Elftes Kapitel
Der kaiserliche Gesandte überquerte den Ponte Vecchio und schlenderte auf die Signoria zu. Die kleinen Wölkchen hoch oben am blauen Himmel wirkten wie vom Grund eines klaren Meeres aus betrachtete Nachen und Gondeln an der Wasseroberfläche.
Die besonnten Fassaden glänzten elfenbeinmatt, auf den Plätzen flimmerte es wie über Wüstensand, und sie reflektierten die blendende Helligkeit, so daß das Auge beim Blick in Arkaden und Toreingänge erblindete und nur körnige, blaustichige Anthrazitflecke wahrnahm und die Stadt wie ein bizarres Schachbrett aus Lichtquadraten und schwarzen Löchern empfand.
Theodors Blick, den ein leerer Magen hungrig machte, schnappte nach den Menschen am Wege, den Wasserträgern, Obstverkäufern, Boten, Händlern, flanierenden Damen und Herren und Handwerkern in ihren offenen Höhlen. Es roch nach Kaffee und Jauche, und aus den Arkadenbögen leckten graue Wasserzungen auf das Pflaster, und man hörte das Geschrubbe von Besen. Das Plätschern ausgeleerter Eimer mischte sich mit dem feinen Säuseln der Springbrunnen.
Quer über die Signoria fiel der Schatten des Campanile wie ein ausgestreckter Zeigefinger, der auf Theodor deutete. Der durchquerte ihn, stand wieder in der Sonne und atmete auf. Er hatte das Gefühl, über den weiten Platz zu schweben und wenn nötig mit einem Sprung über die Köpfe der Passanten hinwegsetzen zu können. Schon vorhin wäre er fähig gewesen, mit einem Satz den schlammgelb in seine tiefsten, grün bewachsenen Furchen zurückgezogenen Arno zu überqueren. Er fühlte sich so frei und leicht, als hätte man ihm das Herz und die Seele herausoperiert.
Nur ein-, zweimal am Tag, an einem dieser sonnigen italienischen Tage mit der Aussicht auf einen Tee mit Ironie in der englischen Handelsmission, ein Abendessen voll frivoler Geschwätzigkeit, nächtliche Mysterien tastender Lust und die Flucht vor der postkoitalen Traurigkeit in den anbrechenden Morgen, an solchen florentinischen Tagen mit ein wenig Papierkram und offiziellen Gesprächen in einer Opernloge, oder wenn er in der Messe die ganze katholische Seelenliederlichkeit genoß und komplizenhaft der zwischen all dem Gold und Weihrauch verblassenden Heiligkeit zuzwinkerte, einmal pro Tag mit Sicherheit geschah es, daß er plötzlich aus dem aquamarinblauen Süden in die erbarmungslose Kargheit eines sächsischen Februarmorgens katapultiert wurde und die Stimme des Herrn, müde und angeekelt, zu ihm sprach: Was hast du getan? Und Larbi starrte ihn wieder an wie ein unschuldig zum Tode Verurteilter. Wie alt er plötzlich aussah, grauhaarig, gebeugt, und dann begann er zu weinen, das war das Erschütterndste gewesen. Sein Diener seit fünfzehn Jahren, nie hatte Theodor sich sonderlich um Larbis Gefühlsleben geschert, und der tat, Schatten seines Herrn, genau das, was diesem verwehrt war: Er weinte. Er starrte ihn an, draußen vor dem Pferdestall war das gewesen, die Gerüche dampften intensiv aus dem warmen Stall heraus, Pferdehufe scharrten auf der harten Erde, eine Schwalbe im Mönchskleid zickzackte dicht über dem Boden, Regentropfen trommelten auf die Schindeln, Wasser gluckerte in die Regentonne, und Larbi starrte ihn an, und Tränen schossen in seine Augen, er verstand nicht, warum sein Herr sich davonmachen wollte.
Theodor hatte sich abwenden müssen, und da wurde ihm klar, daß er einen Diener, dessen Präsenz ihn den Rest seines Lebens daran erinnern würde, was er getan hatte, nicht mitnehmen konnte. Vor allem aber hatten Larbis Tränen ihm jeden Mut zu Erklärungen geraubt, die es ohnehin nicht gab. Vielleicht floh er einfach vor der Perfektion der Bilder.
Theodor war nicht mehr hinauf zu Jane gegangen, er hatte sie nicht mehr gesprochen, er hatte sich einfach aufs Pferd gesetzt und war nach Süden geritten.
Sah er jetzt beim Spazierengehen oder Ausreiten zufällig die blutiggepeitschten Nüstern eines Ochsen im Joch oder beobachtete, wie man einem Esel die Vorderbeine brach, dann spürte er Larbis Tränen wie eigene Schmerzen und sah die graue Haut und die unendlich müden Augen Janes auf dem weißen Laken, wenn sie wieder mühsam eine Fehlgeburt überstanden hatte und drüben über dem Hügel gebar die verwünschte Erdmuthe ihrem Zinzendorf das achte oder neunte gottgewünschte Balg.
Stand am Wegesrand ein schwer von Früchten überhängender Pfirsichbaum, der ihm seine Äste beinahe wie Arme entgegenstreckte, in der Art eines naiven Burschen vom Lande, der vor lauter Dankbarkeit, so viele Gottesgaben erhalten zu haben, seine Köstlichkeiten links und rechts an vorübergehende Fremde verschenkt, so senkte er beschämt die Augen und gab seinem Pferd die Sporen, daß der weiße Wegstaub den Blick zurück vernebelte.
Ein-, zweimal am Tag geschah das, und er gewöhnte sich daran, wie er sich in seiner Jugend an seine fetten Hüften gewöhnt hatte, an seine mangelnde logische Auffassungsgabe, später an die faulenden Zähne, die ergrauenden Schläfen. Man gewöhnt sich an alle seine Mängel, schließlich muß man ein Leben lang mit sich aushalten und kann Knochen, Fleisch und Haut nicht einfach irgendwo in den Stiefeln stehen lassen und in den nächstbesten Körper fahren wie ein Inkubus. Um so weniger, als das Risiko bestand, im Leib eines anständigen, grundlangweiligen Kerls zu enden, dessen Wege zu keinem Schicksal führten.
