Zehntes Kapitel
Zunächst war nur das schrille Schreien zu hören, von nirgendwoher, als sei die Luft selbst in schwingende Aufregung versetzt. Die Bauern blickten von ihren Pflügen auf, die Katze flüchtete mit an den Boden gedrängtem Leib ins Haus, der Hund bellte, Jane kam auf die Terrasse gelaufen, und Theodor legte sein Buch beiseite und trat an das Dachgaubenfenster seiner Bibliothek, um zu sehen, was geschehen war.
Sehr hoch droben am Himmel verlief, wie mit feiner Feder ins Blau gezeichnet, eine spitz zulaufende Welle. Sie bewegte sich voran, dehnte sich aus, zog sich wieder zusammen und zitterte im Licht. Das Schreien klang so nah, daß es kaum mit diesem vagen Anblick zu tun zu haben schien. Dann kristallisierte die flimmernde Welle sich zu einem Keil aus vielleicht vierzig Kranichen, der aus Norden kommend und nach Süden zielend, weit, weit über ihren Köpfen vorüberflog.
Schon waren sie über die schauenden Menschen hinweg, übers Haus hin verschwunden, zogen schon über den nächsten Hügel, auf dessen Kuppe, von Ulmen und Linden umstanden, das Zinzendorf’sche Haus gebaut war, lösten sich in Lichtstaub auf.
Kaum war die erste Formation außer Sicht, rauschte wieder das helle Schreien auf, und mit dem Zugfernrohr jetzt unten bei Jane auf der Terrasse stehend, blickte Theodor Richtung Norden und sah den nächsten Schwarm wie ein im Wind flatterndes gegabeltes Banner. Die schönen gestreckten, langhalsigen Körper, der majestätisch ruhige, rhythmische Flügelschlag. Die Spitze des Keils hielt in vollkommener Ruhe Kurs, folgte zuversichtlich und blind ergeben ihrem Instinkt in den Süden.
Insgesamt zogen an diesem Tag vier Gruppen vorüber, einmal verformte der Keil sich zur Spirale, die führenden Vögel verließen ihre Linie, und wie eine luftige Schleppe folgten alle anderen dem Gekreisel. Der Schwarm wartete auf Nachzügler, drehte einige Schleifen hoch über den zwei, drei Gutshäusern an den Hügelflanken, dem kleinen Weiler mit der Kirche in der Senke, dann stieg der Leitvogel steil nach oben, und aufgeregt schreiend reihten die übrigen Kraniche sich in die Formation zurück, hintereinander und leicht zueinander versetzt, und nahmen ihre Route wieder auf.
Sie flogen schnell. Von dem Moment an, da man sie im Norden erkennen konnte, bis zu ihrem Verblassen im verwaschenen Blau des mittäglichen Himmels vergingen kaum zwei Minuten.
Jane blickte ihnen nach und sagte: Reisende über dem Wind...
Dies war im Oktober ihres ersten Jahres in Berthelsdorf. Ende Februar des folgenden hörten und sahen sie die Kraniche wieder auf ihrem Rückflug in den Norden, und Theodor fühlte sich wie ein Vater, der seine Kinder empfängt, die von großer Reise heimkehren.
Die Jahre darauf war der freudige Schock natürlich geringer, eine Epiphanie war die Musik der Kraniche nur jenes erste Mal gewesen, aber in den späten Oktobertagen wirkte das Schreien und das im kalten Wind über sie hinwegflatternde Banner wie das Menetekel des bevorstehenden Winters, und der erste Schwarm unter der tiefen Februar-Wolkendecke brachte Hoffnung auf das Wiedererstehen des Lebens. Und jedesmal kam Theodor das Wort seiner Frau in den Sinn: Reisende über dem Wind.
Schon der Tag ihrer Ankunft in Berthelsdorf war denkwürdig verlaufen. Als der Kutscher sich durchgefragt hatte und Theodor und Jane staubig, verschwitzt und mit zerschlagenen Gliedern ausstiegen, wurden sie vor der Tür ihres zukünftigen Heims von Zinzendorf und seiner Frau empfangen, die im Nieselregen Hand in Hand unter dem Vordach standen und gewartet hatten. Sie kamen zum Wagen und begrüßten das fremde Paar mit dem Bruderkuß; das war verwirrend, brach aber zugleich das Eis. Daraufhin allerdings umarmten sie auch den verblüfften Larbi und nannten ihn Bruder, so daß Theodor ihn am späten Abend anzischte: Bilde dir keine Schwachheiten ein. Du bist und bleibst mein Diener. Und der in den Jahren der Intimität unverschämt und beredt gewordene Kabyle verneigte sich und erwiderte: Für eine unbeträchtliche Erhöhung meiner Bezüge verzichte ich auf jede mir von fremden Herrn ohne Kenntnis der Realitäten angetragene Gotteskindschaft.
