Zehntes Kapitel
Zunächst war nur das schrille Schreien zu hören,
von nirgendwoher, als sei die Luft selbst in schwingende Aufregung
versetzt. Die Bauern blickten von ihren Pflügen auf, die Katze
flüchtete mit an den Boden gedrängtem Leib ins Haus, der Hund
bellte, Jane kam auf die Terrasse gelaufen, und Theodor legte sein
Buch beiseite und trat an das Dachgaubenfenster seiner Bibliothek,
um zu sehen, was geschehen war.
Sehr hoch droben am Himmel verlief, wie mit feiner
Feder ins Blau gezeichnet, eine spitz zulaufende Welle. Sie bewegte
sich voran, dehnte sich aus, zog sich wieder zusammen und zitterte
im Licht. Das Schreien klang so nah, daß es kaum mit diesem vagen
Anblick zu tun zu haben schien. Dann kristallisierte die flimmernde
Welle sich zu einem Keil aus vielleicht vierzig Kranichen, der aus
Norden kommend und nach Süden zielend, weit, weit über ihren Köpfen
vorüberflog.
Schon waren sie über die schauenden Menschen
hinweg, übers Haus hin verschwunden, zogen schon über den nächsten
Hügel, auf dessen Kuppe, von Ulmen und Linden umstanden, das
Zinzendorf’sche Haus gebaut war, lösten sich in Lichtstaub
auf.
Kaum war die erste Formation außer Sicht, rauschte
wieder das helle Schreien auf, und mit dem Zugfernrohr jetzt unten
bei Jane auf der Terrasse stehend, blickte Theodor Richtung Norden
und sah den nächsten Schwarm wie ein im Wind flatterndes gegabeltes
Banner. Die schönen
gestreckten, langhalsigen Körper, der majestätisch ruhige,
rhythmische Flügelschlag. Die Spitze des Keils hielt in
vollkommener Ruhe Kurs, folgte zuversichtlich und blind ergeben
ihrem Instinkt in den Süden.
Insgesamt zogen an diesem Tag vier Gruppen vorüber,
einmal verformte der Keil sich zur Spirale, die führenden Vögel
verließen ihre Linie, und wie eine luftige Schleppe folgten alle
anderen dem Gekreisel. Der Schwarm wartete auf Nachzügler, drehte
einige Schleifen hoch über den zwei, drei Gutshäusern an den
Hügelflanken, dem kleinen Weiler mit der Kirche in der Senke, dann
stieg der Leitvogel steil nach oben, und aufgeregt schreiend
reihten die übrigen Kraniche sich in die Formation zurück,
hintereinander und leicht zueinander versetzt, und nahmen ihre
Route wieder auf.
Sie flogen schnell. Von dem Moment an, da man sie
im Norden erkennen konnte, bis zu ihrem Verblassen im verwaschenen
Blau des mittäglichen Himmels vergingen kaum zwei Minuten.
Jane blickte ihnen nach und sagte: Reisende über
dem Wind...
Dies war im Oktober ihres ersten Jahres in
Berthelsdorf. Ende Februar des folgenden hörten und sahen sie die
Kraniche wieder auf ihrem Rückflug in den Norden, und Theodor
fühlte sich wie ein Vater, der seine Kinder empfängt, die von
großer Reise heimkehren.
Die Jahre darauf war der freudige Schock natürlich
geringer, eine Epiphanie war die Musik der Kraniche nur jenes erste
Mal gewesen, aber in den späten Oktobertagen wirkte das Schreien
und das im kalten Wind über sie hinwegflatternde Banner wie das
Menetekel des bevorstehenden Winters, und der erste Schwarm unter
der tiefen Februar-Wolkendecke brachte Hoffnung auf das
Wiedererstehen des Lebens. Und jedesmal kam Theodor das Wort seiner
Frau in den Sinn: Reisende über dem Wind.
