften (und unwahrscheinlichen) Geschenk nicht lange auf den Grund zu gehen; vielmehr wollte er die Klippen ersteigen in der Hoffnung, sich ein wenig orientieren zu können, ehe er die Richtung festlegte, in der er losmarschieren wollte.
Kalkstein konnte gefährlich sein, andererseits ließ er sich leicht erklettern, denn es fanden sich immer wieder Stellen, wo eine Abstufung in die andere überging.
Er bewältigte den Hang vorsichtig und in gleichmäßigem Tempo, er fand viele günstige Vorsprünge für seine Füße und schien auf diese Weise sehr schnell voranzukommen; trotzdem war es Mittag, als er die Spitze erreichte und sich an der Kante eines breiten Felsplateaus wiederfand, das aber bald wieder steil abfiel und den Eindruck eines sehr nahen Horizonts vermittelte. Hinter dem Plateau war nichts als Himmel. Nur karges bräunliches Gras wuchs hier, für eine menschliche Besiedlung gab es keine Anzeichen. In diesem Augenblick wurde Elric zum erstenmal bewußt, daß es hier überhaupt kein Tierleben gab. Kein einziger Meeresvogel flog durch die Luft, kein Insekt kroch durch das Gras. Statt dessen lastete eine enorme Stille über der braunen Ebene.
Elric fühlte sich noch immer bemerkenswert munter. Er beschloß diese Energie zu nutzen und zum Rand des Plateaus vorzustoßen, in der Hoffnung, von dort eine Stadt oder ein Dorf auszumachen. Er marschierte weiter, ohne den Mangel an Nahrung oder Wasser zu spüren, und sein Schritt war denkbar schnell und sicher. Aber er hatte sich in der Entfernung verschätzt, und ehe er seine Wanderung zum Rand des Plateaus auch nur annähernd beenden konnte, war die Sonne untergegangen. Der Himmel nahm auf allen Seiten eine tiefblaue Tönung an, ebenso die wenigen sichtbaren Wolken. Zum erstenmal erkannte Elric nun, daß die Sonne selbst nicht normal gefärbt war, daß sie vielmehr schwärzlichpurpurn schimmerte, und fragte sich wieder, ob er noch träume.
Der Boden begann steil anzusteigen, so daß er nur noch mit Mühe ausschreiten konnte, doch ehe das Licht völlig verblich, erreichte er einen Steilhang, der in ein breites Tal hinabführte. Bäume gab es hier nicht, dafür aber einen Fluß, der sich durch Felsbrocken und Moos und Farnkraut wand.
Nach kurzer Pause entschloß sich Elric zum Weiterwandern, obwohl es Nacht geworden war. Vielleicht konnte er noch den Fluß erreichen, wo es wenigstens etwas zu trinken gab und morgen vielleicht einen Fisch zum Frühstück.
Wieder half ihm kein Mond bei der Orientierung, und er wanderte zwei oder drei Stunden lang durch eine Dunkelheit, die beinahe total war; dabei prallte er von Zeit zu Zeit gegen große Steine. Doch schließlich wurde der Boden wieder eben, und er war sicher, den Talgrund erreicht zu haben.
Inzwischen meldete sich bei ihm ein starker Durst und ein erster Anflug von Hunger; trotzdem beschloß er bis zum Morgen zu warten, ehe er sich auf die Suche nach dem Fluß machte. Er kam um einen besonders großen Felsen, als er voller Erstaunen das Licht eines Lagerfeuers entdeckte.
Hoffentlich war dies das Feuer einer Gruppe von Kaufleuten, einer Handelskarawane auf dem Weg in ein zivilisiertes Land, eine Karawane, die ihn mitreisen ließ, vielleicht als Söldner. (Seit Verlassen Melnibones hatte er sich schon mehrmals auf diese Weise sein Brot verdient.)