Also akzeptierte Theodor, wenn er eine Frau in einem Fenster ihre gelbe, auf dem Sims ruhende Katze streicheln sah oder eine dicke Amme mit vier Kindern durch die Gasse watscheln oder in der Kirche von hinten eine knieende Frau mit langem, schlankem Hals und Haarknoten erblickte oder wenn die Gattin eines englischen Großhändlers den Tee eingoß und in ihrer Muttersprache zu plaudern begann oder wenn er in einem Konzert zwischen all den abgelenkten und uninteressierten Schwätzern plötzlich ein junges Pärchen entdeckte, das sich aneinanderschmiegte, dann akzeptierte er, gepackt und gebeutelt zu werden wie in einem Anfall tropischen Wechselfiebers. Solche Attacken waren rasch überstanden, die Sonne wärmte ihn von neuem, das Leben hatte ihn wieder.
Und in diesem Leben erregte ihn auch von neuem das Gefühl, der Kreuzungs- und Knotenpunkt der durch eine Metropole zirkulierenden Informations- und Nachrichtenströme zu sein. Nun gut, Florenz hatte seine große Zeit hinter sich und lag als Markt für politische Handelsobjekte an der europäischen Peripherie, dennoch sah er sich gerne als eine Art Wehr, das die Richtung und Schüttung des Wissens, das über seinen Schreibtisch lief, kontrollieren und regulieren konnte.
 
Die Liste seiner Verabredungen für den heutigen Tag war lang, die Gespräche würden bis in den Abend hineinreichen. Die Gesandtschaft Wiens war die inoffizielle Schaltzentrale der Stadt und des Großherzogtums, denn der Großherzog selbst, Gian-Gastone, wie er mit vielsagender Respektlosigkeit von jedermann genannt wurde, war eine Katastrophe.
Theodor empfand eine Schwäche für den dicken, pathetischen und weibischen Schwächling, bei dem man nie wußte, ob es von der Oper oder einem Epheben ausgelöste Tränen der Rührung waren oder eher Weißwein, was ihm aus den Augen lief und von einem grazilen Jüngling mit einem Spitzentaschentuch abgetupft wurde.
Theodor hatte sich einen halbernsten Spaß erlaubt und ihm als Antrittsgeschenk ein kleines Golddöschen überreicht, das einen winzigen Schnabel besaß, mit dem die Tränen aufgefangen und gesammelt werden konnten, und stellte bei späteren Besuchen mit einer den Lachreiz streifenden Rührung fest, daß die Dose neben der weichgepolsterten Liege stand, von der der Großherzog sich immer seltener erhob.
Gian-Gastone zelebrierte die Dekadenz des Letzten, des Vollenders, dessen Tod die Dynastie, die Herrschaft, die Geschichte, die ganze Welt beenden würde, mit einem zwischen Komik und Ernst changierenden Pathos, was Theodor als schauspielerische Leistung eines Naturtalents bewunderte. Er glaubte hinter all dem, was anderen Leuten widerlich war, der bewußten Hemmungslosigkeit, dem Suhlen in Schmutz, Sünde, Sodomie und Kastratengesang, dem wollüstigen geistigen und körperlichen Verwesen bei Lebzeiten, eine Spielart der Ehrlichkeit und des Protestes gegen die menschliche Kondition zu erkennen, zu der ein Mut gehörte, den man erst findet, wenn man alle Sorge um das qu’en dira-t-on überwunden, wenn man die Schutzschilde und Rüstungen abgelegt hat, die für das Leben unter Menschen notwendig sind.
Ecce homo, dachte Theodor jedesmal beim Abschied zwischen Schaudern und Respekt, aber natürlich war es dennoch anstrengend, eine Stunde mit dem Großherzog zu verbringen, und Theodor ließ sich nicht sehr oft in Versuchung führen.
Nach all den Jahren protestantisch karger, nüchterner Kommunikation, all den Begegnungen mit Menschen, die immer nur sagten, was sie meinten, und – o heilige Einfalt und Langeweile! – immer meinten, was sie sagten, war es eine hochwillkommene Abwechslung des geistigen Küchenzettels, wieder Halbwahrheiten und Gemunkel, Klatsch und Verleumdungen, heimlichen Ehrabschneidereien und gezielten Indiskretionen zu lauschen und sie je nach Lust und Laune und ihrem Nutzen für die Belange des Reiches, in extenso oder in kleinen Teilen, verzerrt oder wortgetreu weiterzugeben oder sie als politischen Kreditbrief in der Hinterhand zu behalten und auf Hausse zu spekulieren.
Erstaunt über sich selbst, bemerkte Theodor, über wieviel Metier er verfügte. Ganz wie ein Schauspieler, der sich von der Bühne zurückgezogen hatte und nach Jahren wieder im Theater steht, den Leim der Kulissen riecht und die Mottenkugeln in den Kostümen, die lächerlichen Eitelkeiten des jugendlichen Liebhaberpaars durchschaut und schon im vorhinein weiß, was daraus werden wird, der eine gewisse Angst nicht unterdrücken kann, vielleicht kein Gedächtnis mehr zu besitzen und eingerostete Kiefer und Gelenke, und dann, sobald der Vorhang sich hebt, feststellt, daß er seine Rollen noch auswendig weiß, daß die Worte ihm aus dem Mund perlen wie klares Wasser aus einer Quelle, daß seine sparsamen, symbolisch-abwinkenden Gesten viel ausdrucksstärker sind, viel tiefer dringen als all seine jugendliche Emphase von früher, der mit melancholischer Genugtuung spürt, daß dort, wo Liebe, Glaube und Begeisterung verkümmert sind, Erfahrung ausgeschlagen hat und zu Meisterschaft gewachsen ist – ganz so fühlte er sich und erging es ihm, seit er an jenem Februarmorgen Berthelsdorf den Rücken gekehrt hatte.