Schon der Tag ihrer Ankunft in Berthelsdorf war
denkwürdig verlaufen. Als der Kutscher sich durchgefragt hatte und
Theodor und Jane staubig, verschwitzt und mit zerschlagenen
Gliedern ausstiegen, wurden sie vor der Tür ihres zukünftigen Heims
von Zinzendorf und seiner Frau empfangen, die im Nieselregen Hand
in Hand unter dem Vordach standen und gewartet hatten. Sie kamen
zum Wagen und begrüßten das fremde Paar mit dem Bruderkuß; das war
verwirrend, brach aber zugleich das Eis. Daraufhin allerdings
umarmten sie auch den verblüfften Larbi und nannten ihn Bruder, so
daß Theodor ihn am späten Abend anzischte: Bilde dir keine
Schwachheiten ein. Du bist und bleibst mein Diener. Und der in den
Jahren der Intimität unverschämt und beredt gewordene Kabyle
verneigte sich und erwiderte: Für eine unbeträchtliche Erhöhung
meiner Bezüge verzichte ich auf jede mir von fremden Herrn ohne
Kenntnis der Realitäten angetragene Gotteskindschaft.
Der erste Tag, der mit der Besichtigung des Hauses,
des Hofs und einem Ritt durch die zugehörigen Wiesen und Wälder
ausgefüllt war, wurde im eine Meile entfernten Heim des Grafen
beendet, wo die Neuankömmlinge in den Kreis, der sich um Zinzendorf
geschart hatte, eingeführt wurden.
Die Freundschaft zu dem Gemeindegründer und seiner
Frau Erdmuthe Dorothea kam schnell und natürlich. Jane nannte die
Gräfin Zinzendorf, ihr auf ihre übliche Weise zunächst einen
Kosenamen und dann eine abgekürzte Version desselben verleihend,
rasch Dorothy – Erdmuthe, I can’t pronounce, entschuldigte
sie sich – und dann Dolly, und der Name hakte sich an seiner
Trägerin fest, bis sogar ihr Gatte, der Graf, ihn benutzte,
zumindest wenn man unter sich war.
Im ersten Jahr ihres Lebens in Berthelsdorf kam
Theodor seinem ursprünglichen Auftrag regelmäßig nach: dem
Zinzendorfer Projekt einer Gemeinschaft im Glauben und Leben
Gönner, Freunde, Adepten und Mäzene zuzuführen.
Er reiste nach Hamburg, Dresden und Wien, korrespondierte mit
Pietisten in Schwaben, Jansenisten in Paris, Kaufleuten, Adeligen,
Hamburger »Patrioten« und mit Universitätsprofessoren und tat, was
er am besten konnte – mit seinem Charme die Menschen für etwas zu
interessieren, was sie normalerweise keineswegs interessiert hätte,
sie für etwas zu erwärmen, dem die kalte Schulter zu zeigen nur zu
natürlich gewesen wäre. Doch je mehr Theodor selbst hineinwuchs in
Zinzendorfs seltsame kleine Welt aus Bruderküssen, Bibellektüre,
öffentlichen Bußbekenntnissen, manchmal am Rande der Lüsternheit
balancierender Gotteskinder-Ekstase und protestantisch genauer
Buchführung über die niederen Lebensbereiche, je mehr er und Jane
Bestandteil wurden dieser traut-internationalen Enklave, desto mehr
schlief seine Werbetätigkeit, seine Diplomatenrolle ein. Die Arbeit
eines inoffiziellen Außenministers der Gemeinde, die er ausgeübt
hatte, wurde überflüssiger, je geschmierter die Mechanik, die der
Gründer und Übervater in Gang gebracht hatte, abschnurrte.
Auch Zinzendorf fragte ihn schon nach kürzester
Zeit nicht mehr nach seinen Unternehmungen. Sie gehörten eben
einfach dazu, wie die übrige Handvoll adeliger Familien, die sich
rund um den hybriden kleinen Sprengel Herrnhut niedergelassen
hatten; alles Brüder im Geiste Jesu, Lutheraner, Pietisten,
liberale oder enttäuschte Katholiken wie er selbst und Jane, wenn
auch etwas privilegiertere Brüder als das Gros der mährischen
Siedler und Kleinsassen, die das eigentliche Dorf bildeten.
Theodors großes und stummes Werk in den
Berthelsdorfer Jahren war die Verwandlung der Zeit.
Ob man diese nun als das Rad einer Mühle sah, durch
das sich die Jahreszeiten drehten und in der die Tage zu feinem
Mehl zermahlen wurden, als eine Spirale, die in ihren
Kreisbewegungen sich langsam höher schraubte, hypothetischer
Vollendung und gewissem Tod entgegen, als eine
Parabel, einen Pfeilschuß, der in kühnem Bogen direkt auf das Herz
Jesu zielte, wie Zinzendorf es forderte, oder als eine Gerade, eine
Art Ameisenstraße, die man, eingeklemmt zwischen anderen, immer
weiter fort von den Anfängen, blind auf ein unvermeidliches
Verenden am Wegesrand zu entlangkrabbelte – welcher Glaube, welche
Sichtweise auch immer die richtige sein mochte, Theodor versuchte,
sich selbst und seiner Umgebung etwas anderes zu suggerieren.