Aber Elrics alte Instinkte hatten ihn nicht verlassen; vorsichtig näherte er sich dem Feuer und ließ sich nicht blicken. Unter einem überhängenden Felsen, hinter den die Flammen des Feuers einen großen Schatten warfen, beobachtete er die Gruppe aus fünfzehn oder sechzehn Männern, die dicht am Feuer saßen oder lagen und die mit Würfeln und numerierten Elfenbeinstücken spielten.
Gold, Bronze und Silber schimmerten im Schein des Feuers, während die Männer große Summen auf den Fall eines Würfels, auf den Fall eines Elfenbeinstückchens setzten.
Elric nahm an, daß die Männer ihn längst entdeckt hätten, wenn sie nicht so sehr auf das Spiel konzentriert gewesen wären, denn es handelte sich doch nicht um Kaufleute. Dem äußeren Anschein nach waren es Krieger: sie trugen zerkratzte Lederwamse und eingebeulte Metallteile, ihre Waffen lagen griffbereit. Trotzdem gehörten sie keiner Armee an - es sei denn, einer Räuberarmee -, denn sie entstammten allen möglichen Rassen und schienen seltsamerweise auch aus unterschiedlichen Perioden in der Geschichte der Jungen Königreiche zu kommen.
Es sah aus, als hätten sie die Geschichtssammlung irgendeines Gelehrten geplündert. Ein Streitaxtschwinger der späten lormyrischen Republik, die vor etwa zweihundert Jahren versunken war, lag dicht neben einem chalalitischen Bogenschützen aus einer Periode, die etwa zeitgleich mit Elrics war. In der Nähe des Chalaliten saß ein kleiner ilmioranischer Infanterist aus dem letzten Jahrhundert. Neben ihm ein Filkharier in dem barbarischen Gewand der absoluten Frühzeit seiner Nation. Tarkeshiten, Shazarier, Vilmirier - sie alle saßen in bunter Reihe am Feuer, und das einzige, gemeinsame Merkmal der Männer war ein durchtriebener, hungriger Gesichtsausdruck.
Unter anderen Umständen hätte Elric vielleicht einen weiten Bogen um das Lager gemacht, doch er war so froh, auf Menschen zu stoßen, daß er die unerklärlichen Aspekte dieser Gruppe ignorierte; dennoch gab er sich zunächst damit zufrieden, sie zu beobachten.
Einer der Männer - von weniger unangenehmer Erscheinung als die anderen - war ein massiger, kahlköpfiger Seesoldat mit schwarzem Bart. Er trug das weite Leder- und Seidengewand der Völker der Purpurnen Städte. Als dieser Mann ein großes melniboneisches Goldrad hervorzog - eine Münze, die nicht wie die meisten anderen geprägt, sondern von Künstlern gearbeitet wurde, mit einer Darstellung, die sehr alt und kompliziert war - siegte Elrics Neugier über seine Vorsicht.
In Melnibone gab es nur noch wenige Exemplare dieser Münze, und soweit Elric wußte, existierten sie außerhalb überhaupt nicht mehr; die Münzen wurden im Handel mit den Jungen Königreichen nicht verwendet. Sie galten als sehr wertvoll und wurden gesammelt, besonders vom melniboneischen Adel.
Elric nahm an, daß der Kahlköpfige die Münze nur von einem anderen melniboneischen Reisenden haben konnte - dabei wußte Elric von keinem anderen Melniboneer, der seine Neigung zum Reisen teilte. Er warf die Vorsicht über Bord und trat vor.
Wäre er nicht von dem Gedanken an das melniboneische Rad besessen gewesen, hätte er vielleicht zufrieden registriert, mit welch überstürzter Eile die Männer zu den Waffen griffen. In Sekundenschnelle war die Mehrzahl der Kämpfer aufgesprungen und hatte die Klinge erhoben.
Einen Augenblick lang war das Goldrad vergessen. Eine Hand auf den Knauf des Runenschwerts gelegt, hob Elric die andere beruhigend.
»Verzeiht die Störung, ihr Herren. Ich bin nur ein müder Soldat, der zu euch stoßen möchte. Ich erbitte Information und möchte auch etwas zu essen erwerben, wenn ihr Nahrung erübrigen könnt.«
Stehend boten die Krieger einen noch wilderen Anblick. Sie grinsten sich an, offenbar fanden sie Elrics Höflichkeit lustig, ohne davon beeindruckt zu sein.