Der erste Tag, der mit der Besichtigung des Hauses, des Hofs und einem Ritt durch die zugehörigen Wiesen und Wälder ausgefüllt war, wurde im eine Meile entfernten Heim des Grafen beendet, wo die Neuankömmlinge in den Kreis, der sich um Zinzendorf geschart hatte, eingeführt wurden.
Die Freundschaft zu dem Gemeindegründer und seiner Frau Erdmuthe Dorothea kam schnell und natürlich. Jane nannte die Gräfin Zinzendorf, ihr auf ihre übliche Weise zunächst einen Kosenamen und dann eine abgekürzte Version desselben verleihend, rasch Dorothy – Erdmuthe, I can’t pronounce, entschuldigte sie sich – und dann Dolly, und der Name hakte sich an seiner Trägerin fest, bis sogar ihr Gatte, der Graf, ihn benutzte, zumindest wenn man unter sich war.
Im ersten Jahr ihres Lebens in Berthelsdorf kam Theodor seinem ursprünglichen Auftrag regelmäßig nach: dem Zinzendorfer Projekt einer Gemeinschaft im Glauben und Leben Gönner, Freunde, Adepten und Mäzene zuzuführen. Er reiste nach Hamburg, Dresden und Wien, korrespondierte mit Pietisten in Schwaben, Jansenisten in Paris, Kaufleuten, Adeligen, Hamburger »Patrioten« und mit Universitätsprofessoren und tat, was er am besten konnte – mit seinem Charme die Menschen für etwas zu interessieren, was sie normalerweise keineswegs interessiert hätte, sie für etwas zu erwärmen, dem die kalte Schulter zu zeigen nur zu natürlich gewesen wäre. Doch je mehr Theodor selbst hineinwuchs in Zinzendorfs seltsame kleine Welt aus Bruderküssen, Bibellektüre, öffentlichen Bußbekenntnissen, manchmal am Rande der Lüsternheit balancierender Gotteskinder-Ekstase und protestantisch genauer Buchführung über die niederen Lebensbereiche, je mehr er und Jane Bestandteil wurden dieser traut-internationalen Enklave, desto mehr schlief seine Werbetätigkeit, seine Diplomatenrolle ein. Die Arbeit eines inoffiziellen Außenministers der Gemeinde, die er ausgeübt hatte, wurde überflüssiger, je geschmierter die Mechanik, die der Gründer und Übervater in Gang gebracht hatte, abschnurrte.
Auch Zinzendorf fragte ihn schon nach kürzester Zeit nicht mehr nach seinen Unternehmungen. Sie gehörten eben einfach dazu, wie die übrige Handvoll adeliger Familien, die sich rund um den hybriden kleinen Sprengel Herrnhut niedergelassen hatten; alles Brüder im Geiste Jesu, Lutheraner, Pietisten, liberale oder enttäuschte Katholiken wie er selbst und Jane, wenn auch etwas privilegiertere Brüder als das Gros der mährischen Siedler und Kleinsassen, die das eigentliche Dorf bildeten.
Theodors großes und stummes Werk in den Berthelsdorfer Jahren war die Verwandlung der Zeit.
Ob man diese nun als das Rad einer Mühle sah, durch das sich die Jahreszeiten drehten und in der die Tage zu feinem Mehl zermahlen wurden, als eine Spirale, die in ihren Kreisbewegungen sich langsam höher schraubte, hypothetischer Vollendung und gewissem Tod entgegen, als eine Parabel, einen Pfeilschuß, der in kühnem Bogen direkt auf das Herz Jesu zielte, wie Zinzendorf es forderte, oder als eine Gerade, eine Art Ameisenstraße, die man, eingeklemmt zwischen anderen, immer weiter fort von den Anfängen, blind auf ein unvermeidliches Verenden am Wegesrand zu entlangkrabbelte – welcher Glaube, welche Sichtweise auch immer die richtige sein mochte, Theodor versuchte, sich selbst und seiner Umgebung etwas anderes zu suggerieren.
Das Phänomen, daß die Augen aller dem Blick eines einzelnen folgen, der einen unsichtbaren Punkt so eindringlich fixiert, daß jedermann sein Licht dem Strahl dieses Schauens beifügt und dieselben Bilder sieht, die der hypnotische Blick ins Nichts gebrannt hat, war ihm seit langem bekannt, und manchmal war es Theodor, als müsse er allein mit den Muskeln seiner Augen das Rad, die Spirale oder den fliegenden Pfeil anhalten und in die Bewegung zwingen, die er sich wünschte: die Bewegung eines Pendels.
Die Zeit zu einem leichten, beiderseitigen Ausschlagen über eine nur gedachte, lotrechte Achse machen, die ihr geheimes statisches Herz und Heim ist.