Nicht nur hatte er keineswegs die Fähigkeit verloren, einen Raum zu betreten und sofort die Hierarchien der Anwesenden genau einzuschätzen, den richtigen Leuten das Richtige zu sagen und Vertrauen zu erwerben, viel wichtiger war, daß er selbst nicht in Vergessenheit geraten war. Man erinnerte sich seiner, und dank der Redgrave abgeschauten Zeichensprache, auf die mehrmals reagiert wurde – auch wenn Theodor, mangels eines zweiten Bürgen, gar nicht offiziell in die Londoner Großloge aufgenommen worden war -, hatte er nach weniger als einem Monat in Wien eine Einladung in die Hofburg erhalten, wo man ihm anbot, als einer der Gesandten die Interessen Habsburgs und des Reiches im Großherzogtum Toskana zu vertreten.
Mit einer gewissen Romantik sah er sich als einen jener Männer, die in den Feuern der Lebensleiden gehärtet worden waren. Männer der Tat, unsentimental, leidenschaftslos, wie er ihnen früher manches Mal begegnet war und keinen Zugang zu ihnen gefunden hatte. Männer, die ihren Idealismus auf den Altären ihrer Jugend abgelegt haben. Männer, die von ihren Freunden, ihren Geliebten getäuscht worden sind und gelobt haben, niemandem mehr zu trauen, die freundlich sind, aber verschlossen, die befehlen, nicht bitten. Männer, die das Leben verbittert hat, aber nur in ihrem Kern, der ist hart und unbiegsam geworden. Die Notwendigkeit zu überleben hält sie außen elastisch wie Weidengerten, und es gibt nur eines, wonach sie sich richten: Kenntnisse, nicht Gefühle.
Ja, so einer war er auch, selbst wenn es, wie er sich eingestehen mußte, keinesfalls die Enttäuschungen des Lebens waren, die ihn gestählt und vereinsamt hatten, das Leben hatte es eigentlich immer gut und behutsam mit ihm gemeint und er sich immer weich gebettet in ihm und sich keine Askesen und Disziplinen zugemutet. Wenn er also verbittert und ein wissender, zielstrebiger Mann geworden war, dann konnte es nur an der eigenen Treulosigkeit liegen. Er hatte sein Herz nicht zugemauert wie jene, er hatte es am Spieltisch des Lebens versetzt, um zu sehen, wie es sich ohne lebt. Und es lebte sich entschieden leichter.
Wenn das Auge die Welt dreidimensional wahrnimmt, so sieht das Herz noch allem eine vierte Dimension hinzu: Betrachtet man einen Baum, so erkennt man ihn nicht nur in aller Tiefenschärfe vor seinem Hintergrund, man erinnert sich zugleich des Frühlings, als er eine duftende Schmetterlingswolke hauchzarter weißrosa Blüten war, man sieht ihn dürr und tot mit nassen schwarzen Ästen im Winter oder nach dem Blitzschlag, man erinnert sich der Küsse in seinem Schatten und fühlt ihn wachsen wie sich selbst unter den vergehenden und wiederkehrenden Himmeln von Angst und Hoffnung. Jetzt war alles, was er betrachtete, flacher, manchmal hatte er den Eindruck, die ganze Welt sei platt wie ein Theaterhorizont. Jene eine Dimension, in der die Freude herrscht, aber auch die Furcht, war unsichtbar geworden. Was nicht hieß, daß er die Tage nicht genoß.
Wenn er ein Fest gab oder ein Essen, drängte sich ganz Florenz vor der Tür seines Palazzo. Die alten Patrizier, die englischen Großhändler, die latifundienbesitzenden Jesuiten, der purpurne und violette Haufen der Kirchenfürsten, die adeligen Winzer aus den Hügeln der Umgebung, Reeder aus Livorno, Diplomaten aus Savoyen, Sardinien, Genua, Frankreich und Neapel.
Feste und Diners, Landpartien und Segeltörns und Gesandtschaftsempfänge waren amüsant und zerstreuend, solange sie dauerten, aber danach lag Theodor regelmäßig wach und kaute an dem schalen Gefühl, seine schönen Sprünge über zu niedrige Hindernisse zu vollführen, was noch grotesker aussieht, als an zu hohen zu scheitern.
Es war wie am Spieltisch. An kleinmütigen Tagen setzte man nicht viel und gewann wenig, aber wie erbärmlich war die Genugtuung über einen mäßigen Gewinn, verglichen mit der alle Nervenfasern anspannenden, den heißen Kopf bis zur Hellsichtigkeit ausglühenden Erwartung, wenn man hoch gesetzt, alles gesetzt, mehr gesetzt hatte, als man besaß – und dann verlor!
Denn Theodor hatte in Florenz wieder zu spielen begonnen, machte Schulden und erinnerte sich wie ein verstockter, stolzer Sünder der Pariser Zeiten, als er ebenso agiert hatte, im Wissen, die Stadt irgendwann, wenn er sich bei allen Gläubigern unmöglich gemacht hatte, verlassen zu müssen.
Er war auf dem besten Wege, von neuem in einen gemütlichen Trott zu verfallen, wenn man denn die Einstellung, das Leben wie einen Kettenhund so lange zu reizen, bis es sich losriß und man Hals über Kopf flüchten mußte, einen Trott nennen will. Dabei konnte nur das Außerordentliche den begangenen Treuebruch rechtfertigen. Wenn er schon die Liebe geopfert hatte, dann doch, um seine Arme für das Große und Ungewöhnliche frei zu haben.
Aber was soll ich tun, um von dir zu hören, all der Schmerz habe sich letztendlich gelohnt, fragte er sich im Geiste und floh in die Arme irgendeiner Frau, in deren Gliedmaßen, Worte oder Gesten er sich verliebt hatte, sorgfältig vermeidend, den ganzen Menschen anzusehen. War der Zimmerbrand seiner Lust gelöscht, blieb auch von der Verliebtheit nur noch ein Aschehäufchen, das in alle Richtungen zerstäubte, sobald er morgens die Tür öffnete und ging. So wollte es Theodor und wagte nicht, zu entscheiden, ob dies die ihm gemäße Form der Liebe sei.