Ein Mann mit dem gefiederten Helm eines Pan Tangischen Meereshäuptlings - mit entsprechend düsterem Gesicht - reckte den langen Hals und sagte spöttisch:
»Wir haben genug Leute in unserer Gruppe, Bleichgesicht. Und nur wenige haben etwas für die Menschen-Dämonen aus Melnibone übrig. Du mußt reich sein.«
Elric dachte an die Feindseligkeit, mit der die Melniboneer in den Jungen Königreichen behandelt wurden, besonders von den Einwohnern Pan Tangs, das die Dracheninsel um ihre Macht und Klugheit beneidete und in letzter Zeit begonnen hatte, Melnibone auf primitive Weise nachzuahmen.
Elric war auf der Hut, als er leise sagte: » Ich habe ein wenig Geld.«
»Dann nehmen wir es uns, Dämon.« Der Pan Tangier hielt Elric eine schmutzige Hand unter die Nase und knurrte: »Her damit, und verschwinde!«
Elrics Lächeln war höflich und ein wenig gequält, als hätte man ihm einen schlechten Witz erzählt.
Der Pan Tangier hielt den Witz offenbar für besser, denn er lachte herzlich und wandte sich beifallheischend an die nächststehenden Kameraden.
Lautes Gelächter hallte durch die Nacht, und nur der kahlköpfige Mann mit dem schwarzen Bart machte den Spaß nicht mit. Während die anderen vorrückten, trat er einige Schritte zurück. - Das Gesicht des Pan Tangiers war nun dicht vor Elric; sein Atem stank, und Elric sah, daß sich in seinem Bart und Haupthaar Läuse tummelten. Trotzdem beherrschte er sich und anwortete im gleichen ruhigen Ton:
»Gib mir etwas Anständiges zu essen, eine Flasche Wasser, vielleicht auch etwas Wein, wenn ihr welchen habt - dann gebe ich euch gern das Geld, das ich habe.«
Wieder brandete Gelächter auf. Elric sprach weiter:
»Aber wenn ihr mir das Geld nehmt und mir nichts dafür gebt - dann muß ich mich verteidigen.
Ich habe ein gutes Schwert.«
Der Pan Tangier versuchte Elrics ironischen Ton nachzuahmen. »Dir entgeht sicher nicht, Herr Dämon, daß wir dir zahlenmäßig überlegen sind. Sehr sogar.«
Der Albino antwortete leise: »Die Tatsache ist mir durchaus aufgefallen, aber sie stört mich nicht.« Und noch ehe das letzte Wort über seine Lippen war, hatte er das Schwert gezogen, denn die Männer stürzten sich nun auf ihn.
Der Pan Tangier starb als erster, mit durchtrennter Wirbelsäule, und Sturmbringer, der seine erste Seele genommen hatte, begann zu singen. Als nächster starb ein Chalaliter; er sprang mit erhobenem Wurfspieß direkt auf die Spitze des Runenschwerts, und Sturmbringer summte vor Vergnügen.
Doch erst als es einem filkharischen Pikenkämpfer glatt den Kopf von den Schultern geschlagen hatte, begann das Schwert zu sirren und voll zu erwachen, umspielt von schwarzem Feuer entlang der ganzen Klinge, die seltsamen Runen in glühendes Feuer gehüllt.
Als die Krieger erkannten, daß sie es hier mit Zauberei zu tun hatten, wurden sie vorsichtiger; trotzdem gab es keine Unterbrechung in ihrem Angriff, und Elric hieb und parierte, hackte und schnitt und brauchte all die frische düstere Energie, die das Schwert ihm weitergab.
Lanze, Schwert, Axt und Dolch wurden abgeblockt, Wunden wurden ausgeteilt und empfangen, aber noch waren die Toten nicht zahlreicher als die Lebenden, als Elric mit dem Rücken zum Felsbrocken stand und fast ein Dutzend scharfer Waffen ihm nach dem Leben trachtete.