Das Phänomen, daß die Augen aller dem Blick eines
einzelnen folgen, der einen unsichtbaren Punkt so eindringlich
fixiert, daß jedermann sein Licht dem Strahl dieses Schauens
beifügt und dieselben Bilder sieht, die der hypnotische Blick ins
Nichts gebrannt hat, war ihm seit langem bekannt, und manchmal war
es Theodor, als müsse er allein mit den Muskeln seiner Augen das
Rad, die Spirale oder den fliegenden Pfeil anhalten und in die
Bewegung zwingen, die er sich wünschte: die Bewegung eines
Pendels.
Die Zeit zu einem leichten, beiderseitigen
Ausschlagen über eine nur gedachte, lotrechte Achse machen, die ihr
geheimes statisches Herz und Heim ist.
Er war, anders als Vater und Mutter, dem Tod
entronnen, hatte es sich nicht in kalten Festungen auf der Brust
geholt, keine Cholera hatte ihn austrocknen und verfaulen lassen,
keine Pestbeulen waren ihm gewachsen, den Kanonenkugeln,
Bajonettstichen, dem Wundbrand und der Knochensäge des
Regimentsmedikus war er entgangen, die scharfen Krummesser der
Diebe und Mörder in nächtlichen Städten hatten andere durchbohrt,
die Ratten in der Bastille nicht ihn zu fressen bekommen, die
Folterbänke der Inquisition tränkte nicht sein Blut und sein
Schweiß. Er hatte die Vergangenheit überstanden und hier in
Berthelsdorf auch die Zukunft ihrer Gefahren beraubt, indem er sie,
das wilde Tier seiner ewigen Hoffnungen kastrierend, zu beständiger
Gegenwart zähmte.
Jetzt pendelte die Zeit ruhig hin und her, ihre
Ausschläge waren überschaubar, und in ihrem ruhigen Zentrum stand
er, Theodor Neuhoff, und führte ein kontemplatives Leben.
Es war eine Existenz, die an gewisse, zur Zeit
seiner Jugend im Park von Versailles veranstaltete Aufführungen
erinnerte, die lebenden Bilder, zu denen sich zur Verblüffung und
ästhetischen Freude der Betrachter die umhergehenden oder
-tanzenden Körper plötzlich, wie magnetisch zueinander gezogen,
zusammenfanden, um eine von Gemälden oder Skulpturen bekannte
mythologische Gruppe darzustellen.
Einige Sekunden lang verharrte ein solches Tableau
in vollkommener Bewegungslosigkeit und Stille, kaum daß man sah,
wie sich eine leise atmende Brust hob oder senkte; ein in der
Grimasse eines Lächelns oder Schreies erstarrtes Gesicht verlor
nach wenigen Augenblicken sein groteskes Aussehen, wenn einem, was
unweigerlich geschah, die Verbindung zu der Person, die man kennen
mochte, abhanden kam zugunsten der dargestellten Allegorie, und die
Illusion, noch vergrößert durch das kaum merkliche Beben der
Lebendigkeit, wurde zu einer Epiphanie, die man, eingebrannt in die
Netzhaut, weiter mit sich trug, wenn der Zauberbann sich
löste.
Theodor entwickelte sich zu einem Sammler solcher
lebender Bilder seines eigenen Lebens.
Dazu gehörten natürlich die »Reisenden über dem
Wind«, der erste Anblick der Kraniche samt dem Geruch nach Papier
in seiner Studierstube, als er Janes Ausruf hörte, ihre gegen die
Himmelshelligkeit zusammengekniffenen Augen, die Krähenfüße in
ihren Augenwinkeln, die panisch huschende Katze, der Geruch nach
Metall und Schmierfett seines Zugfernrohrs, die graubraune
aufgepflügte Oktobererde, die mit in die Hüften gestemmten hornigen
Händen in die Höhe blickenden Bauern in ihren Holzpantinen
und braunen Joppen, der gleichgültige Ochse im Joch, der Blick auf
das Zinzendorf’sche Anwesen, über das die Vögel hinwegzogen.