Er war, anders als Vater und Mutter, dem Tod entronnen, hatte es sich nicht in kalten Festungen auf der Brust geholt, keine Cholera hatte ihn austrocknen und verfaulen lassen, keine Pestbeulen waren ihm gewachsen, den Kanonenkugeln, Bajonettstichen, dem Wundbrand und der Knochensäge des Regimentsmedikus war er entgangen, die scharfen Krummesser der Diebe und Mörder in nächtlichen Städten hatten andere durchbohrt, die Ratten in der Bastille nicht ihn zu fressen bekommen, die Folterbänke der Inquisition tränkte nicht sein Blut und sein Schweiß. Er hatte die Vergangenheit überstanden und hier in Berthelsdorf auch die Zukunft ihrer Gefahren beraubt, indem er sie, das wilde Tier seiner ewigen Hoffnungen kastrierend, zu beständiger Gegenwart zähmte.
Jetzt pendelte die Zeit ruhig hin und her, ihre Ausschläge waren überschaubar, und in ihrem ruhigen Zentrum stand er, Theodor Neuhoff, und führte ein kontemplatives Leben.
Es war eine Existenz, die an gewisse, zur Zeit seiner Jugend im Park von Versailles veranstaltete Aufführungen erinnerte, die lebenden Bilder, zu denen sich zur Verblüffung und ästhetischen Freude der Betrachter die umhergehenden oder -tanzenden Körper plötzlich, wie magnetisch zueinander gezogen, zusammenfanden, um eine von Gemälden oder Skulpturen bekannte mythologische Gruppe darzustellen.
Einige Sekunden lang verharrte ein solches Tableau in vollkommener Bewegungslosigkeit und Stille, kaum daß man sah, wie sich eine leise atmende Brust hob oder senkte; ein in der Grimasse eines Lächelns oder Schreies erstarrtes Gesicht verlor nach wenigen Augenblicken sein groteskes Aussehen, wenn einem, was unweigerlich geschah, die Verbindung zu der Person, die man kennen mochte, abhanden kam zugunsten der dargestellten Allegorie, und die Illusion, noch vergrößert durch das kaum merkliche Beben der Lebendigkeit, wurde zu einer Epiphanie, die man, eingebrannt in die Netzhaut, weiter mit sich trug, wenn der Zauberbann sich löste.
Theodor entwickelte sich zu einem Sammler solcher lebender Bilder seines eigenen Lebens.
Dazu gehörten natürlich die »Reisenden über dem Wind«, der erste Anblick der Kraniche samt dem Geruch nach Papier in seiner Studierstube, als er Janes Ausruf hörte, ihre gegen die Himmelshelligkeit zusammengekniffenen Augen, die Krähenfüße in ihren Augenwinkeln, die panisch huschende Katze, der Geruch nach Metall und Schmierfett seines Zugfernrohrs, die graubraune aufgepflügte Oktobererde, die mit in die Hüften gestemmten hornigen Händen in die Höhe blickenden Bauern in ihren Holzpantinen und braunen Joppen, der gleichgültige Ochse im Joch, der Blick auf das Zinzendorf’sche Anwesen, über das die Vögel hinwegzogen.
Ein anderes dieser lebenden Bilder war eine Opernaufführung in Dresden, zu der sie allein gereist waren (Zinzendorf war kein Liebhaber der italienischen Oper), bei der Hasse selbst dirigierte und seine Frau Faustina Bordoni, von Theodor, der sie seinerzeit im Hause Respighi kennengelernt hatte, nach der Vorstellung herzlich begrüßt, die umjubelte Hauptrolle sang. Es war keine königliche Aufführung, und im von Hunderten von Kerzen erleuchteten Saal ging es wild zu. Damen wurden von ihren Lakaien auf Sofas in den Saal getragen, Männer ließen ihre Kartentische im hinteren Teil aufstellen, Tabakspfeifen und Getränke wurden gereicht, in der Loge nebenan raschelten hinter geschlossenen Vorhängen Kleider, und das Gestöhne erstarb erst, als die Bordoni eine Dacapo-Arie gab, die Vorhänge rissen auf wie im Marionettentheater, zwei rote Gesichter erschienen, und die dazugehörigen Hände klatschten wie wild Beifall. Auf der Bühne herrschte ein Prunk sondergleichen: Als sei der Weltuntergang nahe, rasten Sonne und Mond über den Himmel, Pallas Athene schwebte in ihrer Eulenkutsche durch die Lüfte, Jupiter und Apoll thronten in den Wolken, die Unterwelt spie Geister und Ungeheuer aus ihrem Rachen. Als im zweiten Akt einer der Vorhänge Feuer fing, entstand Panik, aber einige beherzte Männer rissen das Tuch herunter, trampelten darauf herum, und die Vorstellung konnte fortgesetzt werden.
Die ganze Zeit über hielten Theodor und Jane sich an den Händen, von ihrer Konzentration auf die Kunst in einer Umgebung, wo jedermann sich nur unterhalten wollte, in eine nobel-vergreiste Starre versetzt, blickten aufs Gewoge der Musiker, das Spiel der Lichter auf den Geigenhälsen und Perücken und lauschten der Stimme der Bordoni, ebenso gebannt jede ihrer Koloraturen verfolgend wie ihr Gatte, der die Aufführung vom Cembalo aus mit behandschuhten Gesten steuerte.