 
Wann genau die Zeit begann, sich zu beschleunigen, die einzelnen Ereignisse sich zusammenballten wie Gewitterwolken, er hätte es später nicht mehr zu sagen vermocht. Auch nicht, ob und inwieweit er selbst etwa diese Klimaveränderungen mitbewirkte und der Geschichte, aus seiner Lethargie erwachend, einen Schub versetzte, sozusagen indem er der Geschwindigkeit der Zeit seine eigene hinzuaddierte, das heißt, ob ohne ihn, sein zu Beginn völlig willenloses, unauffälliges und belangloses Mitwirken, die Dinge denselben Lauf genommen hätten.
Eines jedenfalls war klar: Entgegen allen später geschriebenen Legenden und Kommentaren, die er zu Gesicht bekam, hatte Theodor in diesem Sommer 1732, als er während und direkt im Anschluß an den Kongreß von Corti nach Genua geschickt wurde, keinen Plan, keine Meinung, keine Absicht und vorderhand auch noch so gut wie keine Kenntnis von den Problemen der Republik mit dem von ihr besetzten und zu ihr gehörenden Eiland Korsika.
Er stellte nur mit gemischten Gefühlen fest, daß die freie Zeit, in der er träumen konnte, im Irrgarten der Erinnerung hinter Wegbiegungen auf schöne und erschreckende Bilder traf und sich Zukünfte ausmalte, daß diese Momente seltener wurden. An manchen Tagen war er stolz darauf. Er war bald vierzig Jahre alt, es war Zeit, einen gönnerhaften Ausflug in die Art von Existenz zu unternehmen, unter der die meisten litten, nämlich schon ab ihrem fünfzehnten, zwanzigsten Lebensjahr von Geschäften aufgefressen zu werden, die ihnen jede Muße nahmen, ihr eigenes Leben abschweifend und kommentierend zu begleiten.
Der General Wachtendonk, den Theodor in Livorno traf, war ein Militär durch und durch, so daß der Gesandte sogleich, um ein Gespräch zu ermöglichen, sich in einen Veteranen verwandelte und mit einer gewissen Freiheit von den Feldzügen seines Vaters nach Worms, Speyer und Heidelberg berichtete und schilderte, wie er selbst unter dem Befehl des glorreichen Soldatenkönigs Karl von Schweden Arm in Arm mit Mazeppa bei Mohilew und Poltava gefochten hatte.
Dem General, der, wie Theodor richtig vermutet hatte, niemandem mehr mißtraute als Salonpolitikern, lösten diese Erzählungen, glaubhaft und fesselnd, wie sie auch deshalb waren, weil Theodor, während er sie erfand, auf die Bibel geschworen hätte, tatsächlich aus seiner eigenen Erinnerung zu schöpfen, die Zunge, und er hob zu Erklärungen an, mühsam, wie ein schwerer Heuwagen, den nur ein einziger Ochse zieht, ins Rollen kommt.
Sehen Sie, Baron, dieses Korsika ist letztlich ein simples Problem. Die Topografie der Insel, nur Berge und Schluchten und Wald und Macchia, macht es völlig unmöglich, sie zur Gänze zu erobern und restlos zu säubern. Ich habe viertausend Mann da drüben stehen, kräftige Hessen, die vor nichts zurückschrecken, aber selbst mit vierzigtausend bekäme ich die Insel nicht frei von allen Aufrührern und Banditen. Das ist das eine. Das andere ist, daß sie dort nichts haben. Geld schon gar nicht, aber auch keine Landwirtschaft, keinen Bergbau, keinen Handel, nichts. Im Inland leben die Leute von Kastanien. Das heißt, Korsika braucht seine Häfen als Lebensadern. Die wiederum hat Genua zu Festungen ausgebaut, und wir haben sie, sofern die Rebellen dort saßen, wieder zurückerobert. Das ist alles sehr einfach. Wir haben die Häfen, die Aufständischen gehen in die Berge, wo wir sie nicht kriegen. Verlassen wir die Häfen, kommen die Korsen von den Bergen herunter und versuchen von neuem, die Häfen einzunehmen. Kommen wir wieder zurück, gehen die Korsen hinauf in -
Ich glaube, ich habe verstanden, sagte Theodor.
Schon, aber es kommt noch eines hinzu. Wenn ich sage: die Korsen, wen meine ich da wohl?
Ihre Rätselfragen brächten Gebildetere als mich ins Grübeln, General, aber ich nehme doch an: die Korsen -
Falsch, Baron, völlig falsch! Ich meine ganz bestimmte Korsen, aber auch wiederum nicht immer dieselben.
Ich fürchte, ich kann nicht ganz folgen.
Was ich sagen will, ist, wenn es Genua seit hundert Jahren immer wieder gelingt, die verschiedenen Aufstände und das Rumoren niederzuhalten, dann liegt das daran, daß die Korsen eines noch mehr hassen als die Republik, und das ist der Gedanke, daß andere Korsen womöglich mehr Macht und mehr Wohlstand erringen könnten als sie selbst. Die Clanstreitigkeiten, die ewigen Machtkämpfe zwischen Patrizierfamilien, zwischen pieves, das sind die Ortschaften dort, sind der größte Alliierte Genuas. Wann immer irgendein Familienoberhaupt zum Befreiungskampf bläst, können Sie sicher sein, daß der Kapo einer anderen Familie die Behörden davon in Kenntnis setzen und gegen ein anständiges Entgelt und das Versprechen, das Land des Verratenen überschrieben zu bekommen, ein Bündnis – auf Zeit, versteht sich – gegen die eigenen Landsleute eingehen wird.
Aber dann ist doch alles in Ordnung, oder? fragte Theodor.
Nicht so ganz, meinte der General und wischte sich mit einer groben Geste über den Mund. Wer soll das bezahlen? Weder der Senat noch die Banken können es sich leisten, eine Armee wie die meine zu unterhalten. Soll vielleicht Wien die Unkosten übernehmen? Die werden sich hüten! Wir rüsten gegen Fleury!
Wenn ich es recht verstehe, ergänzte Theodor, befinden sich die Korsen auch noch im Steuerstreik. Also fehlt Genua sozusagen das Holz, um die Prügel zuzuschneiden, mit denen sie die Korsen dann züchtigen.
