Dreizehntes Kapitel
Es war nicht Theodors private Lust, die sich da
ergoß, während sein interessierter Blick das gerötete, von einem
schwarzen Haarkranz umrahmte Gesicht unter ihm abtastete, über die
vergitterten Fenster glitt und den fadenscheinigen, verblaßten
Perser wahrnahm, es war der Samen des Königs, der in diesem
Augenblick in der geräumigen Schlafzelle des Bischofs den Höhe- und
Schlußpunkt einer Art sexueller Amtshandlung setzte, der heiße
Siegellack des Theodorus Rex im Schoß des unbekannten
Mädchens.
Das war seit der Krönung nicht aus Cervioni
verschwunden, stand in jeder Menschenmenge, besuchte jede Audienz,
lehnte an der nächsten Mauer, sobald Theodor auf die Straße trat,
ja, hatte es so sehr darauf angelegt, dem König beizuwohnen, daß
Theodor sich viel zu geschmeichelt fühlte, um abzulehnen, trotz des
finsteren Blicks Paolis, trotz der alleruntertänigsten Bedenken
Giafferis – wir kennen die Frau doch überhaupt nicht, Don Teodoro,
bitte, das ist womöglich eine Hure aus Bastia, jedenfalls ist sie
nicht von hier – trotz des schmallippigen Orticoni, der, wie
Theodor genau spürte, hinter ihm das Kreuz schlug.
Aber wenn er schon nicht nach Florenz reisen
konnte, um darüber zu sprechen, daß er König sei, wenn es gänzlich
undenkbar war, dem Ereignis durch seine Präsenz in Europas
Hauptstädten Wirklichkeit zu verleihen, dann wollte er zumindest
nicht darauf verzichten, seine Erhöhung in der Intimität
ekstatischer Augenaufschläge beglaubigen zu lassen.
Denn die kleine Angelina, die vor Aufregung
schwitzte, als die Tür des Schlafgemachs sich hinter ihnen schloß,
war neben einer schwarzgekleideten triefäugigen Alten, die nach der
Krönung vor ihm auf die Knie gesunken war, seine staubigen Stiefel
geküßt und gekrächzt hatte, sie habe ihre zwei Söhne im
Befreiungskampf verloren und jetzt habe die Heilige Jungfrau ihn
geschickt, den König, den Erlöser, das Land zu befreien – eine
peinliche Szene, fand er im nachhinein – der einzige Mensch, der
ihn und den König so sehr als ein und dasselbe Wesen sah, daß
Theodor selbst erschüttert und lachend, kopfschüttelnd und
triumphierend sagen konnte: Ja, ich bin es. Ich muß es wohl
sein.
Dieser kopfschüttelnde Triumph, dieses erschütterte
Gelächter über das Königspalimpsest auf seiner Haut veränderte
Theodors Liebespraxis grundlegend. Wo blieb der Moment des Taumels,
die Schwäche in den Gliedern, die Erblindung? Wohin hatte sich sein
Gefallen an den Umwegen und Tangenten, den Ellipsen und
Umlaufbahnen der Erotik verflüchtigt? Was war aus seiner Vorliebe
für die ins Grüne führenden Saumpfade gegenüber den Königswegen der
offiziellen Pilgerstraßen geworden, die immer in direkter Linie zu
den Grotten, Kathedralen und Tempeln führten, wo der Obolus in den
Opferstock gesteckt werden mußte?
Es herrschte Tageslicht, von der doppelten
Unterwerfung der bewundernden Augen und des trophäengierigen
Schoßes provozierte Lust, mit der Majestätsverliebten zu verfahren
wie mit einem Untertanen. Beiläufig ehrte Theodor das Mädchen mit
seinem Szepter, indem er es beglückte, oder beglückte es, indem er
es ehrte, und Angelina wog, wie der König fern von Erblindung und
Taumel konstatierte, die Reichsäpfel in kennersicheren
Kaufmannshänden.
Es war eine männliche Lust, wie er sie vor Jahren
kopfschüttelnd und befremdet an Jakob Sternhart beobachtet
hatte, eine Erotik bar jeglicher Selbstironie, welche ihren
Ursprung in einem religiösen Staunen, einer vertraulichbangen
Ehrfurcht vor dem Mysterium hat, dem man entgegentreten sollte wie
der Kapitän eines kleinen Schiffes dem Sturm: seine Seele Gott
empfehlend und ein wenig, aber nicht zu sehr darauf vertrauend, ein
guter Schwimmer zu sein.
Weniger wie ein König, mehr wie ein Zauberlehrling,
der zum ersten Mal den Stab des Meisters schwingt, hatte er
dekretiert: Ich möchte nicht, daß du in diesem Raum Kleider trägst,
und seither zog Angelina sich wortlos aus, sobald sie einen Fuß
über die Schwelle gesetzt hatte, und floh in gespieltem Entsetzen
vor ihm rund um das Bett, hielt sich an den vier gedrechselten
Pfosten fest und quietschte atemlos, den Blick starr auf seinen
nackten Leib gerichtet: Du Satyr!
Selbstverständlich duzte sie ihn sonst nicht, aber
in solchen Momenten war er nicht kleinlich, dachte vielmehr an
antike Vasen- und Wandbilder der Nymphenjagd, und der Gedanke, sich
in diese Tradition viriler Lebendigkeit einzureihen, verschaffte
ihm ebensoviel Genugtuung wie das tatsächliche Geschehen.
Mit einer Willfährigkeit, zu der ohne Einbußen am
Gefühl, sein eigener Herr zu sein, nur ein Herrscher fähig ist,
brachte er dem blinden, ewig hungrigen Gott mehrmals am Tag ein
lebendiges Opfer, das angenommen, verspeist und dann schließlich
doch wieder mürrisch ausgespien wurde.
Die Liebe mit dem kleinen, stämmigen Mädchen, der
Anblick ihres ausladenden, an eine römische Bogenbrücke erinnernden
Beckens, ihr dickes schwarzes Haar und der dunkel schimmernde Flaum
auf ihrer Oberlippe und auf dem Rücken, dort wo die beiden weißen
Vollmonde der Hinterbacken aufgingen – all das ermüdete und
langweilte ihn auch nach mehreren Wochen noch nicht, vielleicht
weil er nichts von dem Menschen Angelina zu wissen begehrte,
der ihn seinerseits weder mit Fragen, noch mit Lebensgeschichte
oder anderen Versuchen behelligte, Konversation zu machen.
Er saß auf dem Bischofsbett in Monsignor De Maris
requiriertem und zur Residenz umfunktionierten Palast, ließ den
Blick über die Landschaft von Angelinas nacktem Körper flanieren
und konzentrierte sich dabei, mit der Muße des Spaziergängers, der
ein angenehmes, wohlbekanntes Stadtviertel durchquert, auf anderes,
nämlich auf die ideale Form, die er seiner Existenz geben
wollte.
Es war, Theodor konnte es nicht verhehlen,
Angelinas Schoß, von dem seine Überlegungen ausgingen. Natürlich
war die Korsin niemand, der ihm Jane ersetzt hätte. Wenn er nun
aber, da er seine Schuld durch seine Königswürde zwar nicht
getilgt, aber doch gerechtfertigt wußte, an die Intelligenz und
Großmut seiner Frau appellierte und sie bat, hierherzukommen und
als seine Königin mit ihm zu leben? Selbstverständlich unter
Würdigung ihrer Intimität, indem sie sozusagen als seine königliche
Schwester neben ihm existierte? Es mußte doch einzurichten sein,
mit Angelina in angemessener Diskretion seine niederen Triebe
auszuleben und zugleich zum Reden und Denken, Repräsentieren und
Regieren, Musik hören und Reisen die Königin seines Geistes an
seiner Seite zu haben. Und dazu noch einen Sohn, auch wenn dieses
dritte Glied seiner Idealfamilie nicht auf dem klassischen Wege zu
ihm käme, sondern vielmehr aus sehr traurigen Gründen, über die
nachzusinnen Theodor sich strengstens untersagte.
Er hatte einen Brief erhalten, ein in formschöner
Schrift mit der Feder verfaßtes, ihn dreifach als hochgeehrten
Herrn, Majestät und geliebten Onkel und Vater ansprechendes
Schreiben, in dem der Vicomte de Trévoux, sein Neffe Friedrich, ihm
den Tod seiner Mutter Amélie mitteilte, sowie seinen Wunsch, seine
Zukunft mit und bei ihm, seinem Onkel, verbringen zu dürfen.
Hätte Theodor auch nur eine ruhige Minute gehabt,
sich dieser Neuigkeit zu öffnen, er wäre zusammengebrochen und
schwermütig oder blöde geworden. Das einzige, was er an sich
heranließ, war die Ankündigung von Friedrichs baldigem Kommen. Wie
alt war der Knabe eigentlich? Sechzehn, siebzehn, achtzehn? So alt
wie er selbst, als er seine gesicherte, langweilige Zukunft als
Leutnant im Régiment d’Alsace drangegeben hatte.
Jane, Friedrich und Angelina, stellte Theodor sich
vor, der König, seine Ober- und Unterfrau und sein Sohn, aus
verschiedenen Zeiten und Leben herangezogen, die ihr Land glücklich
regierten.
Das waren die Bilder in seinem Kopf, während seine
Lippen an geeigneten Verstecken in Angelinas Leib deponierte, süße
getrocknete Feigen und Loukoums ergriffen und gegen einen leichten
Körperwiderstand in den Mund zogen. Wie schmecken sie, Majestät?
fragte das Mädchen neugierig, und Theodor antwortete: Wie
Backpflaumen im Speckmantel, mein Kind.
Ja, dieses Haben-Wollen und Haben-Müssen
hygienischköniglicher Orgasmen war eine Verarmung der Phantasie und
eine Verdummung, aber zugleich auch das Zeichen, daß die Erhebung
und Erhöhung Theodor verwandelt hatte.
Und nicht nur seine Liebespraxis, die rasch,
männlich, zielstrebig geworden war; der König in ihm, oder besser:
um ihn, den Angelinas faszinierte Hingabe ihm bewußt gemacht hatte,
eignete sich auch die übrigen Provinzen seiner Seele an.
Staunend nahm Theodor wahr, daß seine Fähigkeiten
ihm zwar erlaubt haben mochten, die Königswürde zu gewinnen, daß es
aber in noch viel größerem Maße die Königswürde war, die ihn
befähigte, wie ein König zu denken und zu handeln. Er hatte erst
König von Korsika werden, erst daran glauben müssen, es tatsächlich
zu sein, um
königliche Kraft und Tatendrang in sich wachsen zu spüren.
Es klopfte dringlich an der Tür, und Theodor
erinnerte sich, daß es der Morgen des siebenundzwanzigsten April
war und sein Gardeoffizier ihn zu einer von ihm selbst angeordneten
Exekution rief.