Vor allem jedoch waren es stillere Bilder, bukolische, pastorale Augenblicke des Friedens – Glücksprismen: Jane in der großen Küche in einem taubenblauen Schürzenkleid, durch das Kreuzfenster fiel Licht herein, in dem die Kalksteinmauern safrangelb leuchteten, die von der Decke hängenden Körbe in ihren abgestuften Tönen von Aschegrau über Kastanienbraun bis zur Farbe reifen Weizens bildeten eine Art bauchiges Fischernetz, auf den Regalbrettern reihten sich Steingutvasen und Käsesiebe aneinander, neben dem Kamin hingen rötlich schimmernd die kupfernen braseros, und Jane goß aus einem graublauen, zu ihrem Kleid passenden Krug Milch in einen Becher. Einige Tropfen gingen daneben und glänzten wie Perlen auf der gescheuerten Tischplatte, Janes Kopf war leicht schräg gehalten, parallel zur Neigung des Krugs, ihr Haar fiel links und rechts von ihrem Ohr hinab, das an eine Kamee erinnerte.
Oder einer der ruhigen Abende am Kamin, wenn draußen vielleicht noch, je nach Jahreszeit – die Stunde der Fledermäuse war gerade vorüber – letztes Grillengezirp oder die Triller einer Nachtigall ertönten. Jane saß, den Stickrahmen auf den geschlossenen Knien, da, das Profil ihres Rükkens bildete, hinauf zu den Schultern, dem Nacken, dem Hals, dem Hinterkopf, eine feine, mit Kohlestift gezeichnete Linie, die Theodor selbstvergessen mit einer Hand in der Luft nachzog. Er hatte einen Packen Zeitschriften neben sich liegen und las ihr vor, zum Beispiel aus dem »Hamburger Relations-Courir«, und sie blickte von ihrer Arbeit auf und sah ihn aufmerksam an, mit leicht gehobenen Brauen, die Lippen einen Spalt geöffnet.
In solchen Momenten mußte er an ihr lautes Gelächter im engen Kreis der Männer in Madrid denken. Heute hatte jenes Lachen einem zarten, verstehenden Lächeln Platz gemacht. War sie auch glücklich? Sie sagte öfter: Aber ewig bleiben wir nicht hier in dem Loch, dabei war sie es, die in der Herrnhuter Schule unterrichtete, zweimal wöchentlich das Waisenhaus besuchte, Rosenspaliere pflegte, die ein Menschenalter überdauerten, und im Gegensatz zu ihm alle Bauern, alles Gesinde, all die Herrnhuter Siedler und ihre Familien, all die Prediger mit Namen kannte und auseinanderhielt, während er immer weniger unternahm und ihr bei ihren schön und säuberlich ausgeführten Tagesaktivitäten behaglich und beglückt zusah.
Sein Blick auf Jane ging in die Tiefe der Zeit, und mit leisem Traumschrecken sah er sie, im schwarzen Kleid, das Haar im Nacken verknotet, zwei leere Körbe in der Hand, mit gefaßt-gelöstem Gesichtsausdruck aus dem Herrnhuter Waisenhaus treten wie jede Woche – beinahe wäre er auf sie zugelaufen wie damals, wie vor langer, langer Zeit, und hätte ihre Beine umfaßt und den Kopf im raschelnden Stoff vergraben, beinahe spürte er die kühle, ihn zur Beherrschung mahnende Hand auf seinem Schopf.
Woran denkst du? fragte Jane, wenn er zu lange ins Leere starrte.
Daran, daß ich dich schon immer geliebt habe, antwortete er.
Das ist schön, und woran noch?
An Nikolaus, sagte Theodor. Er übt sich so sehr in Güte, daß er Schwielen an der Seele haben muß, wie andere, die zu viel reiten, am Hintern.
Er stellte oft Vergleiche an zwischen der Religiosität Zinzendorfs und der seines Schwagers Trévoux und setzte die beiden dabei unwillkürlich wie ältere, ernsthafte Menschen von sich selbst ab, mußte sich dann aber immer wieder ein wenig schockiert ins Gedächtnis rufen, daß Nikolaus sechs Jahre jünger war als er selbst. Er war es derart gewohnt, überall der Jüngste oder doch zumindest der Jüngere zu sein, ein Knabe fast, der räderschlagend an den Erwachsenen vorübertollte, die ihre Arbeit zum Stillhalten an einem Ort zwang, daß es ihm, der immer in der Erwartung gelebt hatte, die Zukunft werde sein Schicksal einst in die ihm gemäße Form gießen, kaum glaublich und erschreckend erschien, daß nun schon Jüngere etwas Sichtbares, Funktionierendes, Geplantes erbaut und geleistet hatten, während er seinem Götterparkett den Landedelmann vorspielte und sich fragte, ob man ihm in seinem Kostüm in England abgeschauter und aus England importierter Woll- und Tweedstoffe, Filzhüte, Samtcordbreeches auch diesmal wieder zur glücklichen Fügung seines Lebens gratulieren werde.