In diesem Augenblick, da Elric in seinem Vertrauen, so vielen Gegnern zu trotzen, doch etwas wankend wurde, erschien der kahlköpfige Krieger, die Streitaxt in der behandschuhten Rechten, das Schwert in der Linken, und fiel über den ersten seiner Kameraden her.
»Ich danke dir, Herr!« vermochte Elric in der kurzen Kampfpause zu rufen, die diese Wende der Ereignisse auslöste. Seine Kampfmoral besserte sich augenblicklich, und er ging erneut zum Angriff über.
Der Lormyrier, der einer Finte ausgewichen war, wurde von der Hüfte aus halb durchgeschnitten; ein Filkharier, der bereits seit vierhundert Jahren tot sein mußte, stürzte, und Blut brodelte ihm aus Mund und Nase. So türmten sich die Leichen. Noch immer summte Sturmbringer sein unheimliches Schlachtlied, und noch immer gab das Runenschwert die gewonnene Energie an seinen Herrn weiter, so daß Elric mit jedem Toten die Kraft gewann, weitere Gegner umzubringen.
Die Männer, die den Kampf bis jetzt überlebt hatten, begannen ihr Bedauern über den voreiligen Angriff auszudrücken. Wo zuvor Flüche und Drohungen zu hören gewesen waren, ertönten nun jammernde Gnadenrufe, und Männer, die zunächst mit kühner Prahlerei angetreten waren, flennten nun wie Memmen. Elric aber, den der altgewohnte Kampf Schwung erfüllte, schonte keinen.
Der Mann aus den Purpurnen Städten hatte inzwischen Axt und Schwert auch ohne Zauberhilfe vorteilhaft eingesetzt und von seinen ehemaligen Kameraden drei weitere getötet; dabei genoß er seine Arbeit, als habe er sie eine Weile entbehren müssen.
»Joi! Dies ist ein lohnender Kampf!« rief der Mann mit dem schwarzen Bart.
Und plötzlich war die Schlächterei vorbei, und Elric sah, daß niemand mehr am Leben war außer ihm und seinem neuen Verbündeten, der sich schweratmend auf seine Axt stützte und wie ein Hund über seiner Jagdbeute grinste. Auf seinen kahlen Kopf setzte er eine Stahlkappe, die ihm während des Kampfes heruntergefallen war, und wischte sich mit blutigem Ärmel den Schweiß aus der Stirn.
»Je nun«, sagte er mit tiefer, ruhiger Stimme: »Auf einmal sind wir es, die vermögend sind.«
Elric stieß Sturmbringer in die Scheide; die Klinge hätte am liebsten noch weitergefochten. »Du bist auf das Gold der Männer scharf? Hast du mir deshalb geholfen?«
Der Soldat mit dem schwarzen Bart lachte. »Ich war ihnen etwas schuldig und hatte auf den richtigen Augenblick gewartet. Diese Burschen waren die Überlebenden einer Piratenmannschaft, die sämtliche Personen an Bord meines Schiffes tötete, nachdem es in seltsame Gewässer geraten war - ich wäre auch getötet worden, wenn ich nicht gesagt hätte, ich wollte mitmachen. Jetzt habe ich meine Rache. Nicht daß ich mir zu fein wäre, das Gold zu nehmen, da ohnehin ein Großteil davon mir und meinen toten Brüdern gehört. Wenn ich in die Purpurnen Städte zurückkehre, werde ich ihre Witwen und Kinder aufsuchen.«
»Wie hast du die Kerle dazu gebracht, dich nicht auch zu töten?« Elric suchte in den Überresten des Lagers nach etwas Eßbarem. Er fand ein Stück Käse und biß hinein.