Sozusagen, antwortete der General. Die meisten, die Geld haben, sitzen ohnehin auf dem Festland und verdingen sich dort. Zum Teil übrigens auch in Diensten der Republik, die sie wiederum bekämpfen, sobald sie nach Hause auf ihre Insel kommen... Um ein für allemal Ruhe zu schaffen dort, müßte ein stehendes Heer von zwanzigtausend Mann auf die Hafenstädte verteilt werden und dort Garnison nehmen bis zum St. Nimmerleinstag. Aber dafür fehlen die Mittel und, offengestanden, auch das Interesse.
Und was ist, wenn ich fragen darf, General, Ihr persönlicher Eindruck von diesen Querelen?
Persönlicher Eindruck? Ich bin Soldat! polterte Wachtendonk. Ich kämpfe für den, der mich beauftragt. Ich kämpfe heute gegen die Aufständischen, und wenn Wien mich morgen nach Genua schickt, dann kartätsche ich die Republik. Aber wenn Sie mich schon so fragen, Herr Baron: Es wäre mir lieber, gegen Genua Krieg zu führen. Das sind vernünftige Leute, da weiß man, woran man ist. Das sind Menschen wie wir!
Derart informiert, machte sich Theodor auf die Reise – zunächst nach Genua, sodann nach Livorno, wo die Vertreter der Indepen-dentisten saßen -, um der Reichsabordnung beim Kongreß von Corti, dem Prinzen von Württemberg und dem Prinzen von Kulmbach, seine Eindrücke und Vorschläge mitteilen zu können.
Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er eine offizielle und öffentliche Funktion inne, mußte nicht inkognito reisen und agieren, sondern konnte sich überall unter seinem wahren Namen als Geschäftsträger Habsburgs empfangen lassen. Seine Absicht war, moderne Diplomatie zu treiben, so wie er es, voller Bewunderung für ihren klaren Kopf und ihre eindeutigen Interessen, die Engländer hatte tun sehen. Das Problem dabei war, erst einmal in Erfahrung zu bringen, welche Linie die eigene Seite eigentlich verfolgte. Und Theodor ahnte nur zu gut, daß er bei dieser Suche leicht würde enttäuscht werden können.
Wien war dem genuesischen Hilferuf gefolgt und spielte jetzt in Corti auch den Schiedsrichter, um den Sturm zu besänftigen, den die eigene Windmacherei gesät hatte, regelte aber alles auf eine hektische Weise mit »ja, ja« und »gut, gut«, als wolle man diese Bürde schleunigst wieder loswerden. Es war nicht zu erkennen, daß hinter der Unterstützung irgendeine strategische Absicht lag, etwa das Ruder in Genua selbst in die Hand zu bekommen oder Korsika dem Reich zu gewinnen und die Insel zu einem strategischen Stützpunkt im Mittelmeer auszubauen, was immerhin, stand ein neuerlicher Krieg gegen Frankreich bevor, seine Logik gehabt hätte.
Wie sollte man einem Herrn dienen, der nicht wußte, was er wollte? Abgesehen davon, daß es Theodor nicht in den Sinn gekommen wäre, sich tatsächlich als Staatsdiener zu fühlen, der seinem Auftraggeber Loyalität auf Gedeih und Verderb schuldet. Aber die Tatsache, daß diese Insel alle möglichen Kräfte beschäftigte, ohne einen Willen zu binden, gab zu denken.
Genuas Polizeiaktionen haftete, schien es Theodor vor allem nach den Gesprächen mit Herrn Galeazzi Maria, etwas Prinzipienreiterisches an, etwas von einem lästigen Pensum, das man erfüllte, um den Buchstaben des Gesetzes, der Ehre und Tradition Genüge zu tun. Die Situation Genuas hatte etwas Verranntes, aber das sind ja bekanntermaßen die am schwersten zu lösenden.
Schon vor den Unterhaltungen mit Maria und den Korsen hatte Theodor sich gefragt, ganz gegen seinen Ehrgeiz, angelsächsische Diplomatie zu treiben, wer ihm wohl sympathischer sein werde. Die Vorstellung, unparteiisch zu handeln und sich wie eine marmorne Justitia die Standpunkte der Feinde anzuhören, um dann einen faulen Kompromißvorschlag nach Wien zu depeschieren, langweilte ihn zu Tode.
Irgendeinen Effekt mußte seine Intervention ja haben. Nur ein Stein im Bach zu sein, an dem die Fluten vorüberspülten, beleidigte sein Selbstgefühl. Wenn ein Theodor von Neuhoff sich schon in diese lästigen Streitigkeiten einmischte, dann doch wohl, um mitzuerleben, wie sie sich, so oder so, entschieden.
Insgeheim ahnte er bereits, daß er derjenigen Partei zuneigen würde, die sich seiner Präsenz und Person gegenüber am freundlichsten und dankbarsten erwiese. Hier ein guter Rat, dort ein guter Rat, und wer sich darum nicht scherte, der hatte sein Wohlwollen verscherzt. Eine wirkliche Meinung zu dem Problem Korsika besaß er nicht, sondern machte wie üblich alles von den emotionellen Eindrücken abhängig. Theoretische Rechte und Forderungen, Paragraphen und Gesetze waren eines, angenehme oder unangenehme Menschen aber verliehen diesem Gerippe erst Fleisch und ein Gesicht, und nur dafür interessierte Theodor sich.
An Galeazzi Maria, der ihn herrschaftlich empfing und sogleich auf französisch und englisch mit ihm zu reden begann, mißfiel ihm, ein Spiegelbild vorgehalten zu bekommen, das er naturgemäß als verzerrt und stockfleckig empfand, als eine Grimasse, eine Verhöhnung seines eigenen Wesens. Der genuesische Beamte bediente sich nämlich der gleichen einfühlenden Taktiken wie sein Gesprächspartner, versuchte einen Gleichklang des Tons zu erreichen, ein Unisono der Worte und Gesten, auf welcher Basis dann eine übereinstimmende Meinung um so leichter herbeizuführen wäre. Theodor schauderte bei dem Gedanken, auch er selbst könne sein Leben lang so durchsichtig gewirkt haben und so schmierig erschienen sein.