Er ließ sich gerade ankleiden, als Giafferi und
Orticoni ihre Anwesenheit im Vorzimmer ausrichten ließen, was
bedeutete, daß Angelina entfernt werden mußte, denn sie war den
beiden korsischen Patriziern ein Dorn im Auge. Auch die Exekution
war ihnen ungemütlich, alle hatten sie betreten geschwiegen oder
gedruckst, Einspruch erhoben hatte jedoch keiner.
Was den zum Tode Verurteilten zur Last gelegt
wurde, war nichts weiter als eine Familienvendetta, wie sie zu
beiden Seiten der Berge tagtäglich vorkam. Mit bösartiger Freude
las Theodor in den Blicken seiner Diätsräte den Widerstreit
zwischen seinen höheren Argumenten – die Blutrache, die das Land
entvölkerte als das ursprüngliche Problem der korsischen
Uneinigkeit – und ihrem unheimlichen Gefühl, daß es, stünden die
Dinge so oder so, jeden von ihnen hätte treffen können.
Theodor hatte es sich nicht nehmen lassen, diese
erste wirkliche Amtshandlung als einen Schlag mitten ins Wespennest
ihres schlechten Gewissens und ihrer Widersprüche zu führen, es war
auch eine Art Revanche für die Behandlung, die sie ihrem König
während der consulta hatten angedeihen lassen.
Natürlich, Don Teodoro, werden die Dörfer der
Verurteilten sich auf die Seite Genuas schlagen, gab Paoli zu
bedenken.
Und wenn schon, antwortete Theodor, es könne
schwerlich einen Unterschied machen, ob die Bewohner windschiefer
Ziegenställe im Gebirge von der einen oder der anderen Seite Tribut
verlangten, um durchziehenden Truppen den richtigen Weg durch die
Macchia zu weisen.
Das Gesetz, das Theodor erlassen hatte, die
Todesstrafe für Clanmorde, deren erstes Exempel hier statuiert
wurde, bewies ihnen, daß er es ernst meinte, und dieser Morgen und
der Gang durch das Spalier Schaulustiger, immer leiser, je näher er
den Galgen kam, deren Querbalken an die tiefhängenden Wolken zu
stoßen schienen, machte Theodor die Realität seiner Macht und die
tatsächlichen Konsequenzen seiner Gedanken bewußt.
Er sah, wie die beiden stoppelbärtigen Männer mit
den zerrissenen schmutzigweißen Hemden, die Hände auf den Rücken
gefesselt, die Füße eng aneinandergebunden, auf den Galgen
zugestoßen wurden und widerstrebend vorwärtsstolperten. Er roch,
daß der eine, der vor dem Podest auf die Knie sank, die Kontrolle
über sich verlor und atmete zugleich die frische Waldfeuchtigkeit
ein. Er hörte, wie das Urteil verlesen wurde, hörte den
Trommelwirbel, sah das Weiße in den Augen heimlich auf ihn
gerichteter Blicke, hörte das Klagegeschrei einer Frau.
Die auf das Getrommel folgende Stille hallte nach,
der zweite Mann war von stoischer Ruhe, die beiden wurden aufs
Podest geführt, die Schlingen schlossen sich um die Hälse, die
Hosen des Nervenschwachen schlotterten, so sehr zitterten seine
Beine, dann bewegte der Henker seinen Hebel, die Falltüre klappte
knallend nach unten, der Aufschrei aus der Menge übertönte nicht
das scharfe Knacken eines morschen Astes, mit dem das Genick des
Ängstlichen brach. Er verdrehte die Augen, er war sofort erlöst.
Der andere zappelte und krächzte und wand sich um die eigene Achse
und kämpfte gegen das Sterben. Sein Gesicht lief rot an, die
Halsmuskeln schwollen, die Augen traten aus den Höhlen, die
gefesselten Beine wuchteten sich haltsuchend durch die Luft.
Theodor sah hin und wartete auf den Tod des Mannes. Die Patrizier
hinter ihm blickten zu Boden, die Soldaten vor ihm stießen die
Knäufe ihrer Speere in die murrende Menge aus dem Dorf der
Verurteilten. Theodor
versuchte sich der geraden Linie bewußt zu werden, die von seinen
Überlegungen, wie die Selbstverstümmelung des korsischen Volks zu
unterbinden sei, über das Gesetz zu diesem tapferen Sterbenden hier
führte.
Es war eines, in Wut oder im Affekt, wie es ihm vor
Jahren in einer träumerischen Nacht in Venedig geschehen war, einen
Menschen zu töten, es war etwas ganz anderes, an der Spitze einer
Befehlskette zu stehen, an deren Ende ein Mann exekutiert wurde.
Nicht, daß er irgend etwas bereut hätte.
Jetzt wurde der Gehängte schwächer und sperrte den
Mund auf wie ein junger Vogel im Nest, der auf Futter wartet.
Theodor ertappte sich dabei, auf irgendeine unvorhergesehene
Unterbrechung des Schauspiels zu warten, aber dann schien der Mann
etwas Großes, Schwarzes hervorzuwürgen, und Theodor kniff die Augen
zusammen, um schärfer zu sehen. Es war seine Zunge, die der Tod
ihnen allen in einer obszönen Grimasse herausstreckte. Dann zuckte
der Rumpf, die Glieder baumelten und hingen schlaff.
Die Leichen wurden eingeholt, auf einen Karren
geworfen und den Angehörigen zum Heimtransport überlassen. Die
königliche Delegation kehrte in den Bischofspalast zurück.
Es fiel Theodor ebenso schwer, der Exekution volle
Wirklichkeit abzugewinnen und sich ausschließlich auf sie zu
konzentrieren, wie es ihm zuvor mit seinen Familienplänen gegangen
war. Schoben sich vor jene die Forderungen des Tages, so spielte in
die Amtshandlung ständig die Erinnerung an die Liebe mit Angelina
und in diese wiederum Gedanken an Jakob Sternhart. Denn wenn
Theodor angesichts der Schwertschluckerei, die er mit dem
korsischen Mädchen betrieb, an seinen alten Freund erinnert wurde,
dann deswegen, weil dieser sich nach zwanzig Jahren plötzlich
wieder in Erinnerung gebracht hatte.
Ganz oben auf dem Stapel der täglich eintreffenden
Bittbriefe hatte sich ein Schreiben des vormaligen preußischen
Professors gefunden, dessen verschnörkelte Schrift und kongenial
verschrobene, sozusagen auf dem Bauch daherrobbende und sich
zugleich verneigende Anrede einer Flut von Selbstmitleid und
unverschuldetem Unglück das Wehr öffneten.
Wie Theodor gerunzelter Stirn und zuckender
Mundwinkel erfuhr, hatte Sternhart aufgrund von Kollegenintrigen
zunächst seine Professur verloren, dann aufgrund von Intrigen der
Familie seiner Frau sein Haus und schließlich auch noch seine
Gesundheit. Was vermutlich, ergänzte Theodor das an diesem Punkt
einsilbige Lamento, auf Intrigen von Freudenmädchen und
Geißeltierchen zurückzuführen war.
Um alter Zeiten willen erbat der Unglückliche ein
wenig finanzielle Hilfe, eine Empfehlung für eines der Fürstentümer
des Reiches oder womöglich einen Posten auf der Mittelmeerinsel,
von deren heroischem Befreiungskampf man jetzt überall höre und
lese.
Theodor ließ sich Papier und Feder kommen und
schrieb an seinem Stehpult höchstpersönlich, man habe die
Erinnerung an die aufrichtige, von Jugend an erwiesene Freundschaft
in seinem Herzen bewahrt, der verehrte Herr Professor sei
keinesfalls vergessen und es stehe ihm frei, auf seinen, des Königs
Namen soviel Rechnung als auf sich selbst zu machen. Dieser Name
werde den meisten einschlägigen Etablissements nicht unbekannt
sein.
Während der Streusand die Tinte trocknete, blickte
Theodor auf seinen Brief, seine Lippen waren zu einem schmalen
Strich eingesogen, und in seinen Augenwinkeln bildeten die
Lachfältchen einen Strahlenkranz.
Aber mit dem Lesen und Beantworten von Briefen war
es nicht getan. In den ersten Wochen seiner Amtszeit erließ Theodor
eine Generalamnestie, von der nur die Verräter an
der korsischen Sache und die Mörder aus Blutrache ausgenommen
waren. Er stellte aus den Vierundzwanzig seiner Diät eine Regierung
zusammen, er ordnete die Ernennung von Richtern und Anwälten an,
versuchte, die ersten Ansätze zu einer Steuer- und Finanzverwaltung
auf den Weg zu bringen und befahl die Aushebung einer regulären
korsischen Miliz, an deren Spitze er die noch in Genuas Hand
befindlichen Häfen und Festungen befreien wollte.
Damit nicht genug, lange nicht genug, denn bereits
jetzt begannen einige der korsischen Patrizier nach neuen
Lieferungen an Waffen und Munition, an Saatgut und Geräten zu
verlangen. Was um Himmels willen war in wenigen Wochen aus der
ersten Schiffsladung geworden? Achselzucken, Lamentationen, in
Ellipsen endende Erklärungsversuche. Theodor verdächtigte sie zu
horten, um weiterverkaufen zu können, womöglich sogar an die
schlecht ausgerüsteten und ewig hungrigen Genueser Truppen in den
Forts, die zum Teil aus korsischen Freiwilligen bestanden, ganz
bestimmt jedoch, um massiv Vorräte für ihre Clanstreitigkeiten
zurückzulegen.
Der König mußte mit seinen Geschäftspartnern
korrespondieren, deren weitere Unterstützung von der Vertreibung
der derzeitigen Herrscher abhing, die doch nur mittels zusätzlicher
Waffen und Munition möglich sein würde, setzte der Schwund sich im
selben Maße fort, in dem er begonnen hatte. Auch den Gedanken an
die Patronage eines mächtigen Staates hatte Theodor noch nicht
verworfen, wobei Spaniens Unterstützung das Reich aufbrächte und
Frankreichs Hilfe oder Gegnerschaft am Geschick der genuesischen
Diplomatie hing, so daß Theodor am ehesten auf England hoffte, da
er nicht das Risiko eingehen wollte, etwa mit der Pforte zu
paktieren. Es war jedoch völlig ausgeschlossen, in London etwas zu
erreichen, ohne selbst dort vorzusprechen, und an ein Verlassen der
Insel-Zitadelle war momentan nicht zu denken.
Was ihm darüber hinaus fehlte, war Unterstützung
von Spezialisten, denn in die Fähigkeiten seiner korsischen Räte
setzte er kein übermäßiges Vertrauen, was er den empfindlichen
Männern allerdings keineswegs zeigen durfte, die auf
Nebenkriegsschauplätzen beschäftigt werden mußten, um ihnen das
Gefühl zu vermitteln, der König zähle auf sie.