»Offenbar hatten sie keinen Kapitän oder Navigator. Es waren eigentlich keine richtigen Seeleute, sondern Küstenpiraten, die ihre Raubzüge von dieser Insel aus unternahmen. Sie waren hier gestrandet und hatten sich dem Piratendasein als letztem Ausweg verschrieben, waren sie doch zu ängstlich, aufs offene Meer hinauszusegeln. Außerdem hatten sie nach dem Kampf kein Schiff mehr, da wir das ihre während des Kampfes versenken konnten. Wir segelten mit dem meinen zur Küste, hatten aber kaum noch Vorräte. Die Kerle waren nicht bereit, ohne volle Laderäume in See zu stechen, und so tat ich, als wäre mir die Küste bekannt - Gott möge mir die Seele nehmen, wenn ich sie nach dieser Sache je wiedersehe -, und bot an, die Gruppe landeinwärts zu einem Dorf zu führen, in dem sie Beute finden mochten. Sie wußten nichts von einem Dorf, glaubten mir aber, als ich sagte, daß es in einem versteckten Tal liege. Auf diese Weise verlängerte ich mein Leben, während ich auf die Gelegenheit wartete, mich an ihnen zu rächen. Eine törichte Hoffnung, ich weiß. Aber.« - er grinste - »zufällig hatte sie doch ihre Berechtigung, ja?«
Der Mann mit dem schwarzen Bart musterte Elric nervös; er wußte nicht, was der Albino antworten würde, hoffte aber auf Kameradschaft, obwohl ihm durchaus bekannt war, wie hochmütig Melniboneer waren. Elric erkannte deutlich, daß seinem neuen Bekannten solche Gedanken durch den Kopf gingen; schon viele Männer hatte er gesehen, die ähnliche Überlegungen anstellten. Er lächelte offen und schlug dem Mann auf die Schulter.
»Du hast mir ebenfalls das Leben gerettet, mein Freund. Wir können uns beide glücklich schätzen!«
Der Mann seufzte erleichtert und warf sich die Axt auf den Rücken. »Aye - glücklich sind wir, das ist das richtige Wort. Aber ob uns das Glück treu bleibt?«
»Du kennst die Insel überhaupt nicht?«
»Ebensowenig wie das Meer hier in der Gegend. Wie wir hierherkamen, weiß ich nicht. Zweifellos ein verzauberter Ozean. Hast du die Farbe der Sonne bemerkt?«
»Ja.«
»Nun.« - der Seemann bückte sich, um dem Pan Tangier ein Halsband abzunehmen -, »du müßtest über magische Sprüche und Zauberkräfte mehr wissen als ich. Wie bist du hierhergekommen, Melniboneer?«
»Ich weiß nicht. Ich floh vor Wesen, die mich verfolgten. Ich kam an eine Küste und konnte nicht weiter. Dort habe ich viel geträumt. Als ich erwachte, war ich wieder an der Küste, aber an der Küste dieser Insel.«
»Irgendwelche Geister, die dir womöglich freundlich gesonnen sind, haben dich von den Feinden fortgebracht, in Sicherheit.«
»Das ist durchaus möglich«, sagte Elric, »denn wir haben viele Freunde unter den Elementargeistern. Ich heiße Elric und habe Melnibone freiwillig verlassen. Ich reise durch die Welt, weil ich der Meinung bin, daß ich von den Menschen der Jungen Königreiche lernen kann. Ich habe keine Macht, außer dem, was du schon gesehen hast.«
Der Mann mit dem schwarzen Bart kniff abschätzend die Augen zusammen, als er mit dem Daumen auf sich selbst deutete. »Ich bin Smiorgan Kahlschädel, einst Meer-Lord der Purpurnen Städte. Ich befehligte eine Handelsflotte. Vielleicht tue ich das immer noch. Das werde ich aber erst erfahren, wenn ich zurückkehre - wenn ich jemals nach Hause zurückkehre.«
»Dann sollten wir unser Wissen und unsere Kräfte zusammentun, Smiorgan Kahlschädel, und uns vornehmen, diese Insel so schnell wie möglich zu verlassen.«
Elric kehrte zum Feuer zurück, wo Würfel und Elfenbeinstückchen, Silber- und Bronzemünzen in den Boden getreten worden waren, und fand das goldene melniboneische Rad. Er hob es hoch und legte es sich auf die ausgestreckte Hand. Das Rad bedeckte beinahe die ganze Handfläche. Früher waren diese Räder die Währung der Könige gewesen.