Trévoux las Augustinus und ging hinterher auf die Jagd oder schlemmte. Er liebte die Begegnung mit großen Gedanken wie andere Leute die mit großen Männern, als bliebe nach der Umarmung etwas vom Glitzerstaub des Erhabenen auch auf seinen Schultern zurück, er ergötzte sich an der Sprache der theologischen Dichter und zitierte sie ausgiebig – und das genügte ihm. Wohingegen Zinzendorf Lektüre als Aufforderung zu Tat und Veränderung begriff. Sein Freund Nikolaus hatte die Bibel gelesen, und diese Erfahrung erheischte, um es mit seinem Lieblingswort auszudrücken, eine Reaktion. Und zwar eine, die übers Privatleben hinausging. Nein, nicht nur eine Reaktion, eine Revolution. Etwas die Welt und Gesellschaft Veränderndes und Voranbringendes, wobei es sich erstaunlicherweise wie von selbst verstand, daß das eigene erfüllte Leben beispielgebend sei für alle anderen.
Das machte es an gemeinsamer Tafel ein klein wenig schwierig, den von Theodor bevorzugten Konversationsstil durchzuhalten, ein geläufiges Parlando, bei dem man zwischen den Bissen und Schlucken Aktuelles ansprach, um sich informiert zu zeigen, dessen Wichtigkeit mit einem Bonmot sogleich relativierte, über Lektüre plauderte, wobei nicht die Lektüre, sondern ihre Schilderung geistreich zu sein hatte, über abwesende Bekannte mit freundlichspitzzüngigem Spott herzog, dem genossenen Mahl durch schön gewählte Worte Ehre erwies und ansonsten nicht pedantisch bei einem Thema und einer Meinung – vor allem nicht der eigenen – kleben blieb.
Gewiß, es mangelte Nikolaus und Dolly weder an Bildung, an Geist noch an Freundlichkeit – im Gegenteil, von Letzterer war vielleicht sogar zuviel da, die Freundlichkeit des Grafen war überbordend, allen zugewandt und enthusiastisch vereinnahmend, und oft genug äußerte sie sich in Tränen, was Theodor bei Tische besonders widerwärtig war. Dabei waren diese Tränen nur das Überlaufen einer gotterfüllten Seele, aber für den Baron lag genau hier das Problem: Solange Gott diese Seele füllte, war auch im Körper für nichts anderes Platz, und geriet Zinzendorf ins Lobpreisen, ins spirituelle Extemporieren, wurden die Kartoffeln kalt und der Zander matschig.
Du bist zu kritisch, meinte Jane. Es ist eben ein Elan zu Gott hin, der ihn und sie alle beflügelt. Es ist die Frische und der Überschwang der Anfänge. Der Drang nach einem Durchbruch zu noch größerer Reinheit. Denk daran, daß seine Glaubensbrüder ringsumher noch immer verfolgt werden. Erinnere dich an die katholische Bleikammer Spaniens. Und findest du nicht, daß es etwas Beneidenswertes hat, dieses Sich-völlig-auf-eine-Spur-Werfen, diese jugendliche Liebe zu Gott?
Gewiß, gewiß, sagte Theodor. Und ich schätze ihn ja auch, aber es ist dennoch wahr, daß einer sehr selbstgewiß in seinem Leben, in seinen Überzeugungen, ja, letztlich wie in einer alten Rüstung in seinem Körper stehen muß, um mit so wenig Selbstironie zu sprechen und zu handeln. Und zu richten! Weißt du, es gibt Bruderküsse, die scheiden die Hierarchien strenger als Stockhiebe.
Du bist überfeinert, Big Cat.
Mag sein, aber wer nicht an sich zweifelt, weiß nichts von den Nuancen des menschlichen Herzens.
Warum sollte er übrigens nicht selbstgewiß in seinem Körper stehen? sagte Jane. Dieser Körper ist nicht häßlich...
Theodor verzog seinen Mund zu einem Lächeln.
Wollte sie doch nicht über Körper reden! Wie bei Orpheus und Eurydike hing alles davon ab, sich nicht umzudrehen. Ganz so wie seine Mutter in früherer Zeit den Hunger hatte fortschweigen wollen, schien es Theodor heute der Preis ihres Glücks, jede Thematisierung der Erotik zu vermeiden, es sei denn, Zinzendorf streifte das Gebiet in einem seiner Sermone, da war es so absurd, daß man darüber lachen konnte.
Dabei liebte und achtete er Janes Leib jedes Jahr mehr, genoß den Anblick seiner schlanken Elastizität, freute sich am Neigen ihres Kopfs, an der Haltung ihrer Arme, betrachtete voller Rührung das langsame, gelassen ertragene Werk der Zeit auf ihrer Haut, und je tiefer seine Kenntnis dieser Form und Hülle wurde, ihres Geruchs, ihrer kleinen Leiden, ihrer Empfindlichkeiten, desto mehr wuchsen sein Zartgefühl und seine Achtung und desto mehr versiegte das Begehren.