Gegen die Überzeugungen Marias jedoch, eines hochgewachsenen, soignierten Patriziers, war nicht das Geringste einzuwenden, das Argumentieren mit Rechtstiteln ließ keinen Einspruch zu. Theodor, in dessen Innern es seit jeher viel zu sehr gebrodelt hatte, als daß er in der äußeren Welt nicht strikten Konservatismus und die Treue zu überkommenen unveränderlichen Verhältnissen vorzog, war im Prinzip ganz einverstanden mit der Meinung, die ewigen Revolten der Korsen seien staatsrechtlich unannehmbar, politisch unerträglich und müßten ein für allemal niedergewalzt werden.
Der freche Zynismus, mit dem Maria, der im übrigen nie einen Fuß auf die rebellische Insel gesetzt hatte, die Zwistigkeiten und die Inkonsequenz der sich ewig selbst aufs Haupt schlagenden Korsen kommentierte, nahm Theodor wieder für den Mann ein: Über ein Problem spotten und lachen zu können stand ihm viel näher als alles trockene Beharren auf welcher Position auch immer.
Das Zusammentreffen mit den korsischen Unterhändlern hätte sich nicht unterschiedlicher gestalten können. Ceccaldi und Raffalli empfingen ihn in ihrem Kontor im Hafen von Livorno, einem rechtlich betrachtet illegalen Ort, an dem sie im Schutz der beiden geschlossenen Augen des Großherzogs Gian-Gastone und der ewig janusköpfigen Habsburger an den genuesischen Behörden vorbei von der Insel geschmuggelte Produkte verkauften.
In den kühlen Gewölben, in denen man nach dem hellen Sonnenlicht im Hafen zunächst blind umhertappte, roch es essigsauer nach vergorenem Wein, den Steinboden vor den Fässern verunzierten eingetrocknete dunkle Flecke, als hätte ein Massaker hier stattgefunden, dessen Spuren nur ganz oberflächlich getilgt worden waren. Auf den Holzregalen lagerten Hunderte von Käsen in verschiedenen Reife- und Überreifestufen, und aus den hinteren Räumen drang der Bocksgestank aufgepannter Felle herein.
So riecht also Korsika, dachte Theodor, ein Taschentuch vor die Nase haltend, bis er sie an die Ausdünstungen gewöhnt hatte.
Ceccaldi und Raffalli, die ihn mit mißtrauischer Höflichkeit begrüßten und wie in einem mechanischen Ballett immer einen Schritt zurück machten, wenn er einen nach vorn tat, um eine Art Luftaura, einen kultischen Abstand aufrechtzuerhalten, waren keine geborenen Kaufleute.
Der eine war Jurist, der andere eigentlich Gutsherr, hatte aber auch bereits in verschiedenen Armeen gedient, nicht zuletzt in der genuesischen. Es war schwer zu sagen, in welchem Geiste sie dieses halblegale korsische Exportkontor führten, das zugleich eine Art inoffizielle Botschaft der Separatisten war, ein konspirativer Ort und nicht zuletzt ein Symbol. Jedenfalls, soviel hatte Theodor sich sagen lassen, florierten die Geschäfte nicht sonderlich, da es gegen die Würde der Geschäftsführer zu gehen schien, ihre Waren anzupreisen oder schön darzubieten, als komme dies schon einer Erniedrigung gleich und sei eine Herabsetzung der ihnen innewohnenden Würde. Wer andererseits sich nicht für die Produkte interessierte, die sie vertrieben, beleidigte ebenfalls ihren Ehrenpuschel, denn nur über die leidige Politik zu reden, ohne die Früchte ihrer Erde zu bewundern, quittierten die Kontorherren mit zusammengepreßten Lippen, als steckten sie wortlos Schläge ein.
Ihre kalte Höflichkeit war extrem förmlich, sie standen da wie alte Frauen in einem Fenster, die mit beiden Händen die Läden ergriffen haben und bereit sind, sie jeden Moment zuzuschlagen, sollte der Blick des Fremden zu eindringlich werden. Sie wirkten, als seien Offenheit und Herzlichkeit ihre letzten vor den Genuesern in Sicherheit gebrachten Besitztümer, die sie eingemauert hatten, um ihrer nicht auch noch beraubt zu werden.
Jedes Kopfnicken, jede Handbewegung, jedes Wort – und sie machten nicht viele – wurde mit verstohlenen Seitenblicken abgestimmt und in einer todernsten Parodie kultischer Würde zelebriert, die in diesem stinkenden Gewölbe mit den Weinfässern von Minute zu Minute theaterhafter wirkte.
Unwillkürlich ging Theodor auf dieses seltsame Spiel ein, wurde ernster und ernster und immer steifer und mußte innerlich doch mit sich kämpfen, nicht entweder laut loszulachen oder ärgerlich dazwischenzufahren.
Das marionettenhafte Zeremoniell der Korsen steuerte tatsächlich auf einen unerwarteten Höhepunkt zu. An einem bestimmten Moment des zähen Gesprächs nämlich stolzierten beide in geheimer Verabredung zu einer Tür, postierten sich zu beiden Seiten, so daß es Theodor ein wenig unheimlich wurde, öffneten die Flügel, und in dem Moment, da ein kleiner runder Mann hereinrollte, sagten sie beide wie aus einem Mund und als kündigten sie einen Heiligen an: Don Luigi Giafferi!
Der Mann, der einen graumeliertem Vollbart trug und kurzes krauses Haar hatte, bewegte sich in gerader Linie auf Theodor zu, wie ein winziger Stier auf den Torero, streckte die Hand aus, ohne das Gesicht mit den vollen Lippen, buschigen Brauen und listigen schwarzen Knopfaugen zu verziehen, und sagte in einem Ton, bei dem man sich nicht sofort entscheiden konnte, ihn salbungsvoll oder sarkastisch zu nennen: Don Teodoro! Willkommen!
Theodor erwiderte den Händedruck, und nun legte der andere auch noch die Linke auf die beiden umeinander geschlossenen Hände, wartete stirnrunzelnd, bis der Reichsgesandte begriff, daß er das gleiche tun sollte, und dann standen sie da wie zwei auf dem Marktplatz einer fremden Stadt aneinander gefesselte Männer und blickten sich ein wenig ratlos an.