»Es hat dir gehört, Freund?« fragte er Smiorgan.
Smiorgan Kahlschädel, der noch immer den Pan Tangier nach Diebesgut absuchte, hob den Kopf. »Aye. Möchtest du es als deinen Teil der Beute behalten?«
Elric zuckte die Achseln. »Ich wüßte lieber, woher es kommt. Wer hat dir die Münze gegeben?«
»Sie ist nicht gestohlen! Sie stammt aus Melnibone?«
»Ja.«
»Das hatte ich vermutet.«
»Woher hast du sie?«
Smiorgan, der seine Leichenfledderei beendet hatte, richtete sich auf. Er kratzte sich an einer kleinen Wunde am Unterarm. »Mit der Münze bezahlte jemand seine Passage auf unserem Schiffehe wir uns verirrten, ehe die Räuber uns angriffen.«
»Passage? Ein Melniboneer?«
»Kann sein.« Er schien sich nicht auf weitere Spekulationen einlassen zu wollen.
»Ein Krieger?«
Smiorgan lächelte in seinen Bart. »Nein. Eine Frau hat mir das Ding gegeben.«
»Wie kam es, daß sie mitfahren wollte?«
Smiorgan begann den Rest des Geldes aufzusammeln. »Eine lange Geschichte, den meisten Handelsschiffen bestens bekannt. Wir suchten neue Märkte für unsere Waren und hatten eine ziemlich große Flotte zusammengestellt, über die ich als größter Anteilseigner das Kommando führte.« Ungerührt setzte er sich auf den massigen Körper des toten Chalaliten und begann das Geld zu zählen. »Möchtest du die Geschichte hören, oder langweile ich dich schon?«
»Ich höre sie mir gern an.«
Smiorgan griff nach hinten, zog dem Toten eine Weinflasche aus dem Gürtel und bot sie Elric an, der dankend annahm und einige Schlucke des ungewöhnlich guten Weins probierte.
Als Elric getrunken hatte, nahm Smiorgan die Flasche. »Der Wein gehörte zu unserer Ladung«, sagte er. »Wir waren stolz darauf. Ein guter Wein, nicht wahr?«
»Ausgezeichnet. Ihr verließt dann die Purpurnen Städte?«
»Aye. In östlicher Richtung, mit Kurs auf die Unbekannten Königreiche. Einige Wochen lang blieben wir auf Ostkurs; dabei sahen wir einige der ödesten Küsten, die ich je zu Gesicht bekommen habe. Schließlich war eine Woche lang überhaupt kein Land mehr auszumachen. In dieser Woche erreichten wir ein Gewässer, das wir die Brausenden Felsen nannten - ähnlich wie die Schlangenzähne vor der Küste von Shazar, doch viel ausgedehnter und auch größer. Riesige vulkanische Klippen, die ringsum aus dem Meer aufragten. Überall wogte und brodelte und brauste das Wasser mit einer Wildheit, wie ich sie selten erlebt habe. Kurz gesagt, die Flotte wurde auseinandergetrieben, und mindestens vier Schiffe zerschellten auf den Felsen. Endlich entkamen wir diesem gefährlichen Gebiet - allein. Eine Zeitlang suchten wir nach unseren Schwesterschiffen und beschlossen schließlich noch eine Woche weiterzufahren, ehe wir die Rückfahrt antraten - wir hatten keine Lust, wieder zwischen die Brausenden Felsen zu geraten. Als unsere Vorräte zur Neige gingen, sichteten wir endlich Land - grasbewachsene Klippen, freundliche Strände und, im Binnenland, Anzeichen von landwirtschaftlicher Bebauung. Endlich hatten wir die Zivilisation wiedergefunden. Wir fuhren in einen kleinen Fischerhafen ein und überzeugten die Einheimischen - die keine Sprache der Jungen Königreiche kannten -, daß wir friedliche Absichten hatten. Und da meldete sich die Frau bei uns.«