Ein anderes dieser lebenden Bilder war eine
Opernaufführung in Dresden, zu der sie allein gereist waren
(Zinzendorf war kein Liebhaber der italienischen Oper), bei der
Hasse selbst dirigierte und seine Frau Faustina Bordoni, von
Theodor, der sie seinerzeit im Hause Respighi kennengelernt hatte,
nach der Vorstellung herzlich begrüßt, die umjubelte Hauptrolle
sang. Es war keine königliche Aufführung, und im von Hunderten von
Kerzen erleuchteten Saal ging es wild zu. Damen wurden von ihren
Lakaien auf Sofas in den Saal getragen, Männer ließen ihre
Kartentische im hinteren Teil aufstellen, Tabakspfeifen und
Getränke wurden gereicht, in der Loge nebenan raschelten hinter
geschlossenen Vorhängen Kleider, und das Gestöhne erstarb erst, als
die Bordoni eine Dacapo-Arie gab, die Vorhänge rissen auf wie im
Marionettentheater, zwei rote Gesichter erschienen, und die
dazugehörigen Hände klatschten wie wild Beifall. Auf der Bühne
herrschte ein Prunk sondergleichen: Als sei der Weltuntergang nahe,
rasten Sonne und Mond über den Himmel, Pallas Athene schwebte in
ihrer Eulenkutsche durch die Lüfte, Jupiter und Apoll thronten in
den Wolken, die Unterwelt spie Geister und Ungeheuer aus ihrem
Rachen. Als im zweiten Akt einer der Vorhänge Feuer fing, entstand
Panik, aber einige beherzte Männer rissen das Tuch herunter,
trampelten darauf herum, und die Vorstellung konnte fortgesetzt
werden.
Die ganze Zeit über hielten Theodor und Jane sich
an den Händen, von ihrer Konzentration auf die Kunst in einer
Umgebung, wo jedermann sich nur unterhalten wollte, in eine
nobel-vergreiste Starre versetzt, blickten aufs Gewoge der Musiker,
das Spiel der Lichter auf den Geigenhälsen und Perücken und
lauschten der Stimme der Bordoni, ebenso gebannt jede ihrer
Koloraturen verfolgend
wie ihr Gatte, der die Aufführung vom Cembalo aus mit
behandschuhten Gesten steuerte.
Vor allem jedoch waren es stillere Bilder,
bukolische, pastorale Augenblicke des Friedens – Glücksprismen:
Jane in der großen Küche in einem taubenblauen Schürzenkleid, durch
das Kreuzfenster fiel Licht herein, in dem die Kalksteinmauern
safrangelb leuchteten, die von der Decke hängenden Körbe in ihren
abgestuften Tönen von Aschegrau über Kastanienbraun bis zur Farbe
reifen Weizens bildeten eine Art bauchiges Fischernetz, auf den
Regalbrettern reihten sich Steingutvasen und Käsesiebe aneinander,
neben dem Kamin hingen rötlich schimmernd die kupfernen
braseros, und Jane goß aus einem graublauen, zu ihrem Kleid
passenden Krug Milch in einen Becher. Einige Tropfen gingen daneben
und glänzten wie Perlen auf der gescheuerten Tischplatte, Janes
Kopf war leicht schräg gehalten, parallel zur Neigung des Krugs,
ihr Haar fiel links und rechts von ihrem Ohr hinab, das an eine
Kamee erinnerte.
Oder einer der ruhigen Abende am Kamin, wenn
draußen vielleicht noch, je nach Jahreszeit – die Stunde der
Fledermäuse war gerade vorüber – letztes Grillengezirp oder die
Triller einer Nachtigall ertönten. Jane saß, den Stickrahmen auf
den geschlossenen Knien, da, das Profil ihres Rükkens bildete,
hinauf zu den Schultern, dem Nacken, dem Hals, dem Hinterkopf, eine
feine, mit Kohlestift gezeichnete Linie, die Theodor
selbstvergessen mit einer Hand in der Luft nachzog. Er hatte einen
Packen Zeitschriften neben sich liegen und las ihr vor, zum
Beispiel aus dem »Hamburger Relations-Courir«, und sie blickte von
ihrer Arbeit auf und sah ihn aufmerksam an, mit leicht gehobenen
Brauen, die Lippen einen Spalt geöffnet.