Spottlust, Mitgefühl, Neugierde – Theodor konnte nur feststellen, welch widerstreitende Gefühle diese Inszenierung in ihm hervorrief, und mehr denn je fühlte er sich in einem Theaterstück, halb Zuschauer, halb Mitspieler. Wie die beiden falschen Kaufleute die Spannung gesteigert hatten. Wie der wichtige Mann unvermittelt, einem reitenden Boten gleich, auftauchte. Wie der priesterliche Ernst der Statisten auf den Auftritt Giafferis zugleich vorbereitet und angesichts des an ein Stierkalb erinnernden Mannes in die Irre geführt hatte, der jetzt im Gehrock, mit Bundhosen und weißen Strümpfen und Schnallenschuhen an den erstaunlich kleinen, femininen Füßen vor ihm stand; auch seine Hände waren kinderklein. Die solenne Begrüßung mit den übereinandergelegten Händen und dazu das Aussehen eines ein wenig abgerissenen Gentlemans.
Es brauchte eine Weile, bis Theodor klar wurde, daß Giafferi gar nicht daran dachte, ihn als Schiedsinstanz anzurufen. Der kleine Mann warb um ihn! Er behandelte ihn ganz ohne Umschweife so, als sei er ein unabhängiger Reisender, ein Abenteurer, der sich der Sache der Korsen zur Verfügung gestellt hatte, ohne darüber übrigens erstaunt zu sein oder in hündische Dankbarkeit zu verfallen, sondern im Gegenteil seine eigene Fiktion mit beiläufiger Selbstverständlichkeit behandelnd, als sei es gar keine Frage, daß ein jeder, der sich in nebelhaften Vorepochen auf die Suche nach dem Gral begeben hätte, der zur Zeit der Kreuzzüge in die Reihen der Eroberer Jerusalems getreten wäre, sich heutzutage der Befreiung Korsikas verschreiben mußte.
Auf den ersten Blick wirkte Don Luigi offener und zuvorkommender als seine beiden Mitstreiter. Aber auch er trug den Faltenbalken quer über die Stirn, der Sorge und sture Willenskraft ausdrückte, und auch er scherzte nicht. Wenn seine Augen einmal ironisch zwinkerten, dann nur, um bescheiden die Diskrepanz zwischen der heilig-ernsten Sache und der eigenen unvollkommen-hilflosen Persönlichkeit aufschimmern zu lassen. Dennoch wurde Theodor das Gespräch mit ihm nicht leid. Manchmal hatte er sogar den Eindruck, der Korse drücke sich in Jamben aus.
Für eine Shakespeare’sche Königstragödie wurde allerdings zuviel Molière’scher Dialog gesprochen und zuviel Pantomime nach Art der Commedia dell’Arte getrieben. Aber unterschätze diesen kleinen Mann nicht, dachte Theodor. Er ist auf dem Festland wohlhabend geworden als Anwalt, er hat gekämpft, geschossen, gemordet, er hat in mehreren Verliesen gesessen, sie werden ihn umbringen müssen, wollen sie ihn loswerden. Und so wie man im Theater zu einer der Personen auf der Bühne Sympathie faßt und beschließt, ihr zu vertrauen, so wie ein Kartenspieler auf ein durchschnittliches Blatt setzt, von dem zwei rote Damen ihm entgegenlächeln, in deren Hände er sich gibt, entschied sich Theodor irgendwann im Laufe des Gesprächs, Giafferi zu vertrauen.
Hinterher gestand er sich kopfschüttelnd ein, daß der runde Wollkopf ihn mit seiner ostentativen Offenheit und seiner Art, so zu tun, als lege er die Geschicke der Nation vertrauensvoll in Theodors Hände, eingewickelt hatte. Aber als der Kongreß von Corti mit faulen, oder doch nur in der Theorie wohlklingenden Kompromissen endete – der Anerkennung der genuesischen Herrschaft einerseits, einer Generalamnestie, dem Versprechen der geschäftlichen Gleichberechtigung der Korsen und der Einrichtung eines korsischen Gerichtshofes in Bastia andererseits – und keine drei Monate danach die in ihre Heimat zurückgekehrten Giafferi, Ceccaldi und Raffalli verhaftet und in Verliesen angekettet wurden, gab Theodor seine Schlichterrolle auf und eilte ihnen zu Hilfe.
Warum um Himmels willen ergreife ich Partei? fragte er im Geiste Jane, deren nüchtern abwägender Blick ihm fehlte. Und zu welcher Seite würdest du mir raten? Die Korsen, auch wenn ich jetzt das Unrecht bekämpfe, das ihnen geschieht, sind mir doch gar zu fremd und lästig.
Er erinnerte sich seiner Knabenspiele, wenn er, ein das Firmament ausfüllender Gott, im Gras kniete und zusah, wie Ameisen eine pollenschwere Biene attackierten. Er rettete die Biene nicht etwa, seine kindliche Grausamkeit war viel zu begierig darauf, der Zerstörung zuzusehen, aber seine Sympathie gehörte ihr, und so legte er den Ameisen Hindernisse in den Weg und tötete, Richter und Henker in Personalunion wie jeder Gott, einige der Unbelehrbaren, um dann, wenn sie ihr Mordwerk doch vollführten, den Ort angewidert und seltsam traurig, hoffnungslos und schuldbewußt zu verlassen und später tagelang einen großen Bogen um ihn zu machen.
Alles, was er tat, lag nach wie vor, frei interpretiert, im Rahmen seiner Aufgabe. Als aufgrund seines Rapports Wien die Republik zwang, die drei Freiheitskämpfer zu entlassen, war auch ihre Abholung aus der Feste Savona und ihre Begleitung zurück nach Livorno noch immer ein neutraler Akt, auch wenn die Freundlichkeit Galeazzi Marias eisig geworden war.
Nur Giafferi selbst und seine Kumpane reagierten anders: Don Teodoro, wir stellen uns unter Ihren Schutz, sagte der runde kleine Stier, als er blinzelnd ans Licht trat, so laut, daß jedermann es hören konnte, und dann stellte er sich auf die Zehenspitzen und gab Theodor einen schmatzenden Bruderkuß auf beide Wangen, ebenso wie nach ihm die steifen, förmlichen Ceccaldi und Raffalli, die im Gefängnis offenbar nur Knoblauch zu essen bekommen hatten.