Ihn selbst störte das so wenig, wie der Schiffer, der endlich in ruhigem Wasser treibt, sich nach den Stromschnellen zurücksehnt.
Denn es war ein seltsames Ding, über das er oft grübeln mußte: Daß das Schamgefühl gegenüber dem anderen zugleich mit der Liebe wuchs, anstatt abzunehmen.
Das laute, vulgäre Lachen auf dem Tisch war nur noch ein fernes Echo im Nebel der Vergangenheit, ebenso wie die Hemmungslosigkeit der ersten Tage, das chiliastische Sich-Gehen-Lassen, das an keine Zukunft glauben darf.
Erinnerte er sich mancher Dinge, die sie noch in London miteinander getan hatten, so stieg ihm die Röte ins Gesicht, als hätte er ein fremdes Paar überrascht, und er sagte sich, daß er zu dergleichen heute nicht mehr fähig wäre. Wie sollten Menschen, die einander vertrauten, derartige Indiskretionen mit ihrem eigenen und dem fremden Körper begehen und sich zugleich in Liebe und Achtung in die Augen sehen ein Leben lang? Denn Selbstachtung und Lust, Dauer und Lust, Liebe und Lust, dies war Theodors seltsam traurig stimmende Erkenntnis, gehen im Letzten und Tiefsten nicht zusammen.
Jane blickte erwartungsvoll auf seinen lächelnden Mund, da schürzte er die Lippen und sagte: Ich fürchte nur, dieser Körper ist schon vergeben...
Wie...? Aber natürlich. Um Himmels willen! Ich wollte ja auch nicht sagen, daß...
Du irrst. Ich rede nicht von Dolly. Ich meine, er ist unserem Herrn Jesu Christo geweiht.
Jane schüttelte lachend den Kopf: Du bist und bleibst ein Närrchen, Big Cat.
Dieses Lachen war von der Art, in die er einstimmen konnte.
Was übrigens die Körper betrifft, so war nicht zu verhehlen, daß Theodor seinen eigenen in den Berthelsdorfer Jahren etwas vernachlässigte: Zunächst einmal hatte er sich abgewöhnt, das lästige Korsett zu tragen. Zu träge, sich täglich von Larbi rasieren zu lassen, der unter der Hand mehr und mehr zu Janes Diener wurde – da gab es einfach mehr zu tun -, ließ er sich einen Bart stehen, der nicht zu jeder Tages- und Nachtzeit gekämmt und von Speiseresten gereinigt wurde. Auch der Kleidungsstil englischer gentry fiel mittlerweile an manchen Tagen ins eher Bäuerliche ab, sowohl was die Gewänder selbst betraf, die er anlegte, als auch ihre Sauberkeit.
Waren seine nicht sonderlich zeitraubenden Tagespflichten als Gutsherr und Gemeindemitglied beendet, die Besuche bei den Bauern zur Schafschur, das Abstecken zu fällender Bäume, ein Ritt zur Sägemühle, die gemeinsamen Bibelstunden und Bußrunden, saß Theodor gerne – wenn das Wetter es zuließ, bei offenem Fenster – in seiner Bibliothek und widmete sich der Lektüre und Korrespondenz. Durch seine anfängliche diplomatische Tätigkeit hatte der Briefwechsel überhand genommen und ersetzte Theodor mittlerweile die Reisen quer durch Europa. In einem einzigen Berthelsdorfer Jahr schrieb er mehr als in seinem ganzen vorangegangenen Leben und wartete auf eintreffende Briefe, Bücher- und Zeitschriftensendungen wie ein Verdurstender.
Er hatte den »Spectator« subskribiert, den »Patrioten«, er las Pamphlete, die ihm aus Paris zugeschickt wurden, ließ sich Popes Essay on Man kommen, studierte die alljährlich erscheinenden neuen Lieferungen von Brockes »Irdischem Vergnügen in Gott«, las fasziniert Reimarus’ »Thriebe der Tiere« und besaß ein schön gebundenes und vom Verfasser Mattheson persönlich signiertes Exemplar seines Romans »Des Ritter Ramsay Reisender Cyrus«.
Mit Zinzendorf, der selbst literarische Ambitionen hegte und an lyrischen Gebetstexten und Liedern feilte, die er bei Tisch verzückt vortrug, war, da der frischgebackene Autor keine anderen Autoren neben sich gelten ließ, kein Austausch über diese Lesefrüchte möglich. So blieb nur der Dialog mit den Verfassern selbst, sofern sie noch lebten und korrespondieren wollten, und natürlich mit Jane, die auch die einzige war, mit der er über das Gelesene herziehen konnte. Welch ein Genuß, ab und zu die Zügel der geistigen Reinheit, der christlichen Moral und der Wortwahl, die in Herrnhut sehr kurz gehalten wurden, schießen zu lassen und sich in Sarkasmus, Frechheit, Ungerechtigkeit, Spott und überspitzter Nachahmung zu ergehen, um sich in befreiendem Gelächter den Staub der humorlosen Gesittung aus den Kleidern zu klopfen.