»Die melniboneische Frau?«
»Wenn sie das wirklich war. Eine gutaussehende Frau, das muß ich sagen. Wir hatten kaum noch Vorräte, das habe ich bereits erwähnt, und auch kein Geld mehr, neue zu kaufen, denn die Fischer der Gegend hatten wenig Interesse an den Gütern, die wir zum Tausch anbieten konnten. Nachdem wir unsere ursprüngliche Absicht aufgegeben hatten, waren wir es zufrieden, wieder in Richtung Westen auszulaufen.«
»Und die Frau?«
»Sie wollte bis zu den Jungen Königreichen mitfahren und war damit einverstanden, uns bis nach Menii zu begleiten, unserem Heimathafen. Die Passage bezahlte sie mit zwei Goldrädern. Für eine der Münzen kauften wir in der Stadt Vorräte ein - ich glaube, sie hieß Graghin -, und nachdem wir das Schiff repariert hatten, brachen wir erneut auf.«
»Aber ihr erreichtet die Purpurnen Städte nicht?«
»Neue Unwetter fielen über uns her - seltsame Unwetter. Unsere Instrumente und Magnetsteine waren nutzlos. Wir verirrten uns noch gründlicher als vorher. Einige meiner Leute meinten, wir hätten unsere Heimatwelt völlig verlassen. Nicht wenige gaben der Frau die Schuld mit der Behauptung, sie wäre eine Zauberin, die eigentlich gar nicht nach Menii wollte. Ich aber glaubte ihr. Die Nacht brach herein und schien ewig zu dauern, doch schließlich segelten wir in eine ruhige Morgendämmerung hinein, unter einer blauen Sonne. Meine Männer waren der Panik nahe - es bedurfte schon eines gehörigen Schocks, um sie in Panik zu versetzen. Plötzlich sichteten wir die Insel. Wir hielten darauf zu, und die Piraten griffen uns mit einem Schiff an, das in die ferne Geschichte gehörte - es hätte längst nicht mehr schwimmen dürfen, sondern gehörte eigentlich auf den Meeresboden. In einem Tempel in Tarkesh habe ich Wandbilder solcher Fahrzeuge gesehen. Das Schiff rammte uns. Beim Rammen brach seine halbe Backbordseite ein, und es sank, noch während die Piraten uns stürmten. Es waren verzweifelt kämpfende Männer, Elric - halb verhungert und blutrünstig. Obwohl wir nach der langen Reise erschöpft waren, wehrten wir uns nach Kräften. Die Frau verschwand während des Kampfes, vielleicht beging sie Selbstmord, als sie sah, von welchem Schlag die Sieger waren. Nach langem Kampf waren nur ich und ein zweiter Mann übrig, der aber nach kurzer Zeit starb. Da besann ich mich auf meinen Verstand und beschloß meine Rache aufzuschieben.«
»Die Frau hatte keinen Namen?«
»Sie wollte uns keinen nennen. Ich habe mir Gedanken darüber gemacht und meine nun auch, daß wir von ihr vielleicht mißbraucht wurden. Vielleicht wollte sie gar nicht nach Menii und in die Jungen Königreiche. Vielleicht war sie auf der Suche nach dieser Welt und führte uns mit Zauberkraft hierher.«
»Diese Welt? Du hältst sie für anders als die unsere?«
»Schon allein wegen der seltsamen Farbe der Sonne. Bist du nicht derselben Meinung? Du mit deinem melniboneischen Kenntnissen über solche Dinge mußt doch davon überzeugt sein.«
»Ich habe allenfalls von solchen Dingen geträumt«, räumte Elric ein, wollte aber nicht mehr sagen.