Er verfaßte ratsuchende Briefe an den Baron de
Secondat in Bordeaux, der sich bereits für Costas
Verfassungsentwurf interessiert hatte, um zu erfahren, wie
Gewaltenteilung und Rechtssicherheit ins Werk gesetzt werden
könnten. Vor allem entwarf er den kühnen Plan, für die
Finanzverwaltung des Königreichs das einstige Genie der Rue
Quincampoix, den schottischen Herrn Law persönlich, als Minister zu
gewinnen. Alle seine Schreiben aber kehrten mit dem Vermerk, der
Adressat sei unbekannt oder lebe nicht mehr am angegebenen Ort,
nach Korsika zurück, und nach einer mehrmonatigen postalischen
Odyssee erfuhr Theodor aus Venedig von seinem alten Freund
Respighi, der langvergessene Finanzjongleur sei bereits vor sieben
Jahren elendiglich und mittellos in der Lagunenstadt
gestorben.
Als er diese Nachricht erhielt, Anfang September in
Sartè, wäre wieder ein Moment dagewesen, wie Theodor sie liebte.
Ein Brief war es hier, es hätte auch der Duft einer Blume, der
Glockenklang einer Kirche oder eine Melodie sein können, die ein
Seil über den Abgrund der Zeit spannten: Law gestorben in Venedig,
das reichte von den Pariser Erinnerungen seiner Jugend bis hin zu
seinen eigenen, traumartigen venezianischen Tagen, aus deren
Hintergrund sich in besonderer Beleuchtung jenes Gemälde schälte,
das seine Sehnsucht vor so große Rätsel gestellt hatte. Theodor sah
es genau vor sich, das sein Kind säugende Mädchen, der innehaltende
Hirte oder Wandersmann, das dräuende Gewitter... – ja, es hätte ein
Moment sein können, zu sinnen über die Zeit und die merkwürdigen
Wege des Lebens, aber
es war keine Zeit dafür, denn mitten aus dem traumatischen Feldzug
auf Bastia hatte Theodor die Diät nach Sartè berufen, um den
Erlösungsorden zu stiften, und er hatte ebensowenig Muße für
Erinnerungen und Träume wie jetzt in den letzten Apriltagen in
Cervioni.
Seine paradoxe Erfahrung war, daß aus der Überfülle
der Tage kein Leben erwuchs, sondern Leere. In Berthelsdorf zum
Beispiel hatte er gelebt, es bereitete ihm nicht die geringste
Mühe, lange in der Kontemplation der Gestirne verbrachte Abende,
Gespräche, Mußestunden, die seltenen Reisen in lebendigsten Farben,
Tönen, Gerüchen heraufzubeschwören. Dagegen konnte er sich an
keinen einzigen Tag erinnern, seit er auf Korsika war, und hätte
nicht zu sagen gewußt, was mit den gestohlenen Stunden eigentlich
entwendet worden war. Auch wenn er später an diese Monate
zurückdachte, blieben viele weiße Flecke, er wußte nur gerade zu
sagen, er sei König gewesen, und mußte fast jede zusätzliche
Einzelheit erfinden.
Im Feldlager bei Isula Rossa im Juni erwachte
Theodor eines Morgens vor Tagesanbruch verkühlt und mit
schmerzenden Knochen und rief aus: Welche Anstrengungen!
Bevor er noch an den bevorstehenden Tag denken
konnte, blieb er an seinen eigenen Worten hängen: Tatsächlich, er
strengte sich an, seit er König war, er mußte sich jeden Tag
anstrengen.
Banal, wie sie sich anzuhören schien, war diese
Feststellung doch eine wahre Offenbarung. Wann hatte er sich je im
Leben angestrengt? Ich bin fähig dazu! sagte er verblüfft und
blickte sich um, ob nicht jemand im Zelt sei, dem er seine
Entdeckung mitteilen und der ihn dafür beglückwünschen und
bewundern würde.
Wie ein Wolkenschatten glitt der Verdacht über
seine Gedanken, dieser Zustand sei seinem Wesen vielleicht nicht
gemäß. Denn was war Anstrengung anderes als die mutwillige und
ungeduldige Überschreitung einer Grenzlinie zwischen
dem eigenen Bereich und dem der Götter? Man schritt voran, aber
nicht zu weit, und baute darauf, daß sie einem in gleichem Maße
entgegenkamen. Den ganzen Weg mit offenen Augen allein zurücklegen
und gar nichts mehr dem Zufall überlassen zu wollen, war womöglich
für einen Menschen wie ihn strafwürdige Hybris.
Theodor trat aus seinem Zelt, vor dem zwei Soldaten
hockten und Wache hielten. Der böige Wind blies ihm scharf ins
Gesicht, die Höhenlinie der Hügelkette im Osten sah gegen das
rosige Morgenlicht aus wie mit schwarzer Spitze geklöppelt. Es
würde lange dauern, bis die Sonne über die Berge käme, in deren
Schatten die kargen Garrigue-Hänge mit ihren Rosmarin- und
Ginstersträuchern lagen. Die Wellen brandeten gegen die Felsen, der
Wind roch nach Salz.
Schwach glühten noch zwei Lagerfeuer, von den
Pferden und Ochsen kam warmer Tiergeruch herüber, die erwachenden
Soldaten räusperten sich, andere wälzten sich unruhig in letztem
Schlaf. Die Kriegsflagge mit dem Mohrenkopf knatterte in den Böen.
Weit im Süden lag Algajola. Theodor blickte auf das Heerlager, das
Meer, die Hügel, die staubige Straße und den Hafen am Horizont und
konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, diese ganze Gegenwart sei
eigentlich schon vergangen.
Er dachte an den Brief seines Neffen mit der
Nachricht von Amélies Tod, die doch eigentlich auch sein Leben
hätte anhalten müssen, statt dessen ging er mit seiner Mätresse ins
Bett und auf Kampagne.
Er mußte an den Mann denken, der ihn von allen, die
er je getroffen, am stärksten beeindruckt und dem er selbst so gar
nicht genügt hatte: den russischen Zaren, dem er vor langen Jahren
in Amsterdam gegenübergestanden hatte.
Heute begriff er, daß es unmöglich war, zugleich
Entscheidungen zu fällen und Gefühle zu empfinden. Gefühle
brauchten die Luft der Zeit und Kontemplation. Er, Theodor,
hatte heute noch nicht mit dem nachdenklichen Staunen über das
Wunder seiner Geburt und Existenz abgeschlossen, hätte noch immer
am liebsten über den merkwürdigen Wegen seiner Kindheit und Jugend
gebrütet. Männer wie der Zar, und in kleinerem Maße heute auch er,
hatten ganz einfach zuviel zu tun, um zugleich etwas empfinden zu
können. Bevor das mit einer Handlung verbundene Gefühl zu seinem
Recht kam, stand schon die nächste Entscheidung bevor. War man ein
Handelnder, konnte man kein Lebender sein, dachte Theodor. Nicht
so, wie ich das Leben begreife, das ist die Wahrheit und die
Tragik.
Niemand bewunderte ihn außer Angelina. Woher soll
es denn kommen? Weshalb setzt man sich denn jeden Morgen wieder zu
etwas zusammen, wenn nicht jemand dasteht und sagt: Schön! Die
Korsen erwarteten alle nur etwas von ihm und zweifelten, ob er
fähig wäre, es ihnen zu verschaffen. Angelina war vielleicht nicht
viel, aber sie bewunderte ihn, weil er der König war, und er
brauchte dieses großäugige Erstaunen des Mädchens, wenn es morgens
aufwachte und seine vor Aufregung feuchten Finger nur zugreifen
mußten, um den Monarchen zum Leben zu erwecken.
Jenseits allen Träumens und Sinnens wußte er, daß
die Insel noch vor dem Herbst von den Besatzern befreit sein mußte,
bevor deren Appelle auf neuerliche Hilfe von außen fruchteten.
Waren sie fort aus Korsika, würde niemand auf Erden ihnen mehr
helfen, es zurückzuerobern.
Jetzt wurden die beiden Kanonen in Stellung
gebracht und abgefeuert, und der beißende Geruch nach Pulver und
heißem Schmierfett und die Rauchwolken verpesteten die morgendlich
klare Luft. Theodor stieg im wehenden Berberkleid auf sein Pferd
und zugleich die Treppen zur Pariser Oper empor, begleitet wie
jetzt auf diesem Küstenstreifen von englischen Journalisten, einem
deutschen Hofpoeten und einem italienischen Schlachtenmaler. Ein
Cousin
seiner allerchristlichsten Majestät, der den lauschenden Hofdamen
beiläufig von seinen Triumphen erzählte. Er hielt die Zügel des
Schimmels, den der Lärm nervös machte, eng und nahm auch seine
eigenen hochsteigenden Gedanken an die Kandarre. Wenn er hier nicht
gewann, wenn es ihm nicht gelang, Korsika zu befreien, konnte er
sich nirgendwo mehr sehen lassen und endete als geschlagener,
verspotteter Bettler, dem jeder stinkende Bürger ungestraft die
Verleumdungen entgegenschleudern durfte, die Genua seit geraumer
Zeit über ihn in Umlauf brachte: der Hochstapler Neuhoff, der
falsche Adelige, der König mit Spielschulden, der Mitgiftjäger, der
Dieb Neuhoff, der Sodomist Neuhoff, der Syphilitiker Neuhoff.
Rhythmische Chöre verächtlichen Hohns, Kaskaden des Spotts brachen
über ihn herein, hallten in seinen Ohren, und er wand und krümmte
sich im Straßenstaub wie ein Wurm. Einer, der falsch und zu hoch
gespielt und die Nerven verloren hatte, von den Erynnien zur
Strecke gebracht, einer, den Fortuna auf die höchsten Gipfel
gelockt und dort nackt der Lächerlichkeit preisgegeben hatte.
Er gab seinem Pferd die Sporen, zog den Säbel, und
die verdatterte korsische Reiterei folgte ihm auf die noch
verdutzteren genuesischen Truppen zu, die, an Attentate aus dem
Hinterhalt gewohnt, mit allem gerechnet hatten, einem Austausch von
Kanonen- und Musketenschüsen, so wie englische Gentlemen ihre
Karten tauschen, aber nicht damit, daß man sie auf dieser Insel, wo
sie heute Geschäfte machten, morgen angespuckt und übermorgen
umarmt wurden, einfach niedermetzeln wollte.
Die Schlacht besaß nicht die Großartigkeit
aufeinanderbrandender Massen, eines angreifenden Waldes von Spießen
und minutenlanger Kanonaden, die die Erde erbeben ließen und ihr
tiefe Wunden rissen, wie sie vor Theodors innerem Auge stand. Die
genuesische Vorhut geduckt hinter zwei niedergestreckten
Pferdekadavern, brennende
Fischerkaten, eine schreiend vorstürmende, weißäugige korsische
Kampflinie, Mündungsblitze und feuerwerksartiges Geknatter.
Bäumende Pferde und in den ersten Strahlen der über den Bergkamm
steigenden Morgensonne funkelnde Säbel, immerhin.