Die Rückreise gestaltete sich, ohne daß Theodor etwas dagegen hätte tun können, zu einem Triumphzug, dem immer mehr exilierte Korsen sich anschlossen, denen Giafferi durch die Kutschenfenster die Hände schüttelte und die sich komödiantisch tief, aber todernst und mit gezogenem Hut vor Theodor verneigten.
Die beinahe täglichen Besuche Giafferis und seiner Leute in der Residenz fielen ihm auf die Nerven und schmeichelten zugleich seiner Eitelkeit. Man fragte ihn um Rat, man wollte seine Meinung, man profitierte vom Schatz seiner Erfahrungen. Bei aller Abwehrhaltung viel zu entzückt, sich zu verweigern, stellte Theodor mit nicht unbeträchtlichem Stolz fest, was er alles an vernünftigen Dingen zu sagen wußte, litt dabei aber zugleich unter dem Stachel des Zweifels, seine Weisheit womöglich an Unwürdige zu verschwenden.
Wäre es nicht angemessener und ratsamer gewesen, die Genueser zu unterstützen? Aber weder Maria noch Doria, noch Veneroso, noch Gripello oder Rivarola hatten ihn je darum gebeten. Was für ein Bild gab er ab als Berater der korsischen Rebellen, die überall eher als lästig und lächerlich denn als ernstzunehmende Größe galten?
Und hätte ich nur, dachte er, wenn er sich schlaflos und schwitzend in seinem Bett herumwälzte, irgendeine wirkliche Meinung und Überzeugung zu alledem. Der Versuch, den eigenen Grund auszuloten, ergab eine beängstigende Bodenlosigkeit, und da sein Senkblei auf nichts Festes stieß in diesen drückenden Nächten und er sich diesmal nicht einer Krankheit überlassen wollte, sprang er aus dem Bett und flüchtete in ein verschwiegenes Haus in Florenz.
Dort versteckte er sich im Schutz des süßlich schwül duftenden Halbdämmers, der schweren dunklen Samtvorhänge und der weichen Ottomane, wo das einzige Geräusch das Blubbern der Wasserpfeife war, an der er sog, vor dem peinigenden Zwang, Entscheidungen fällen zu müssen.
Mehr als alles andere brauchen Sie Geld, hatte er Giafferi gepredigt. Sie müssen die Früchte Ihrer Insel exportieren, Sie müssen Waffen kaufen, Munition, Uniformen, Lebensmittel. Sie müssen sich organisieren, Mann, sonst bleibt alles bei lächerlichen Scharmützeln. Sie müssen ernsthaft auftreten, nicht nur der Republik gegenüber. Und hören Sie auf, nach Madrid oder Wien zu schielen. Von da kommt keine Hilfe. Die Großen unterstützen nur Bestrebungen, die sich auch ohne sie durchsetzen können, und das auch erst dann, wenn die Entscheidung zu ihren Gunsten bereits gefallen ist. Was wir zu allererst brauchen, Don Teodoro, kam darauf die Antwort, ist jemand, der uns eint. Ein Führer, ein erfahrener Mann, dem alle vertrauen können, weil er nicht in unsere Streitigkeiten verwickelt ist, und von dem niemand glauben kann, er wolle sich auf Kosten einer der Familien bereichern. So jemanden brauchen wir.
Stille. Sie sahen einander an. Theodor brach das Schweigen als erster. Wo wollen Sie so jemanden finden? Giafferi wandte sich ab. Ich weiß es nicht...
Hatte er sich in seinem Leben denn nicht bereits mehr als genug entschieden? Er mußte an eine Geschichte denken, die Larbi ihm auf der Flucht von Stralsund erzählt hatte: Der Großwesir kommt in heller Verwirrung zum Kalifen gelaufen und bittet um Urlaub nach Basra, er sei auf dem Markt dem Tode begegnet, der ihn bedrohlich angeblickt habe, gewiß um ihn zu holen, er wolle um sein Leben laufen. Das wird ihm stattgegeben. Kurze Zeit darauf trifft der Kalif selbst den Tod und stellt ihn zur Rede. Nichts habe ihm ferner gelegen, entgegnet der, als Angst einzujagen. Nur Erstaunen habe in seinem Blick gelegen, den Knecht heute hier in Bagdad zu sehen, wo er doch morgen in Basra mit ihm verabredet sei.
Theodor saugte an der Opiumpfeife, als könnte ein einziger Zug alle Erinnerungsbilder auslöschen.
Zu schwach, die Hand zur Faust zu ballen, lag er auf der Ottomane. Schmale, kindliche Gestalten näherten sich, halfen ihm, sich seiner Überkleider zu entledigen, hüllten ihn in einen seidenen Umhang, kurze, runde Kinderfinger streichelten seinen Nacken, seinen Rücken, seine Halsbeuge, seine Arme und Handteller.
Es war nicht so, wie wenn eine Frau einen liebkost, die Berührungen erkundeten seinen Leib wie Tiere. Wie Würmer einen Kadaver, dachte er. Man mußte kein Mann mehr sein wollen, um hier seine Befriedigung zu suchen.
Wo ist mein Wagemut, dachte Theodor und spürte, wie seine Muskeln sich abwehrend spannten, wo sind meine Neugierde, Lebenslust, Jugend? Bin ich wirklich ein solcher Eunuch geworden, eine träge Qualle, ein ausgebluteter Greis, der mit dem Leben abgeschlossen hat?
Er sprang auf – die Gestalten wichen in den Schatten zurück -, kleidete sich an, zahlte, schüttelte den Opiumrauch aus seinem Kopf, verließ das Haus, atmete die milde Nachtluft in tiefen Zügen ein und befahl dem Kutscher, zum Palazzo der Bankierswitwe Malerba zu fahren. Es war zwei Uhr nachts? Egal. Das Bedürfnis, sich zu versichern, daß er ein Mann war, duldete keinen Aufschub.