Einen Mann fand Theodor einen Abend lang, mit dem ebendies auch möglich war, so wie es früher unter anderen, leichtlebigeren Himmeln jeden Tag möglich gewesen war, und zwar in Hamburg.
Wenn Theodor und Jane Reisen unternahmen in diesen Jahren, dann hauptsächlich um der Musik willen. So wie sie in der Dresdner Oper die Bordoni gehört, in London, wann immer Geld da war, in der Royal Academy of Music Händels neuen Werken gelauscht hatten, »Radamisto«, »Ottone« oder »Alessandro«, fuhren sie auch nach Hamburg und begegneten dort, anläßlich der Aufführung von »Pimpinone«, einer sahnigen, wie ein Hochzeitstörtchen mit Guß und Baiserhütchen verzierten Opera Buffa, dem Meister selbst, der nicht nur die Oper leitete, sondern auch Musikdirektor der fünf Hauptkirchen, Kantor am Johanneum und wer weiß was noch alles war.
Beim Souper danach scherzte Telemann selbst darüber: Ich habe drei Hüte zu Hause, ein Barett als Kirchenmusiker, eine Narrenkappe als Hofkomponist und als Operndirektor eine riesige Wollmütze, mit der ich nach den Vorstellungen durchs Theater gehe und milde Gaben sammle, damit uns nicht eines Tages der morsche Schnürlboden auf den Schädel fällt. Die Hamburger sind ein raffiniertes Volk, sie haben sich gesagt, ein Mann kann nur ein Gehalt verlangen, auch wenn er fünf Berufe ausübt, da dürfen sie sich denn auch nicht beklagen, wenn sich meine Orgelkonzerte anhören wie Tafelmusiken und die wiederum wie neapolitanische Opern... Aber das ist das Schöne an unserer mathematischen Kabbalistik, keiner traut sich, einem hineinzureden, weil niemand die Sprache der Musik beherrscht, jedenfalls keiner von denen, die unsereinen bezahlen. Was bin ich froh, kein Dichter zu sein. Jeder, der einmal das Alphabet gelernt hat, hält sich für berufen, ihm zu sagen, er beherrsche seine eigene Sprache nicht... Ich hoffe doch, Ihnen als Ehepaar ist die Geschichte nicht zu nahe getreten, aber ich versichere Sie: Der fette alte Pimpinone, das ist Hamburg, und die unschuldige Vespetta, das bin natürlich ich selbst... Im übrigen, haben Sie gesehen, womit das Hamburger Publikum sich in meinen Opern unterhält? Mit Kartenspielen!
Nicht alle, entgegnete Theodor. Drei der Herren an jenem Kartentisch blickten so fasziniert auf die Bühne, daß der Vierte in aller Ruhe seine Trümpfe aus dem Ärmel ziehen konnte!
Wie haben Sie das sehen können? fragte Telemann mit gespieltem Schmollen. Ich dachte, wenigstens Sie wären ein wahrer Melomane.
Das bin ich zu meinem Unglück auch. Ich war einer von den Dreien!
Der Musiker lachte. Leider bin ich nicht am Gewinn beteiligt.
Verglichen mit Venedig ist’s hier sehr zivilisiert, sagte Theodor. Dort wurden andere Geschäfte verrichtet während der Aufführung.
Nun ja, bei mir essen sie, und so lange, bis die Verdauung einsetzt, reichen meine Noten nicht.
Vielleicht mißverstehen sie ja den Ruf Telemanns als Gottes Leibmusikant...
Der Gastgeber verneigte sich lächelnd. Sein väterlich wohlwollender Blick auf das Stück Fleisch auf seiner Gabel machte auch den anderen Appetit. Er speiste gerne mit einer Handvoll ausgewählter Gäste, nicht zu vielen, so daß er die Übersicht behielt und mit jedem reden konnte. Er gehörte zu den Menschen, und das nahm Theodor sogleich für ihn ein, bei denen mit dem Erfolg auch die Bescheidenheit wächst.
Natürlich, erklärte er, sonst würden die Menschen einen mit Recht hassen. Glück haben und außerdem auch noch recht behalten wollen, das ist mehr als ein guter Christenmensch ertragen kann...
Beim Abschied sagte Telemann: Und lassen Sie sich auf keinen Fall entgehen, einmal den Kantor Bach in Leipzig zu hören. Ich halte große Stücke auf ihn und habe auch selbst das meine dazu getan, damit die Stadt ihn mit diesem Posten ehrt, für den sie eigentlich mich holen wollte. Aber was soll ich denn noch alles tun? Um so mehr, als er es besser kann als ich. Vergessen Sie’s aber nicht. Er ist wirklich ein konkurrenzloser Orgelvirtuose!
 
Es war ein Abend im Februar 1732, zu Beginn ihres sechsten Jahres in der Lausitz. Am Morgen war das hallende metallische Schreien in der Luft gewesen, und man war aus dem Haus getreten und blickte den fliegenden Pilgerzügen nach.