Das wehe Muhen der Ochsen in den langen Intervallen
zwischen zwei Kanonenschlägen und dann ein haßerfülltes Metzeln mit
Messern und Spießen und die panische Flucht der Genueser in die
Ginsterhügel, wo sie sich die Kleider zerrissen und von hinten
niedergestochen wurden, oder gar ins Meer, wo sie unbeweglich, bis
zu den Hüften im Wasser, stehenblieben, mit den Armen ruderten und
perfekte Zielscheiben für die korsischen Schützen abgaben.
Nebelschwaden von all dem verschossenen Pulver und das übliche Bild
einzelner Schuhe und Mützen auf dem Schlachtfeld, das Gebrüll
verendender Tiere, kniende Soldaten, die sterbenden Feinden den
Hals durchschnitten und sie ausplünderten, eine pralle Morgensonne,
die immer höher stieg, so daß zu Mittag bereits alles süßlich nach
menschlicher und tierischer Verwesung roch. Die befreiten Fischer
standen säuerlich lächelnd vor ihren verbrannten Hütten und winkten
der königlichen Armee, die weiter auf Algajola zog, zaghaft
Vivat.
Mehr als fünfhundert Tote und Verletzte hatte Genua
in diesen Tagen zu beklagen. Theodor war bei den nachfolgenden
Kämpfen und Scharmützeln schon gar nicht mehr selbst zugegen, war
bereits unterwegs nach Ornetu, um die neue Münze zu gründen, seine
Engländer und seinen Poeten im Troß, wogegen er Filippini, den
Schlachtenmaler, der sich beklagt hatte, alles sei zu schnell
gegangen, für weitere Skizzen vor Ort zurückließ.
In Gedanken saß er mit Angelina im Bett, bevor die
Kampagne in der Balagna noch begonnen hatte und erzählte der
kuhäugig Lauschenden von seinen Regierungsplänen und
Visionen.
Er habe, obwohl Sproß eines der ältesten
Adelsgeschlechter der Grafschaft Mark, lange gebraucht, um endlich
ein Mittel gegen all die Clanstreitigkeiten, Vendetten, Rang- und
Hahnenkämpfe seiner Untertanen zu finden: die Stiftung eines
Ritterordens! Ein Ideal, bindender als alle Blutbande. Natürlich
habe bei dem Gedanken auch das Beispiel der Logen eine Rolle
gespielt. Was sie dazu sage. Aber sie sagte gar nichts, verstand
auch vielleicht nicht alles, weder sein gestenreiches Italienisch,
noch seine komplizierten Worte.
Ein Ritterorden, der an die höchsten menschlichen
Tugenden appelliert, zurechtgeschnitten auf die exklusiven Korsen,
Auszeichnung und Verpflichtung zugleich, ein Versuch, alle niederen
Triebe im höheren Streben einzuschmelzen. Natürlich bin ich nicht
so naiv zu glauben, daß man das Ganze nicht ein wenig modernisieren
müßte, schloß er eilig an, und wenn es unter anderem dazu dienen
soll, die Patrizier auf meine Person zu verpflichten, muß auch
etwas für sie dabei herausspringen, so gut kenne ich sie
inzwischen. Das sind aber Ausgaben, die wieder hereingeholt werden
können, indem man auch ausländische Monarchen und Würdenträger in
den Orden aufnimmt, was ohnehin seinem Renommee zuträglich wäre,
erstere kostenlos, letztere gegen ein entsprechendes Entgelt, was
sagst du dazu, Jane, ist das vernünftig und verspricht Erfolg, oder
ist es unsinnig?
Er war bereits im nächsten Satz, als ihm auffiel,
daß er Angelina Jane genannt hatte. Natürlich redete er von Anfang
an mit seiner Frau, durch die Membrane von Zeit und Raum hindurch,
und benutzte seine korsische Geliebte gleichsam als Resonanzkasten,
aber es laut ausgesprochen zu haben, unterbrach seinen
Gedankenfluß, doch offenbar war ihr der englische Name in Theodors
Redeschwall entgangen.
Schwieriger, seine Fiktion aufrechtzuerhalten,
wurde es,
als Angelina nach kurzem Nachdenken tatsächlich ihre Gedanken zur
Idee des Ritterordens entfaltete. Davon wollte er nichts hören,
hielt ihr zärtlich die Hand auf den Mund und begann erneut, ihr –
der anderen – seine Pläne darzulegen.
Warum überhaupt plauderte er im Schlafkabinett mit
einer abwesenden und einer inkompetenten Frau über Dinge, die doch
eigentlich bei seinen Vertrauten und Ministern, bei Paoli, Costa
oder Giafferi auf viel mehr Verständnis und Interesse hätten stoßen
müssen?
Die Antwort auf diese Frage erhielt er indirekt am
dreißigsten Juni im Kloster von Tavagna, wo die erste Kassette
randvoll mit glänzenden neuen Silbertalern bis vor seinen
Reisethron geschleppt wurde, einen Klappstuhl aus Mahagoni mit
Löwenköpfen am Ende der Armlehnen.
Theodor tauchte beide Hände in das Geld, zog eine
der Münzen heraus und betrachtete sie wie einen Spiegel, was sie in
gewisser Hinsicht ja auch war. Für das Brustbild hatte er dem
Künstler einen Vormittag lang, Edikte und Gesetze unterzeichnend,
im Bischofspalast von Cervioni Modell gesessen. Unter dem
Königsprofil stand auf den kleineren Einheiten: T.Rex
Corsicae, und auf der Rückseite fand sich ein Bild der
Muttergottes mit der Unterschrift: Monstra te esse matrem.
Die größeren Münzen – goldene waren mangels Gold noch nicht geprägt
– trugen unter Theodors Konterfei die Zeile: Theodorus D.G.
unanimi consensu electus Rex et Princeps regni Corsici. Drehte
man sie um, so sah man eine von drei Palmen getragene Krone und die
Worte: Prudentia et industria vincitur tyrannis. Die kleinen
Kupfermünzen schließlich begnügten sich auf der Vorderseite mit dem
T.Rex und versprachen auf der Rückseite: Pro bono publico
Corso.
Mr. Sweeney reagierte lebendiger als die korsischen
Minister, die sich offenbar über gar nichts zu enthusiasmieren
vermochten, und gratulierte Theodor und seinen Beratern
zum bisher Erreichten mit den Worten: Very nice piece of
teamwork, Sir!
Aber genau das war es ja, bei Lichte besehen,
keineswegs, fand der König. Er dachte sich alles ganz alleine aus,
hielt es eifersüchtig geheim, beredete seine Pläne und Überlegungen
durch Angelina mit seiner Frau, horchte über die Grenzen von Raum,
Zeit und Vernunft nach einer Antwort und präsentierte dann, mit
zusammengebissenen Zähnen auf Begeisterung hoffend und Mäkelei und
Widerstand gewärtigend, seine fertigen Projekte dem Kabinett.
Einerseits fühlte er sich in der Pflicht, die
rettenden Ideen selbst zu gebären; ja, gewisser Weise meinte er es
denen, die ihn gewählt hatten, schuldig zu sein, seine Würde und
Erhöhung solcherart zu rechtfertigen und den überraschten
Patriziern seine Funde zum Geschenk zu machen, um nicht zu sagen,
sie ihnen zu apportieren, woraufhin es nicht mehr als legitim war,
Dank und Lob zu erwarten. Aber es war nicht nur das.
Seine Heimlichtuerei war natürlich zugleich auch
der Versuch, diejenigen, die ihm die Verfassung abgetrotzt hatten,
zu überlisten mit fertigen Konzepten, die sie dann, mangels
realistischer Alternativen, wohl oder übel absegnen mußten. Zu
konzertierter Zusammenarbeit und zu vertrauensvoller
Arbeitsteilung, zu teamwork, wie Sweeney es genannt hatte,
besaß Theodor nicht das geringste Verhältnis.
Es ist meins, dachte er, und ich will, daß alle
Welt erfahre, wer dieses Land hier – das wirklich zu studieren er
sich noch immer nicht die Mühe gemacht hatte – in einem von ganz
Europa mit angehaltenem Atem beobachteten Experiment zum
Musterbeispiel eines modernen Staates formt.
Er wusch sich die Hände in der Geldkassette und
hielt dann Sweeney und Upworth eine der Münzen wie eine Hostie
entgegen: Darüber müssen Sie berichten, meine Herren! Korsika hat
sein eigenes Zahlungsmittel.
Wie verhält es sich zum Pfund? fragte der kleinere
der beiden Journalisten.
Ich strebe Parität an, entgegnete Theodor
würdig.
Wenigstens sahen der kleine, runde Giafferi und die
anderen bewegt aus.
Ich habe für diese große Stunde eine Oper
geschrieben, meldete sich der venezianische Librettist, der sich
Theodors Sehnsucht nach anderer Musik als den »polyphonen
Eselsschreien«, wie er es nannte, zunutze gemacht und eine Charge
bei Hof errungen hatte. Der deutsche Poet wandte sich maulend ab.
Il re di Corsica. Es fehlt nur noch der kongeniale
Komponist, den Majestät mir versprochen haben. Möchten Majestät die
Szene der Verklärung einmal lesen? Der von Pegasus gezogene Phaeton
des Sonnenkönigs erhebt sich in die Lüfte, die vier Elemente
stimmen den Chor an...
Jaja, gewiß, aber nicht jetzt, schnitt ihn der
König ab, der sich auch seinen Hofpoeten vom Leibe halten mußte,
weil dessen gargantueske Mahlzeiten mit täglich hypertropheren
Ergüssen und immer inflationäreren Lobpreisungen gerechtfertigt
wurden. Außerdem hatte er noch ein soeben in Frankfurt am Main
erschienenes Buch über sich zugesandt bekommen, eine Biografie,
geschrieben von einem Menschen, von dem er noch nie gehört hatte.
Unsinnig, wie sie zwangsläufig sein mußte, bedauerte Theodor
dennoch, keine Zeit zu haben, sie zu lesen. Ein entfernter Vetter,
den er ebenfalls nie im Leben erblickt hatte und der behauptete,
über den Grafen Drost – noch ein Unbekannter, wenn auch nicht dem
Namen nach, er mußte weitläufig zur Familie seiner Großmutter
gehören – mit ihm verwandt zu sein, veröffentlichte in deutschen
Gazetten Briefe Theodors, die jemals verfaßt zu haben er sich beim
besten Willen nicht entsinnen konnte. Immerhin, dachte er, seine zu
bißfestem Silber konkretisierten Träume in der geschlossenen Faust
haltend, ich bin in aller Munde.
Soeben hatte er Angelina die Hand auf die Lippen
gelegt, um sie daran zu hindern, mit ihren Ansichten den Dialog
zwischen ihm und seiner Frau zu stören, jetzt biß sie ihn zärtlich
in den Handballen, ein lustvoller Schmerz normalerweise, der
Theodor erregte. Nichts davon dieses Mal, er mußte laut denken und
brauchte dazu den Anblick des Mädchens, aber nur den.