In solchen Momenten mußte er an ihr lautes
Gelächter im engen Kreis der Männer in Madrid denken. Heute hatte
jenes Lachen einem zarten, verstehenden Lächeln Platz gemacht. War
sie auch glücklich? Sie sagte öfter: Aber ewig
bleiben wir nicht hier in dem Loch, dabei war sie es, die in der
Herrnhuter Schule unterrichtete, zweimal wöchentlich das Waisenhaus
besuchte, Rosenspaliere pflegte, die ein Menschenalter
überdauerten, und im Gegensatz zu ihm alle Bauern, alles Gesinde,
all die Herrnhuter Siedler und ihre Familien, all die Prediger mit
Namen kannte und auseinanderhielt, während er immer weniger
unternahm und ihr bei ihren schön und säuberlich ausgeführten
Tagesaktivitäten behaglich und beglückt zusah.
Sein Blick auf Jane ging in die Tiefe der Zeit, und
mit leisem Traumschrecken sah er sie, im schwarzen Kleid, das Haar
im Nacken verknotet, zwei leere Körbe in der Hand, mit
gefaßt-gelöstem Gesichtsausdruck aus dem Herrnhuter Waisenhaus
treten wie jede Woche – beinahe wäre er auf sie zugelaufen wie
damals, wie vor langer, langer Zeit, und hätte ihre Beine umfaßt
und den Kopf im raschelnden Stoff vergraben, beinahe spürte er die
kühle, ihn zur Beherrschung mahnende Hand auf seinem Schopf.
Woran denkst du? fragte Jane, wenn er zu lange ins
Leere starrte.
Daran, daß ich dich schon immer geliebt habe,
antwortete er.
Das ist schön, und woran noch?
An Nikolaus, sagte Theodor. Er übt sich so sehr in
Güte, daß er Schwielen an der Seele haben muß, wie andere, die zu
viel reiten, am Hintern.
Er stellte oft Vergleiche an zwischen der
Religiosität Zinzendorfs und der seines Schwagers Trévoux und
setzte die beiden dabei unwillkürlich wie ältere, ernsthafte
Menschen von sich selbst ab, mußte sich dann aber immer wieder ein
wenig schockiert ins Gedächtnis rufen, daß Nikolaus sechs Jahre
jünger war als er selbst. Er war es derart gewohnt, überall der
Jüngste oder doch zumindest der Jüngere zu sein, ein Knabe fast,
der räderschlagend an den Erwachsenen vorübertollte, die ihre
Arbeit zum Stillhalten
an einem Ort zwang, daß es ihm, der immer in der Erwartung gelebt
hatte, die Zukunft werde sein Schicksal einst in die ihm gemäße
Form gießen, kaum glaublich und erschreckend erschien, daß nun
schon Jüngere etwas Sichtbares, Funktionierendes, Geplantes erbaut
und geleistet hatten, während er seinem Götterparkett den
Landedelmann vorspielte und sich fragte, ob man ihm in seinem
Kostüm in England abgeschauter und aus England importierter Woll-
und Tweedstoffe, Filzhüte, Samtcordbreeches auch diesmal wieder zur
glücklichen Fügung seines Lebens gratulieren werde.
Trévoux las Augustinus und ging hinterher auf die
Jagd oder schlemmte. Er liebte die Begegnung mit großen Gedanken
wie andere Leute die mit großen Männern, als bliebe nach der
Umarmung etwas vom Glitzerstaub des Erhabenen auch auf seinen
Schultern zurück, er ergötzte sich an der Sprache der theologischen
Dichter und zitierte sie ausgiebig – und das genügte ihm.
Wohingegen Zinzendorf Lektüre als Aufforderung zu Tat und
Veränderung begriff. Sein Freund Nikolaus hatte die Bibel gelesen,
und diese Erfahrung erheischte, um es mit seinem Lieblingswort
auszudrücken, eine Reaktion. Und zwar eine, die übers Privatleben
hinausging. Nein, nicht nur eine Reaktion, eine Revolution. Etwas
die Welt und Gesellschaft Veränderndes und Voranbringendes, wobei
es sich erstaunlicherweise wie von selbst verstand, daß das eigene
erfüllte Leben beispielgebend sei für alle anderen.
Das machte es an gemeinsamer Tafel ein klein wenig
schwierig, den von Theodor bevorzugten Konversationsstil
durchzuhalten, ein geläufiges Parlando, bei dem man zwischen den
Bissen und Schlucken Aktuelles ansprach, um sich informiert zu
zeigen, dessen Wichtigkeit mit einem Bonmot sogleich relativierte,
über Lektüre plauderte, wobei nicht die Lektüre, sondern ihre
Schilderung geistreich zu sein hatte, über abwesende Bekannte mit
freundlichspitzzüngigem
Spott herzog, dem genossenen Mahl durch schön gewählte Worte Ehre
erwies und ansonsten nicht pedantisch bei einem Thema und einer
Meinung – vor allem nicht der eigenen – kleben blieb.