»Die meisten Piraten dachten so wie ich - sie entstammten allen möglichen Zeitaltern der Jungen Königreiche, soviel konnte ich feststellen. Einige kamen aus der Frühzeit der Ära, andere aus unserer Epoche - andere sogar aus der Zukunft. Bei den meisten handelte es sich um Abenteurer, die irgendwann einmal in ihrem Leben ein sagenhaftes Land von großem Reichtum gesucht hatten, das auf der anderen Seite eines alten Tors liegen sollte, eines Tors, das mitten im Ozean aufragte; statt dessen sahen sie sich hier gefangen, unfähig, durch das geheimnisvolle Tor zurückzukehren. Andere waren in Seeschlachten verwickelt und wähnten sich ertrunken und erwachten dann an der Küste der Insel. Viele, so nehme ich an, waren früher durchaus ehrlich, aber da die Insel den Männern große Entbehrungen aufnötigte, wurden sie mit der Zeit zu Wölfen, die sich gegenseitig beraubten und töteten, wie auch jedes Schiff, welches das Pech hatte, sich durch das seltsame Tor in ihre Gegend zu verirren.«
Elric erinnerte sich an einen Traumfetzen. »Hieß es etwa das ›Rote Tor‹?«
»Aye, mehrere nannten es so.«
»Und doch ist die Theorie wenig wahrscheinlich, wenn du mir meine Skepsis verzeihst«, sagte Elric. »Als Mann, der durch das Schattentor getreten ist und Ameeron besucht hat.«
»Du weißt von anderen Welten?«
»Von dieser hatte ich noch nie gehört. Ich bin in solchen Dingen erfahren. Deshalb bezweifle ich den Grundgedanken. Trotzdem gab es da einen Traum.«
»Einen Traum?«
»Ach, nichts. Ich bin solche Träume gewöhnt und messe ihnen keine Bedeutung bei.«
»Diese Theorie kann doch einem Melniboneer nicht überraschend vorkommen, Elric!« Smiorgan grinste wieder. »Eigentlich müßte ich skeptisch sein und nicht du.«
Und Elric erwiderte, halb zu sich selbst sprechend:
»Vielleicht habe ich mehr Angst vor den Schluß-folgerungen, die sich daraus ergeben.« Er hob den Kopf und begann mit einem abgebrochenen Speerschaft im Feuer herumzustochern. »Es gab da alte Zauberer in Melnibone, die die Ansicht vertraten, daß neben unserer Welt eine Unzahl anderer Welten existiert, gleichberechtigt nebeneinander. In der letzten Zeit haben mich meine Träume in dieselbe Richtung gewiesen.« Er zwang ein Lächeln auf seine Lippen. »Aber ich kann es mir nicht leisten, an solche Dinge zu glauben. Aus diesem Grunde wies ich das alles weit von mir.«
»Warte auf den Morgen«, sagte Smiorgan Kahlschädel. »Die Farbe der Sonne wird die Theorie bestätigen.«
»Vielleicht beweist sie auch nur, daß wir beide träumen«, sagte Elric. Der Geruch von Tod begann sie einzuhüllen. Er schob die Leichen fort, die dem Feuer am nächsten waren, und legte sich schlafen.
Smiorgan Kahlschädel stimmte ein lautes, aber melodisches Lied in seinem Heimatdialekt an, dem Elric kaum zu folgen vermochte.
»Singst du von deinem Sieg über deine Feinde?« fragte der Albino.
Halb lächelnd unterbrach Smiorgan seinen Gesang. »Nein, Herr Elric. Ich singe, um die Schatten im Zaum zu halten. Immerhin müssen sich hier die Seelen all dieser toten Männer in der Dunkelheit herumtreiben; ihr Tod ist noch nicht lange her.«
»Sei unbesorgt«, sagte Elric. »Ihre Seelen sind bereits verschlungen.«
Trotzdem sang Smiorgan weiter, und seine Stimme klang lauter, das Lied inbrünstiger denn je zuvor.
Kurz vor dem Einschlafen glaubte Elric ein Pferd wiehern zu hören und nahm sich vor, Smiorgan zu fragen, ob die Piraten etwa beritten gewesen waren. Er schlief aber ein, ehe er die Frage loswerden konnte.