Siehst du, Ideen und Gedanken und große
Theoriegebäude, auch moralische Leitsätze haben mich immer
gelangweilt, solange sie in Büchern stehen, deren Verfasser, das
darfst du mir glauben, ihnen meist die schlechtesten Anwälte und
Bürgen sind. Offenbar besitzen diese Gedanken aber doch eine
Existenz für sich, ganz unabhängig von ihren Urhebern, sonst hätten
sie sich mir nicht mit einem Mal wieder in Erinnerung bringen
können bei meinen Überlegungen, wie dieser schönen Insel hier zu
mehr Leben, Begeisterung, Produktion und Handel zu verhelfen
wäre.
Was wollt Ihr an Korsika ändern, Majestät? fragte
Angelina quengelnd. Es ist das schönste Land der Welt.
Nun ja, Kind, es ist in der Tat ein sehr schönes
Land, es mangelt ihm nur an einer gewissen Aktivität. Kennst du
denn übrigens ein anderes?
Nein, natürlich nicht, rief das Mädchen stolz, und
Theodor tätschelte ihm, komplett befriedigt von der Logik seiner
Antwort, die Wange.
Zum Beispiel hat Korsika die Häfen, die
Bodenschätze und Früchte der Erde, eine strategisch ideale Lage im
Mittelmeer, aber auf alledem sitzen leider nur deine Landsleute,
die es nicht zu nutzen verstehen. Ließe man nun in großem Stil
Landesfremde hier siedeln, neue Städte errichten, ihre Industrie
und ihren Handel treiben, bezahlte das ganze zunächst mit den
beschlagnahmten genuesischen Vermögen, die uns derzeit bereits zur
Hofhaltung dienen, dann könnte das Land binnen kurzem aufblühen.
Zwei Probleme:
Was wäre der Köder, sie hierherzulocken, außer der Schönheit, wie
du sagst, des Landes? Das müßte die absolute und ernstgenomme
Freiheit der Ausübung ihrer Religion und ihres Kultes sein. Ich
wüßte keinen Juden oder Hugenotten, den das nicht
interessierte...
Was, du willst Juden, Ketzer und Sarazenen ins Land
holen? rief Angelina, in ihrer Empörung die intime Anrede
benutzend. Wo uns Genua schon seine Zuchthäusler und Messerstecher
herübergeschickt hat, gar nicht zu reden von den unseligen
Griechen!
Theodor lächelte: Ich sehe schon, was da auf mich
zukommt, aber ich war bei den wirklichen Problemen, und dies ist
das zweite: Wie verkuppele ich die neuen Bürger des Landes mit den
alten? Zahlen jene, genau wie die Griechen, ihre Steuern nicht mehr
an Genua, sondern an uns, werden die Korsen ihren Nutzen schon
erkennen. Diese Menschen bringen den hiesigen Kenntnisse, Geld,
Brot und Devisen, und arbeiten sie erst zusammen, dann darf man
getrost auf die Zeit hoffen, die alles vermischt, was nahe genug
beieinander lebt. Etwas anderes sind natürlich die politischen
Freiheiten dieser Leute, die so eng gefaßt werden müssen als die
religiösen tolerant. Aber welcher Jude giert nach einem Staatsamt,
wenn er seine Geschäfte abwickeln und seinen Sabbat heiligen darf.
Die Administration soll ruhig den Korsen überlassen bleiben, dabei
werden sie sich nicht überarbeiten... Andererseits erwähnt Locke
das Problem der Atheisten, die nicht eidesfähig sind und keine
höchstrichterliche Autorität anerkennen können. Weißt du, was
Secondat mir zu diesem Thema geschrieben hat?
Angelina, der Theodors Monolog langweilig wurde,
drehte sich schmollend auf den Bauch und zeigte ihm ihre hügelige
Rückenansicht, aber er nahm sie gar nicht wahr. Sein vager Blick
glitt über ihre Haut hinweg auf die weiße Wand.
Auch Leute wie die Herrnhuter, die in Sachsen immer
mit einem Fuß im Zuchthaus gelebt hatten, würden herkommen.
Protestantische Stoffmanufakturen und Webereien, hugenottische
Möbelwerkstätten, griechische Öl-und Weinhändler, jüdische
Minenbesitzer und Bankiers, die im Laufe von drei oder vier
Generationen zu Korsen würden und das Blut der Urweinwohner
entspannten.
Ein König, wie man sie bisher gekannt hatte, dachte
er, wäre solcher Visionen nicht fähig. Aber er, Theodor Neuhoff,
Rex Corsicae, war nicht der Hüter hemmender Traditionen,
auch wenn er die Werte seines Standes, die Religion und die
Ehrfurcht vor der Genealogie mit einem nostalgisch-liebevollen
Respekt hochhielt, der nicht mehr allen Ernstes fähig war, an sie
zu glauben. Prinzipien, Denkverbote und Verschrobenheiten behielt
er sich zwar vor, aber kein durch die Generationen träge gewordenes
Monarchenblut verdammte ihn zur Etikette der Unbeweglichkeit. Nur
ein Revolutionskönig wie er, nur ein Landesfremder, nur jemand, der
auf dem Scharnier der Epochen lebte, vermochte nach hinten ebenso
vorurteilslos zu blicken wie nach vorn.
Mit dem Besten des Abendlandes, gleich welcher Zeit
es entstammte, würde er diese Insel, sobald sie erst einmal befreit
war, zu einem Schatzkästlein Europas machen. Vielleicht war er
tatsächlich dazu berufen, eine Jahrhundertgestalt zu werden.
Sein Blick, der wieder scharf wurde, fiel direkt
auf Angelinas schwarzes Vlies. Sie stand vor ihm, griff mit je drei
Fingern in die dichten Locken und zog sie auseinander, wie die
Frauen im Hafen von Tunis die Perlenschnüre vor den Eingängen der
Lusthöhlen beiseite geschoben hatten, um den Fremden
näherzulocken.
Ah, nein, nicht jetzt, sagte Theodor unwirsch. Zu
seiner eigenen Überraschung verspürte er nicht die geringste Lust.
Geh weg, Angelina, ein andermal, ich muß arbeiten.
Es war das erste Mal, daß er in ihrer Gegenwart
nicht früher oder später der horizontalen Versuchung erlag, und
als er zur Kampagne durch den Nebbiu und die Balagna aufbrach,
fragte er sich besorgt, wie das möglich und ob er schon nicht mehr
König und diszipliniert genug sei, der Liebe ebenso ihren Platz in
seinem Tagesprogramm zuzuweisen wie den übrigen Pflichten, denen er
nachzukommen hatte.
Erst als er sein unstetes Nomadenleben zwischen
Feldzügen und Kurzzeitresidenzen in den Provinzen unterbrach und
aufgrund des Prozesses Casacolli nach Corti zurückkehrte, während
die Armee des Obersten Fabiani zur Belagerung Bastias zog, war
Angelinas Körper in Theodors Vorstellung wieder so weit von Janes
Geist entfernt, um sie von neuem begehren zu können.
Aber nach der Umarmung begann sie zu weinen und
hörte nicht mehr damit auf, bis Theodor völlig verunsichert über
die Qualität seiner Liebkosungen und so ernüchtert war, als seien
die Tränen des Mädchens ein Guß kaltes Wasser über Stirn und
Nacken. Er wollte sie gerade ärgerlich fortschicken, als sie sich
mit einer Geste, die zu theatralisch war, um vollkommen impulsiv
sein zu können, vor ihm auf den Boden warf und sich die Haare
zerraufte.
Theodor, in Sachen schauspielerischer Leistung seit
jeher pingelig, sagte kurz angebunden: Was ist, Kind? Spann mich
nicht auf die Folter und komme zum Wesentlichen, ich habe nicht
viel Zeit heute morgen.
Majestät, Don Teodoro, Geliebter, bitte schlage
mich, ich hab es verdient, ich bin eine Spionin, eine
nichtswürdige, Genua bezahlt mich, strafe mich, bringe mich um, von
eigener Hand und schnell, aber laß mich nicht foltern, ich flehe
dich an, ich habe solche Angst vor Schmerzen, ja, ich bin
angesprochen worden, im Hafen von Bastia, wo ich arbeitete, von
einem Offizier des Stadtkommandanten, daß ich in deine Nähe
gelangen soll und ihnen alles erzählen, was du denkst und tust, ich
schäme mich so sehr, heilige Mutter Gottes, hab Erbarmen mit mir,
jetzt und in der
Stunde unseres Todes, es war soviel Geld, und ich hab doch nichts
und muß mein Kind ernähren, das bei einer Amme lebt, denn es kann
doch nicht... Aber ich habe mich in dich verliebt, Majestät, mein
Gebieter, der mein Land befreit, gleich am ersten Tag und bin
tausend Seelentode gestorben jedes Mal, wenn ich etwas berichtet
habe, viel war es ja nicht, nichts Wichtiges, doch verdiene ich
natürlich gewiß trotzdem den Tod, aber Euch, Majestät, habe ich
sofort geliebt, hoffnungslos, wie ein Mädchen aus dem Hafen eben
einen König liebt, und Ihr habt mich erhöht und respektiert und
geborgen in Eurer Freundlichkeit, Don Teodoro, Geliebter, und wie
habe ich es dir gedankt, für dreißig Silberlinge habe ich Euch
verkauft, aber jetzt, als du fort warst, all diese Wochen, da
konnte ich’s nicht mehr ertragen, ich wollte sterben, ich mußte es
dir gestehen, auch wenn ich des Todes bin, nur um eines bitte ich,
Majestät, laßt mich nicht foltern und brennen, ich habe solche
Angst vor den Schmerzen, nur die kleinen Schmerzen, die du mir
antust, Geliebter, die sind süßer als Honig und nach ihnen und
deinen Augen und deinen Händen bin ich begierig, und -
Du bist eine Spionin, die Genua mir ins Haus
geschickt hat? unterbrach Theodor sie ebenso ungläubig wie zutiefst
entzückt.
Wieder das Aufschluchzen, der Aufschlag der
rotgeweinten Augen unter dem zerrauften schwarzen Haar: Oh, Gnade,
Majestät! Nicht brennen, nicht die Augen ausstechen!
Nun höre doch einmal mit diesen Scheußlichkeiten
auf! befahl Theodor und lachte beschwipst auf. Also Genua schickt
mir tatsächlich eine Spionin auf den Hals?! Ist das wahr?
Schneidest du auch nicht nur auf? Nun erzähle doch einmal richtig.
Hier, mein Taschentuch, schneuz dir die Nase und beruhige dich, man
versteht ja kein Wort!
Angelina erzählte alles noch einmal, weniger
stockend, und sah in den Pausen Theodor mit wachsendem
Unverständnis
und augenrollender Bestürzung an, da er sich gar nicht genugtun
konnte an Einzelheiten und immer wieder nachfragte, was die
Genueser ihr genau befohlen, in welchem Ton sie von ihm gesprochen
hatten und was sie ihnen berichtete, und seine Laune wuchs von
Minute zu Minute.