Gewiß, es mangelte Nikolaus und Dolly weder an
Bildung, an Geist noch an Freundlichkeit – im Gegenteil, von
Letzterer war vielleicht sogar zuviel da, die Freundlichkeit des
Grafen war überbordend, allen zugewandt und enthusiastisch
vereinnahmend, und oft genug äußerte sie sich in Tränen, was
Theodor bei Tische besonders widerwärtig war. Dabei waren diese
Tränen nur das Überlaufen einer gotterfüllten Seele, aber für den
Baron lag genau hier das Problem: Solange Gott diese Seele füllte,
war auch im Körper für nichts anderes Platz, und geriet Zinzendorf
ins Lobpreisen, ins spirituelle Extemporieren, wurden die
Kartoffeln kalt und der Zander matschig.
Du bist zu kritisch, meinte Jane. Es ist eben ein
Elan zu Gott hin, der ihn und sie alle beflügelt. Es ist die
Frische und der Überschwang der Anfänge. Der Drang nach einem
Durchbruch zu noch größerer Reinheit. Denk daran, daß seine
Glaubensbrüder ringsumher noch immer verfolgt werden. Erinnere dich
an die katholische Bleikammer Spaniens. Und findest du nicht, daß
es etwas Beneidenswertes hat, dieses
Sich-völlig-auf-eine-Spur-Werfen, diese jugendliche Liebe zu
Gott?
Gewiß, gewiß, sagte Theodor. Und ich schätze ihn ja
auch, aber es ist dennoch wahr, daß einer sehr selbstgewiß in
seinem Leben, in seinen Überzeugungen, ja, letztlich wie in einer
alten Rüstung in seinem Körper stehen muß, um mit so wenig
Selbstironie zu sprechen und zu handeln. Und zu richten! Weißt du,
es gibt Bruderküsse, die scheiden die Hierarchien strenger als
Stockhiebe.
Du bist überfeinert, Big Cat.
Mag sein, aber wer nicht an sich zweifelt, weiß
nichts von den Nuancen des menschlichen Herzens.
Warum sollte er übrigens nicht selbstgewiß in
seinem Körper stehen? sagte Jane. Dieser Körper ist nicht
häßlich...
Theodor verzog seinen Mund zu einem Lächeln.
Wollte sie doch nicht über Körper reden! Wie bei
Orpheus und Eurydike hing alles davon ab, sich nicht umzudrehen.
Ganz so wie seine Mutter in früherer Zeit den Hunger hatte
fortschweigen wollen, schien es Theodor heute der Preis ihres
Glücks, jede Thematisierung der Erotik zu vermeiden, es sei denn,
Zinzendorf streifte das Gebiet in einem seiner Sermone, da war es
so absurd, daß man darüber lachen konnte.
Dabei liebte und achtete er Janes Leib jedes Jahr
mehr, genoß den Anblick seiner schlanken Elastizität, freute sich
am Neigen ihres Kopfs, an der Haltung ihrer Arme, betrachtete
voller Rührung das langsame, gelassen ertragene Werk der Zeit auf
ihrer Haut, und je tiefer seine Kenntnis dieser Form und Hülle
wurde, ihres Geruchs, ihrer kleinen Leiden, ihrer
Empfindlichkeiten, desto mehr wuchsen sein Zartgefühl und seine
Achtung und desto mehr versiegte das Begehren.
Ihn selbst störte das so wenig, wie der Schiffer,
der endlich in ruhigem Wasser treibt, sich nach den Stromschnellen
zurücksehnt.
Denn es war ein seltsames Ding, über das er oft
grübeln mußte: Daß das Schamgefühl gegenüber dem anderen zugleich
mit der Liebe wuchs, anstatt abzunehmen.
Das laute, vulgäre Lachen auf dem Tisch war nur
noch ein fernes Echo im Nebel der Vergangenheit, ebenso wie die
Hemmungslosigkeit der ersten Tage, das chiliastische
Sich-Gehen-Lassen, das an keine Zukunft glauben darf.