Da es in der Nacht geregnet hatte, lag ein intensiver Duft nach Humus und Gärung in der Luft. Der Sargdeckel der Erdkruste wurde porös, und erstes Grün brach durch. Die Zinzendorfs waren zum high tea zu Besuch gewesen, und trotz Nikolaus’ Sorgen mit der Regierung war die Unterhaltung angeregt und heiter verlaufen. Nun war das Paar abgefahren, und die Stunde der Fledermäuse schon vorüber. Im Kamin brannte ein Feuer. Der große, in blaßblauen und warmgelben Tönen gehaltene Salon lag im Flackerdämmer der spielenden Flammen. Der Hund trocknete im Halbschlaf vor dem Feuer, Schnauze und Körper flach am Boden, zusammengerollt, wie um sich möglichst dicht um sein eigenes Zentrum zu sammeln. Ab und zu, wenn es im Kamin knisterte oder leise knallte, schlug er ein Auge auf. Das Gesinde hatte sich zurückgezogen.
Jane saß in einem schwarzen Kleid auf der Chaiselongue und summte eine Melodie. Sie trug ihr Haar in einem Knoten, an den leicht ergrauenden Schläfen war es straff zurückgekämmt. Überwältigt von Zärtlichkeit, blickte Theodor auf diese in den warmen Kastanienton gewirkten Silberfäden. Auf ihrer Schläfe verlief unter der dünnen Haut eine bläuliche Ader. Seine schwarze Madonna. Er stand noch einmal seufzend auf und ging hinaus.
Der bestirnte Himmel zog ihn an wie ein tiefer Brunnen, über dessen Rand er blickte. Auf dem unteren Ende des Geländers saß, graziös und hochaufgerichtet wie ein Wappentier, Fry, und blickte aufmerksam in die Dunkelheit. Ohne ihn nach seiner Meinung zu fragen, griff Theodor ihn unter dem Bauch und trug den strampelnden und kratzenden Kater zurück ins Haus, schloß die Tür mit der Schulter, ließ mit dem Ellenbogen den Riegel ins Schloß fallen und setzte Fry ab. Der fauchte ärgerlich, trippelte dann aber mit aufgerichtetem, flammenzüngelndem Schwanz Theodor voraus, sprang auf einen Sessel im Salon, putzte sich, drehte sich zweimal um sich selbst und rollte sich zum Schlafen zusammen.
Einen Moment lang in der Tür stehend, bevor er sich wieder neben seiner Frau niederließ, nahm Theodor den friedlichen Anblick, der sich ihm bot, in sich auf.
Glück ist eine Perfektion von Bildern, die einen Moment lang harmonisch zusammenschwingen. Ein schmerzhaftes Aufblitzen des »Nu« und damit zugleich der Wunsch nach Stillstand und in der Flamme der Fülle der blaue Kern der Trauer über das Dahinschwinden des Augenblicks. Die Zukunft ist der Feind des Glücksmoments, obwohl sie seine Schöpferin ist.
Fühlt man sich dagegen unglücklich, dachte Theodor, schrumpft die Perspektive auf das Jetzt zusammen, man rollt sich gegen die Zeit wie ein verteidigungsbereiter Igel zusammen, um weniger Angriffsfläche zu bieten und kämpft sich vorwärts. Man hat seine stärksten vitalen Antriebe im Unglück.
Weißt du, woran ich denke? fragte Jane. An die Musik des Kantors Bach. Erinnerst du dich an jene Kantate »Vergnügte Ruh, beliebte Seelenlust«? Ich sage mir manchmal, das ist es, was Zinzendorf immer sucht und nie findet, nie finden kann...
Was, die vergnügte Ruh’?
Nein, ich meine das, was diese Musik mit dir tut und keine noch so guten Worte erreichen können.
Theodor erinnerte sich des Eindrucks, den die Töne des Leipzigers auf ihn gemacht hatten, und beim Versuch, diesen Eindruck in Worte zu fassen, mußte er plötzlich an die weit zurückliegenden ersten Tage in Madrid denken, als er fiebernd im Bett gelegen hatte: Larbi hockte bei ihm auf einem Stuhl und vertrieb sich die Zeit mit einem Geduldsspiel. Es ging darum, durch Drehen und Kippen der Oberfläche eines Holzkästchens Jademurmeln in dafür bestimmte Löcher zu bugsieren, und Theodor erinnerte sich daran, wie er im Fieber das endlose Klicken und Klacken der übers Holz rollenden Murmeln gehört hatte und Larbis Atem und geglaubt, er müsse sterben, gelänge es seinem Diener nicht, endlich Ruhe und Stille zu schaffen.
Und ganz so, als wären sein Hirn und seine Seele dieses Brett voll umherrollender Murmeln, die die Musik in ruhigen, klaren Bewegungen an den ihnen gemäßen Ort lenkte, hatte er damals St. Thomas verlassen.
Gehen wir schlafen, sagte er zu seiner Frau.