Wirklich? Ernsthaft? Also haben sie doch einen
verdammten Respekt vor mir und allem, was ich hier tue! Das ist ja
ein Ritterschlag! Und du erzählst deinem Verbindungsmann also
regelmäßig alles, was du siehst, und er läuft dann los? Oder wie?
Oder hast du selbst auch geschrieben? Aber nein, sie konnte ja
weder lesen noch schreiben, sie mußte alles mündlich weitergeben.
Ja, sagte Theodor, da wußte man in Genua, daß ich ein Mann mit
einer Schwäche für schöne Frauen bin, mein Lindenblatt. Ich kann
mir denken, wie sie dasaßen, mit militärischer Macht, mit Geld
kriegen wir ihn nicht, aber ein junges Mädchen... Kompliment, meine
Herren, aber das ist ja einfach wunderbar, das ist ja ganz
köstlich, so und nun erzähle mir noch einmal, wie das war, sie
sprachen mit Respekt von mir, nicht wahr? Ich mache ihnen schwere
Sorgen...
Angelina, die sich, ohne recht zu wissen, wie ihr
geschah, von Theodors Ausgelassenheit anstecken ließ, halb schon
überzeugt, der sichere Tod werde ihr erspart bleiben, noch immer
benommen von der vollkommen unerwarteten Wendung ihrer Lage, rief
jetzt ein wenig forscher: Oh, und ich habe ihnen gesagt, welch ein
Liebhaber du bist, Majestät, ich habe ihnen erzählt von deiner
Stärke und Unersättlichkeit und wie du mich manchmal genommen hast
wie ein wildes Tier in deiner Raserei und mich gepfählt und mich in
der Luft gehalten nur mit der Kraft und Macht deiner Männlichkeit
und mich dann überschwemmt hast wie der Nil sein fruchtbares Delta,
daß ich dachte, eine Quelle sprudelt in mich, eine warme Heilquelle
wie in den Bergen meiner Heimat, und ich habe ihnen ins Gesicht
geschrien,
welch ein Mann unser König ist, wie unermüdlich er mich vier-,
fünf-, acht-, zwölfmal hintereinander in den siebten Himmel der
Lust schleudert – nun übertreibt sie aber, und zwar erheblich,
dachte Theodor mit einer gewissen Mißbilligung, denn die
phantastischen Superlative am Schluß drohten auch dem Anfang des
Satzes seine Glaubwürdigkeit zu nehmen – und daß vor einem solchen
Mann jeder Widerstand, jede Gegenwehr zwecklos und er ein großer
Herscher... aber sag, willst du mich nicht töten, nicht foltern
lassen, Herr, Gebieter, Majestät, habe ich mein Leben denn nicht
verwirkt?
Theodor antwortete nicht. Das Porträt vor Augen,
das sie mit flatternden, kurzen Fingerchen, durch die eigenen
sprühenden Übertreibungen offensichtlich erregt, von ihm als einem
wilden Stier gegeben hatte, nannte er sie zu ihrer Verblüffung
Europa und forderte sie schnaubend auf, ihn zu besteigen.
Doch, langsam summierten erinnerungswerte Momente
sich zu einem immer stabileren Königsbewußtsein: Der Anblick seines
Konterfeis auf frisch glänzenden Silbermünzen, die langen,
genießerischen Minuten, wenn er sich von seiner afrikanischen
Sklavin das Haar waschen und die Kopfhaut massieren ließ, sein
Gesicht mit duftenden Essenzen und Ölen eingerieben wurde, der
Barbier ihn mit sauber kratzenden Strichen rasierte und danach
seinen Schnurrbart färbte, brannte und drechselte. Das Tagesthema,
zu dem die ihn bestrahlenden Gestirne sich zusammenfanden und das
ihm sein königlicher Astrologe stellte und jetzt auch noch die
Eröffnung, daß Genua ihn ausspionieren ließ.
Einige Tage darauf schlug er, mitleidig angerührt
von Angelinas Bekenntnis, sie könne nicht lesen noch schreiben, und
noch immer in einer übermütigen, allerdings auch, wie sich zeigen
sollte, naiven Laune, seiner Geliebten vor, ihren nächsten Bericht
gemeinsam schriftlich zu verfassen.
»Dem Dogen und Senat von Genua seinen Gruß
entbietend«, lud Theodor Ironie und Sarkasmus schaufelweise in sein
Schreiben. Angelina stand, über seine Schultern gebeugt, hinter
ihm, ihre warmen Brüste ruhten auf seinem Nacken, und die Zunge in
seinem Ohr spielerisch bewegend, ließ sie sich vorlesen, was er zu
Papier brachte, und kicherte dazu. »Sagen Sie mir doch im Namen
Gottes, woher Sie die Würde eines Monarchen und den Fürstentitel
gewonnen haben, da Ihre Republik vordem nichts anderes gewesen ist
als eine Zunft gewinnsüchtiger Piraten.«
Und dann paß auf, jetzt zum Schluß: »Noch muß ich
Sie um eine Gefälligkeit ersuchen, nämlich wenigstens dafür zu
sorgen, daß sich in den zwischen meinen und Ihren Truppen etwa
vorfallenden Gefechten doch jemand von Ihren Landsleuten blicken
lassen möge, der das Kommando über sie führe. Ich fürchte nur,
dieselben haben mit ihren Wuchergeschäften soviel zu schaffen, daß
für den Geist der Tapferkeit bei ihnen nicht mehr viel Raum
ist.«
Und dergleichen mehr, wobei Theodor und Angelina
sich auf abwechslungsreiche Weise amüsierten, bis der Brief
schließlich kuvertiert war und von der Doppelagentin ihrem
Kontaktmann überbracht werden konnte.
Daß der Empfänger sich über dieses Schreiben
weniger amüsieren würde, war vorauszusehen, ebenso, wie es
eigentlich hätte klar sein müssen, daß man, war sein Verfasser
allenfalls nicht zu greifen, sich desto sicherer am Überbringer der
Unverschämtheiten rächen würde.
Mitte September brachte man Theodor Nachricht,
Angelina sei mit durchschnittener Kehle in einer Gasse von Sartè
aufgefunden worden. Theodor gab sein persönliches Geld für ein
würdiges katholisches Begräbnis, an dem er allerdings selbst nicht
teilnahm. Der Arzt, der den Tod festgestellt hatte, vertraute ihm
an, die Ermordete sei in Hoffnung gewesen. Mit einigem Recht durfte
Theodor annehmen, der Vater des ungeborenen Kindes gewesen zu sein.
Das Ende des bedauernswerten Mädchens nahm sich um so seltsamer
aus, als am Tag darauf Theodors Neffe, Friedrich von Trévoux, auf
der Insel eintraf.
Ich habe alles gehabt, dachte der König traurig,
aber nie, wie andere, glücklichere Menschen, zur gleichen
Zeit.
Man hätte meinen können, es sei Theodors
selbstgefällige Champagnerlaune gewesen, die ihn am Morgen von
Angelinas Geständnis so weich und versöhnlich stimmte, vor der Diät
Casacollis Begnadigung zu fordern. Dabei befähigte seine
aufgeräumte Stimmung ihn vielmehr, die Situation hellsichtig
einzuschätzen und zu beschreiben. Höchstens hinderte sie ihn daran,
so scharf, drohend und einschüchternd zu sprechen, daß die
versammelten Patrizier, die anstelle des von Theodor eingesetzten,
aber noch nicht zusammengetretenen Gerichtshofs unglücklicherweise
auch die Jurisdiktion innehatten, sich seinen Argumenten
unterwarfen.
Casacolli entstammte einer noblen Familie aus
Furiani und hatte zu den Vierundzwanzig gehört, bis vor kurzem
seine geheime Korrespondenz mit dem genuesischen Kommissar in
Bastia aufgedeckt worden und er nun wegen Hochverrats angeklagt
war.
Theodor hatte ein-, zweimal mit dem stolzen und
klugen Mann gesprochen, dessen persönliches Schicksal ihm herzlich
gleichgültig war. Aber er wußte genau, daß der Clan Casacolli
Schwierigkeiten bereiten würde, verurteilte man sein Oberhaupt, ob
zu Recht oder nicht, spielte keine Rolle. Schwierigkeiten, die in
Theodors prekärem Befreiungs- und Einigungswerk, das ohnehin schon
von genügend Imponderabilien abhing, bestimmt nicht notwendig
waren, um so weniger jetzt, da es gegen Bastia ging.
Doch in der aufgewühlten, zornigen und nicht ganz
uneigennützig rechtenden Diät erwies es sich rasch als illusorisch,
mit Strategie und dem höheren Gut der Befreiung Korsikas gegen das
kleinere Übel eines Briefwechsels
zu argumentieren, der letztlich niemandem geschadet habe.
Aber der Verräter untergräbt Ihre Königswürde, Don
Teodoro! war noch das Harmloseste, was er zu hören bekam. Der
Kanonikus Orticoni meldete sich zu Wort, und wie jedesmal, wenn der
unternehmende Mann sich plusterte, sah Theodor Meister Rabe auf
seinem Ast krächzen.
Majestät, Don Teodoro, begann der Geistliche und
machte eine perfide Pause zwischen den beiden Anreden, als wäge er
die zuerst gesprochene im Munde, schmecke an ihr, finde sie
unpassend oder ungenießbar und spucke sie aus, um die minder
ehrerbietige als die angemessenere stehenzulassen. Don Teodoro,
dieses Todesurteil ist eine Frage der Ehre, der Ehre des Königtums,
die auch auf uns, seine Garanten und Bewahrer ausstrahlt und
zurückfällt. Vielleicht seid Ihr ja in solchen Fragen der
korsischen Ehre ein wenig verwirrt, seit Ihr mit einer
stadtbekannten Dirne Kommerz pflegt...
Die anderen murmelten peinlich berührt.
Habt Ihr denn wenigstens vor, die Schande, die
diese Kreatur auf die Majestät wirft, dadurch abzuwaschen, daß Ihr
sie legitimiert, um das Gerede zu beenden?
Theodor lächelte schmallippig. Aber mein lieber
Abbé, sagte er und legte in dieses Wort all die Verachtung eines
Mannes, der am Hofe des Regenten in jedem zweiten Raum einen
Schwarzrock am Werk hatte sehen können, der mit geraffter Soutane
breitbeinig vor einem Himmelbett stand und sich, von einer Nonne
oder Bäckerstochter auf der Blockflöte begleitet, im Vorsingen der
Psalmen übte, mein lieber Abbé, ich folge auch hierin ganz dem
guten Beispiel des katholischen Klerus, im übrigen bin ich längst
verheiratet, oder wollen Sie mir aus dem reichen Schatz Ihrer
Erfahrung die Vielweiberei schmackhaft machen?