Erinnerte er sich mancher Dinge, die sie noch in
London miteinander getan hatten, so stieg ihm die Röte ins Gesicht,
als hätte er ein fremdes Paar überrascht, und er sagte sich, daß er
zu dergleichen heute nicht mehr fähig wäre. Wie
sollten Menschen, die einander vertrauten, derartige
Indiskretionen mit ihrem eigenen und dem fremden Körper begehen und
sich zugleich in Liebe und Achtung in die Augen sehen ein Leben
lang? Denn Selbstachtung und Lust, Dauer und Lust, Liebe und Lust,
dies war Theodors seltsam traurig stimmende Erkenntnis, gehen im
Letzten und Tiefsten nicht zusammen.
Jane blickte erwartungsvoll auf seinen lächelnden
Mund, da schürzte er die Lippen und sagte: Ich fürchte nur, dieser
Körper ist schon vergeben...
Wie...? Aber natürlich. Um Himmels willen! Ich
wollte ja auch nicht sagen, daß...
Du irrst. Ich rede nicht von Dolly. Ich meine, er
ist unserem Herrn Jesu Christo geweiht.
Jane schüttelte lachend den Kopf: Du bist und
bleibst ein Närrchen, Big Cat.
Dieses Lachen war von der Art, in die er einstimmen
konnte.
Was übrigens die Körper betrifft, so war nicht zu
verhehlen, daß Theodor seinen eigenen in den Berthelsdorfer Jahren
etwas vernachlässigte: Zunächst einmal hatte er sich abgewöhnt, das
lästige Korsett zu tragen. Zu träge, sich täglich von Larbi
rasieren zu lassen, der unter der Hand mehr und mehr zu Janes
Diener wurde – da gab es einfach mehr zu tun -, ließ er sich einen
Bart stehen, der nicht zu jeder Tages- und Nachtzeit gekämmt und
von Speiseresten gereinigt wurde. Auch der Kleidungsstil englischer
gentry fiel mittlerweile an manchen Tagen ins eher
Bäuerliche ab, sowohl was die Gewänder selbst betraf, die er
anlegte, als auch ihre Sauberkeit.
Waren seine nicht sonderlich zeitraubenden
Tagespflichten als Gutsherr und Gemeindemitglied beendet, die
Besuche bei den Bauern zur Schafschur, das Abstecken zu fällender
Bäume, ein Ritt zur Sägemühle, die gemeinsamen Bibelstunden und
Bußrunden, saß Theodor gerne – wenn das
Wetter es zuließ, bei offenem Fenster – in seiner Bibliothek und
widmete sich der Lektüre und Korrespondenz. Durch seine anfängliche
diplomatische Tätigkeit hatte der Briefwechsel überhand genommen
und ersetzte Theodor mittlerweile die Reisen quer durch Europa. In
einem einzigen Berthelsdorfer Jahr schrieb er mehr als in seinem
ganzen vorangegangenen Leben und wartete auf eintreffende Briefe,
Bücher- und Zeitschriftensendungen wie ein Verdurstender.
Er hatte den »Spectator« subskribiert, den
»Patrioten«, er las Pamphlete, die ihm aus Paris zugeschickt
wurden, ließ sich Popes Essay on Man kommen, studierte die
alljährlich erscheinenden neuen Lieferungen von Brockes »Irdischem
Vergnügen in Gott«, las fasziniert Reimarus’ »Thriebe der Tiere«
und besaß ein schön gebundenes und vom Verfasser Mattheson
persönlich signiertes Exemplar seines Romans »Des Ritter Ramsay
Reisender Cyrus«.
Mit Zinzendorf, der selbst literarische Ambitionen
hegte und an lyrischen Gebetstexten und Liedern feilte, die er bei
Tisch verzückt vortrug, war, da der frischgebackene Autor keine
anderen Autoren neben sich gelten ließ, kein Austausch über diese
Lesefrüchte möglich. So blieb nur der Dialog mit den Verfassern
selbst, sofern sie noch lebten und korrespondieren wollten, und
natürlich mit Jane, die auch die einzige war, mit der er über das
Gelesene herziehen konnte. Welch ein Genuß, ab und zu die Zügel der
geistigen Reinheit, der christlichen Moral und der Wortwahl, die in
Herrnhut sehr kurz gehalten wurden, schießen zu lassen und sich in
Sarkasmus, Frechheit, Ungerechtigkeit, Spott und überspitzter
Nachahmung zu ergehen, um sich in befreiendem Gelächter den Staub
der humorlosen Gesittung aus den Kleidern zu klopfen.