Orticoni zuckte zusammen, als hätte Theodor ihm
eine Ohrfeige versetzt, aber diese Scharmützel, die der König im
Geiste seiner rhetorischen Lehrzeit in Versailles führte, wo es
darauf angekommen war, blitzschnell einen sauberen Treffer zu
setzen und die Lacher auf seiner Seite zu haben, nicht darauf, eine
Runde von zwanzig Selbstgerechten von den Vorzügen vernünftigen
Denkens zu überzeugen, diese Scharmützel halfen ihm nicht
weiter.
Er hatte diejenigen Herren gegen sich, die als
Nachbarn der Casacolli sich von der Beseitigung des Clanführers und
der Einziehung seines Besitzes Nutzen versprachen, dazu die Gier
anderer, ein Exempel zu statuieren, wer weiß, aus welchen seltsamen
psychologischen Gründen sie zu erklären war, vielleicht auch,
dachte Theodor resigniert, aus simpler Blutlust und Todesgeilheit.
Schließlich redeten auch die besonnensten und einsichtigsten seiner
Minister, Giafferi und Paoli, gegen eine Begnadigung.
Don Teodoro, es ist eine Sache des Prinzips, ganz
wie bei der von Euch entschiedenen Todesstrafe gegen die
Bluträcher. Wir können nicht aus taktischen Erwägungen heraus die
von uns selbst geheiligten Gesetze brechen, wenn wir glaubwürdig
und Ehrenmänner bleiben wollen.
Wenn ich es kann, dachte Theodor, der hier
schließlich der Gekränkte ist, dann könntet ihr es schon lange, ihr
Ehrenmänner.
Theodor setzte sich nicht durch. Tat er alles
dafür? Verzichtete er vielleicht auf die letzten Mittel, damit das
Unvermeidliche geschehe und sie erlebten, daß er recht gehabt
hatte, und es zugeben mußten? Es wurde abgestimmt, und nur der
treue Giafferi und Sebastiano Costa stimmten mit dem König.
Der Verurteilte erhielt Gelegenheit zu einem
letzten Wort, dem Theodor nicht mehr zuhörte, genausowenig wie er
sich bei der am nächsten Morgen stattfindenden Exekution durch
Vierteilen sehen ließ.
Aber der Ort war klein, und das Zuhören ließ sich
nicht vermeiden. Durch geschlossene Läden und offene Fenster
hörte der König, wie die eisernen Manschetten einrasteten, wie den
Gäulen ein »Hüh« zugerufen wurde, hörte das seltsam ploppende
Geräusch aus ihren Pfannen springender Knochen und danach das
Schmerzensgeheul des bis dahin stoisch stummen Sterbenden. Er hörte
das Reißen von Sehnen und Muskeln und das Entsetzensgegurgel der
Menge, er hörte das mühsame Hufgeklapper der vier ziehenden
Pferde.
Es dauerte keine vierundzwanzig Stunden, da wurde
in der Residenz ein blutverschmierter Kleiderfetzen abgegeben, und
weitere fünf Tage später, Theodor weilte in Sulenzara, wo ein
holländisches Schiff mit Waffen und Munition vor Anker lag, erhielt
er Nachricht, der Oberst Fabiani, der Bastia erstürmen sollte, sei
ermordet worden, und die kopflose Truppe, anstatt die Stadt zu
belagern, in Heckenschützenduelle mit dem Clan Casacolli
verwickelt, der solcherart den eingeschlossenen Genuesern, die
verzweifelt darauf warteten, von Graubündner Söldnern entsetzt zu
werden, in die Hände arbeitete.
Theodor befahl, in höchster Eile eine Truppe
zusammenzustellen, um den Männern Fabianis zu Hilfe zu kommen und
Bastia einzunehmen, solange man noch die Mittel dazu besaß. Er
selbst verließ mit fünfhundert Mann Corti, weitere zweitausend
Soldaten unter dem Befehl Gafforis sollten sich von Aleria aus die
Ostküste hinauf in Marsch setzen, und der Teil des Heers, der in
der Balagna stand, wurde benachrichtigt, sich am Fuß des Passes von
Tegime mit den anderen Truppenteilen zusammenzufinden.
Am zweiten Tag begannen die Schwierigkeiten, aber
am ersten konnte Theodor erneut erfahren, daß das Leben im Felde,
die Männergesellschaft mit ihrer handreichenden Kameradschaft, mit
den einfachen Freuden der geteilten Wasserflasche, dem
Schweiß-von-der-Stirn-Wischen und dem gutmütig sonoren Gelächter
eine willkommene Simplifizierung der Welt ist, bevor es ans Sterben
geht.
Zum ersten Mal nahm Theodor die korsische
Landschaft,
die er sich in den engen Tälern ergehen mußte, mit wirklicher Muße
wahr. Mit all den spannungsvollen Kontrasten von vertikal
hochschießender Zackigkeit und bemoosten, schlafenden Elefanten
gleichenden Hügelkuppen, von rauschendem Wildwasser und mondhafter
Ruhe himmelspiegelnder Bergseen, von zarter Ziselierung blühender
Orchideen in ihren Farnverstecken und greller Ginsterdornigkeit
wirkte das Land, als hätte die Hand eines zürnenden Gottes einen
lieblichen Kontinent gepackt und zu einer spitzigen kleinen Insel
zusammengedrückt, in deren Falten noch die ehemalige Größe
ächzte.
An diesem ersten Tag lachte Theodor viel mit seinen
Soldaten, und die scherzten respektvoll mit ihrem König. Am zweiten
aber wurde der Marsch durch Schnee unterbrochen, der meterdick lag
und das Hochtal unpassierbar machte. Wo kommt der verfluchte Schnee
her? Es ist Hochsommer! schrie Theodor, als man ihm auf der Karte
die Ausweichroute zeigte, die einen zusätzlichen halben Tag kosten
würde.
Am Abend des zweiten Tages wurde festgestellt, daß
die Hälfte der mit Munitions- und Pulverkisten bepackten Esel samt
ihren Treibern verschwunden waren. Angeblich hatten sie ihren Sold
nicht erhalten.
Am dritten Tag wurde die Truppe erneut aufgehalten,
und zwar durch eine Schießerei in einem verbarrikadierten Bergdorf,
dessen Bewohner, wie sich herausstellte, eine Blutfehde mit einem
der Soldaten zu regeln hatten. Es war derselbe Soldat, der die
Umgehungsroute vorgeschlagen hatte. Der einzige Weg lag im
Kreuzfeuer aus zwei Häusern, es war kein Durchkommen, und erst als
Theodor den Soldaten mitten auf der Straße erschießen ließ, konnte
seine Armee ohne weitere Verluste passieren. Unterdessen hatten
sich mehrere Grenadiere, die aus der Gegend stammten und sich
weigerten, dem Dorf Schaden zuzufügen, mitsamt ihren Musketen
davongemacht.
Theodors zusammengeschmolzene Truppe traf mit zwei
Tagen Verspätung am Fuß des Passes von Tegime ein und war dennoch
die erste. Gaffori, der am folgenden Morgen erschien, hatte
ähnliches zu berichten. Die Armee, die schließlich vor den Zinnen
der Zitadelle von Bastia stand, war keine mehr.
Von Theodors Haufen waren weniger als zwei Drittel
durchgekommen, und Gafforis Truppe bestand, was offenbar niemandem
aufgefallen war, zum großen Teil aus Söhnen Bastias, die sich
weigerten, ihre eigenen Häuser und Familien zu beschießen. Der
korsische Befreiungskampf glich einer Sanduhr, der, wie oft man sie
auch zu neuen Versuchen umdrehte, aller Inhalt wegrieselte, um sich
am Boden als Sediment ewiger Unbelehrbarkeit aufzuhäufen.
Mit den vielleicht zweitausend Mann, die noch übrig
waren, aber nicht über genügend Munition verfügten, konnte außer
ein wenig symbolischem Beschuß gegen die mittlerweile von
Graubündner Söldnern verstärkte Zitadelle nichts ausgerichtet
werden, und Theodor mußte noch froh sein, daß die Genueser nicht
etwa einen Ausfall wagten, der seine fadenscheinige Armee gewiß
aufgerieben hätte.
Verbittert legte der König sich auf die Pritsche in
seinem Zelt und ließ sich in Fieber und Stumpfsinn fallen. Mit dem
Selbstmitleid kamen auch Schüttelfrost und Zahnschmerzen.
Ich will in einem zivilisierten Land sein, dachte
er, in einer großen, hellen Stadt, in einem bequemen Bett.
Trübsinnig hörte er den Regen auf die Zeltplane fallen, später auf
das Dach der Sänfte, in der er zurückgetragen wurde, die roten
Samtvorhänge blieben zugezogen. Eine Hand spielte in einer offenen
Geldkassette mit den Silbermünzen, die sein Konterfei
zeigten.
Es war in Sartè im September. Die Generäle hatte
Theodor gebeten, sich eine feste Residenz zu suchen und ihnen die
Feldzüge zu überlassen. Theodor war froh, dem Bischofspalast von
Cervioni entronnen zu sein, der kleiner war als seine Florenzer
Wohnung. Er wollte ein wenig Luxus und Pracht um sich haben nach
dem frugalen und unkomfortablen Wanderleben der letzten Wochen und
Monate. Er brauchte Raum für die Bibliothek, die er sich anlegen
ließ, für die Bediensteten, die sich um sein leibliches Wohl
sorgten. Er fühlte sich schwach und abgezehrt, selbst nach dem
Baden schmutzig, und sein Mund, aus dem er nach dem katastrophalen
Feldzug auf Bastia zwei weitere Zähne hatte ziehen lassen müssen,
schmeckte hohl und bitter.
Es gibt, im Kleinen wie im Großen, Gewißheiten, die
eine bestimmte Weile in Latenz existieren, ohne sich in Realitäten
zu verwandeln, und die die vergehende Zeit sozusagen erst einholen
muß.
Im Kleinen wußte Theodor auf seiner Pritsche vor
Bastia, als die Zahnschmerzen einsetzten, daß eine neuerliche
Folterstunde beim Zahnausreißer unumgänglich sein würde, vergaß
diese Tatsache in den folgenden Wochen aber so vollkommen, daß auch
die Schmerzen verschwanden, und der Tag der Operation, als er dann
anbrach, ihn aus heiterem Himmel in Panik stürzte.
Im Großen war ihm, als er seine Schrumpfarmee
hilflos Kanonenkugeln auf die Zitadelle abfeuern ließ, bewußt, daß
er seine Herrschaft, sein Werk, irgendwann, ohne beides befestigt
zu haben, würde unterbrechen müssen, um auf den Kontinent
zurückzukehren und dort zusätzliche Waffen und Kredite loszueisen.
Das stand ihm bevor, doch Theodor wollte dem Unvermeidlichen und
Feindseligen nun nicht auch noch von sich aus versöhnliche oder
resignierte Schritte entgegengehen. Solange der Moment noch nicht
da war, existierte er nicht und würde nie existieren.
Von September an also wußte Theodor, daß er
Korsika, wo alles noch in den Anfängen lag, verlassen mußte, und
wußte doch auf eine schwer zu begreifende Weise zugleich
nichts davon, so daß er in zuversichtlicher Zukunftsblindheit
weiterregieren konnte.
In Portivechju empfing er persönlich die ersten
Hugenotten und spanischen Juden und überreichte ihnen ihre
Einbürgerungspapiere. Vergessen waren in diesem Moment die hitzigen
Diskussionen mit den Patriziern, von deren Einwänden die neuen
Siedler zum Glück nichts ahnten. Einen Tag lang zeigte sich die
Insel von ihrer schönsten Seite, entlockte den Neuankömmlingen
entzückte Ausrufe der Bewunderung, und die Bilder aus Theodors
Regierungsträumen und die, die er jetzt vor Augen hatte, legten
sich unter einer sanften Spätsommersonne harmonisch
übereinander.
In Sartè wurde die Situation des noch immer nicht
befreiten, noch immer nicht allseits anerkannten Königreichs
anläßlich einer consulta diskutiert, bei der Theodor
schonungslos, aber mit begründbarem Optimismus alle Zahlen auf den
Tisch legte. Es war mit den eroberten Städten, dem stehenden Heer,
der Münze und dem einsetzenden Geld-und Devisenfluß, den
wiedereröffneten Bergwerken, neuen Manufakturen, ersten
Exporterfolgen, dem mittlerweile konstituierten Gerichtshof und der
Grundsteinlegung für die Universität trotz aller Rückschläge und
Niederlagen eine Bilanz, die sich sehen lassen konnte.
Dennoch wurde, hauptsächlich von jenen, die
Theodors Lieferungen für sich selbst auf die Seite geschafft
hatten, der Mangel an Nachschub und Mitteln und die zu luxuriöse
Haushaltung des Monarchen moniert. Don Luigi Giafferi und Ghjacintu
Paoli legten zur Antwort jeder zwei Säcke Gold auf den Tisch, ihr
persönliches Vermögen, das sie mit einfachen Worten dem König und
der Heimat spendeten, zum Zeichen ihres unbedingten Glaubens an den
Sieg der gemeinsamen Sache.
Dieser runde kleine Mann, dachte Theodor gerührt
und erinnerte sich des stinkenden Kontors in Livorno, stachlig
und hart wie eine korsische Kastanie, aber seit der ersten
Begegnung war er ihm nie untreu geworden.
Das Schweigen, das auf diese Geste folgte, empfand
Theodor als einen der hohen Momente seines Königtums, ebenso wie am
folgenden Tag, dem sechzehnten September, die feierliche Stiftung
des »Ritterordens der Erlösung«.
Alles war ein wenig größer, sauberer, prunkvoller
als bei der arg improvisierten Königsproklamation von Alisgiani und
ein angemessenerer Rahmen als das ärmliche Bischofspalais von
Cervioni, um sich, den vergoldeten Lorbeerkranz auf dem Haupt und
in ein bodenlanges azurblaues Cape gehüllt, als Großmeister des
Ordens zu präsentieren, den Premierminister Giafferi und den
kommandierenden General zu Rittern und weitere fünfzig an- und
abwesende verdienstvolle Korsen und Ausländer (gegen Bezahlung) zu
Satrapen zu ernennen.
Die Medaille, die die Zugehörigkeit zum Orden der
Erlösung symbolisierte, stammte von dem Künstler, der auch schon
Theodors Münzen entworfen hatte. Der König trug sie an einem
handbreiten Kordon, die Ritter und Satrapen an jeweils schmaleren
Bändern. Sie bestand aus einem grünen, emaillierten und von zwei
gegeneinander versetzten Sternen eingefaßten Medaillon, einem
großen siebenstrahligen in Gold und einem kleineren in
Sable. Das Medaillon zeigte die nackte, die Scham von einem
Gürtel mit Eichblatt verhüllt, Justitia, in der rechten Hand ein
Schwert, in der linken eine Waage haltend. Sie stand, das rechte
Bein angewinkelt und den Fuß auf einem Berg abstützend, auf einem
stark stilisierten Korsika. Unter ihrem Schwert schwebte ein
Reichsapfel, unter der Waage ein maurerisches Dreieck, das den
Buchstaben T einfaßte. Die Strahlen des schwarzen Sterns enthielten
jeder Theodors Familienwappen, den fliegenden Vogel und die
Buchstaben ULIP.
Als Theodor bekanntgab, daß auch der Herzog von
Sachsen-Weimar, der Graf Drost, der Graf von Nassau-Weilburg,
der Vicomte de Trévoux, sowie die Earls Montague und Hamilton
darum gebeten hatten, in die Bruderschaft aufgenommen zu werden,
war der Stolz groß und die Korsen so hochgestimmt, wie es nur
möglich ist, wenn man sich selbst feiert.
Kurz vor diesem Tag oder kurz darauf erfuhr Theodor
von Giafferi, daß Orticoni eine dritte Partei um sich geschart
habe, die sowohl die Genueser als auch den König loswerden wolle.
Die Geldmittel wurden knapp, der Herbst kam, die Zeit hatte die
Zeit eingeholt.
Theodor wollte nichts davon wissen. Es lebte und
regierte sich gut in Sartè, auch war sein Neffe Friedrich nun bei
ihm, ein schneidiger französischer Soldat, und in seinem Gefolge
fünfzig pfälzische Söldner, die in die Garde des Königs
eingegliedert und bezahlt werden wollten.
Friedrich war ein fremder junger Mann, galant,
gebildet, ernster als Theodor in seinem Alter, die Trauer um seine
Mutter adelte seine unfertigen Züge. Theodor schloß ihn in die Arme
wie einen Sohn und ließ sich in aller Ausführlichkeit die letzten
Jahre Amélies erzählen, die er nicht miterlebt hatte. Darüber
verging der Oktober.
Am ersten November informierte Giafferi ihn
darüber, daß Orticoni ein Mordkomplott gegen ihn geschmiedet habe,
ein gedungener Mörder war in Theodors Vorzimmer abgefangen worden
und hatte unter der Folter gestanden. Jetzt erst dachte der König
daran, daß womöglich schon Angelina ein Opfer des intriganten
Klerikers geworden war und nicht der Rachsucht der Republik.
Giafferi hielt den Moment für gekommen, die unvermeidliche Reise
auf den Kontinent anzutreten, so daß bei Theodors Rückkehr mit
Orticoni und seinen Machenschaften aufgeräumt sei.
Der König war einverstanden, ohne recht wahrhaben
zu wollen, was das bedeutete. Er realisierte es auch am vierten
November auf der Fahrt von Sartè nach Sulenzara noch nicht, auch
noch nicht am sechsten in der kleinen Hafenstadt
selbst. Er freute sich auf den Kontinent, er freute sich darauf,
zukünftigen Zuhörern die letzten Monate in reich ausgeschmückten
Erzählungen präsentieren zu können, aber daß dies zugleich hieß,
sein Königreich zu verlassen, wollte nicht in sein Bewußtsein
dringen. Selbst noch nicht, als die kleine tartane am
zehnten November in See stach und die Kaimauer hinter sich ließ.
Erst als kein Sprung an Land mehr möglich, erst als auch ein
Zurückschwimmen durchs unruhige Meer nicht mehr vorstellbar war,
fiel der Schleier von Theodors Augen.
Er stand im Heck und zog, um die Bewußtwerdung des
Offenbaren weiter hinauszuzögern, das Poem aus der Tasche, das
Overbeck, der auf der Insel geblieben war, ihm zum Abschied am Kai
mit vielen Kratzfüßen überreicht hatte.
Er versprach sich nichts weiter davon als
Beschäftigung für die Augen. Es war zur Abwechslung ein Gedicht
ohne Titel, ohne Reime, ohne Zeilenbruch, sehr erstaunlich,
vielleicht hatte der Dichter ja eingesehen, zu alledem kein Talent
zu haben. Theodor las:
»Oft bin ich mit den Augen dem Flug der Vögel
über meinen Kopf hin gefolgt. Ich spürte, daß auch ich selbst nur
ein Reisender über dem Wind sei. Eine Stimme vom Himmel schien mir
zu sagen: Mensch, für dich ist die Zeit noch nicht gekommen,
davonzuziehen. Warte, bis der Wind des Todes sich erhebt, dann erst
wirst du die Schwingen breiten und in jene ungekannten Regionen
fliegen, nach denen es dein Herz verlangt.«
Bestürzt blickte Theodor von dem Papier auf und
machte eine unwillkürliche Bewegung, als wollte er tatsächlich
versuchen, zu der sich rund und dunkel aus der Morgendampfigkeit
erhebenden Insel zurückzufliegen. Costa, der neben ihm stand,
zuckte zusammen und blinzelte den König fragend an. Sweeney, an der
Reling lehnend, hatte sich eine Pfeife angezündet, deren vom Wind
zerfaserter Rauch wie eine persönliche kleine Parodie auf
den Dunst wirkte, der die Küstenlinie Korsikas verschleierte und
über dem die Silhouette der Berge wie ein auf Nebeln gebautes
Schloß schwamm. Ein Diener näherte sich dem König und reichte ihm
und den Umstehenden Tee. Upworth seufzte genießerisch und verlangte
nach Milch.
Theodors Augen konnten sich nicht von der Insel
lösen. Wie unglaublich, wie überwältigend schön sie war! Da trieb
sie majestätisch und langsam davon, und er wurde sich bewußt, daß
seine Gefühle eben erst auf ihr landeten.
Ubi libertas, ibi patria! Dies war seine,
des Heimatlosen Heimat gewesen, der Ort, den er sich erwählt und
erschaffen hatte. Dies ist mein Land, dachte Theodor erschreckt und
mußte an seine Mutter und seine Schwester denken, die beide ohne
ihn gestorben waren, und an seine Frau, die er ohne ein Wort
verlassen hatte. Versäumnisse eines Lebens, nie wieder zu
reparieren.
Aber hätte er denn irgend etwas anders machen
können, um jetzt nicht auf diesem Schiff zu stehen, das nach Osten
segelte? Ihm fiel nichts ein. Er hatte nie eine Wahl gehabt und
alle Entscheidungen nach bestem Wissen getroffen. Er mußte sich in
Erinnerung rufen, daß es ja keineswegs ein Abschied für immer war.
Es war eine notwendige und von langer Hand geplante Reise, und in
wenigen Monaten würde er wieder zurückkommen.
Sein Blick fiel auf die beiden Journalisten vom
Gentleman’s Magazine. Sie standen nebeneinander an der Bugreling
und blickten in Richtung Festland.
Es ist ein angenehmer Gedanke, nach all den Monaten
wieder Richtung Heimat zu segeln, nicht wahr? sagte Mr.
Upworth.
Da pflichte ich Ihnen bei, Jeremiah, sagte Mr.
Sweeney. Es war eine lange Zeit. Man sollte es kaum glauben, aber
ich freue mich sogar auf den Londoner Nebel und Regen.
Nun, wir wollen nicht übertreiben, antwortete Mr.
Upworth.