Einen Mann fand Theodor einen Abend lang, mit dem
ebendies auch möglich war, so wie es früher unter anderen,
leichtlebigeren Himmeln jeden Tag möglich gewesen war, und zwar in
Hamburg.
Wenn Theodor und Jane Reisen unternahmen in diesen
Jahren, dann hauptsächlich um der Musik willen. So wie sie in der
Dresdner Oper die Bordoni gehört, in London, wann immer Geld da
war, in der Royal Academy of Music Händels neuen Werken gelauscht
hatten, »Radamisto«, »Ottone« oder »Alessandro«, fuhren sie auch
nach Hamburg und begegneten dort, anläßlich der Aufführung von
»Pimpinone«, einer sahnigen, wie ein Hochzeitstörtchen mit Guß und
Baiserhütchen verzierten Opera Buffa, dem Meister selbst, der nicht
nur die Oper leitete, sondern auch Musikdirektor der fünf
Hauptkirchen, Kantor am Johanneum und wer weiß was noch alles
war.
Beim Souper danach scherzte Telemann selbst
darüber: Ich habe drei Hüte zu Hause, ein Barett als
Kirchenmusiker, eine Narrenkappe als Hofkomponist und als
Operndirektor eine riesige Wollmütze, mit der ich nach den
Vorstellungen durchs Theater gehe und milde Gaben sammle, damit uns
nicht eines Tages der morsche Schnürlboden auf den Schädel fällt.
Die Hamburger sind ein raffiniertes Volk, sie haben sich gesagt,
ein Mann kann nur ein Gehalt verlangen, auch wenn er fünf Berufe
ausübt, da dürfen sie sich denn auch nicht beklagen, wenn sich
meine Orgelkonzerte anhören wie Tafelmusiken und die wiederum wie
neapolitanische Opern... Aber das ist das Schöne an unserer
mathematischen Kabbalistik, keiner traut sich, einem hineinzureden,
weil niemand die Sprache der Musik beherrscht, jedenfalls keiner
von denen, die unsereinen bezahlen. Was bin ich froh, kein Dichter
zu sein. Jeder, der einmal das Alphabet gelernt hat, hält sich für
berufen, ihm zu sagen, er beherrsche seine eigene Sprache nicht...
Ich hoffe doch, Ihnen als Ehepaar ist die Geschichte nicht zu nahe
getreten, aber ich versichere Sie: Der fette alte Pimpinone, das
ist Hamburg, und die unschuldige Vespetta, das bin natürlich ich
selbst... Im übrigen, haben Sie gesehen, womit das Hamburger
Publikum sich in meinen Opern unterhält? Mit Kartenspielen!
Nicht alle, entgegnete Theodor. Drei der Herren an
jenem Kartentisch blickten so fasziniert auf die Bühne, daß der
Vierte in aller Ruhe seine Trümpfe aus dem Ärmel ziehen
konnte!
Wie haben Sie das sehen können? fragte Telemann mit
gespieltem Schmollen. Ich dachte, wenigstens Sie wären ein wahrer
Melomane.
Das bin ich zu meinem Unglück auch. Ich war einer
von den Dreien!
Der Musiker lachte. Leider bin ich nicht am Gewinn
beteiligt.
Verglichen mit Venedig ist’s hier sehr zivilisiert,
sagte Theodor. Dort wurden andere Geschäfte verrichtet während der
Aufführung.
Nun ja, bei mir essen sie, und so lange, bis die
Verdauung einsetzt, reichen meine Noten nicht.
Vielleicht mißverstehen sie ja den Ruf Telemanns
als Gottes Leibmusikant...
Der Gastgeber verneigte sich lächelnd. Sein
väterlich wohlwollender Blick auf das Stück Fleisch auf seiner
Gabel machte auch den anderen Appetit. Er speiste gerne mit einer
Handvoll ausgewählter Gäste, nicht zu vielen, so daß er die
Übersicht behielt und mit jedem reden konnte. Er gehörte zu den
Menschen, und das nahm Theodor sogleich für ihn ein, bei denen mit
dem Erfolg auch die Bescheidenheit wächst.
Natürlich, erklärte er, sonst würden die Menschen
einen mit Recht hassen. Glück haben und außerdem auch noch recht
behalten wollen, das ist mehr als ein guter Christenmensch ertragen
kann...
Beim Abschied sagte Telemann: Und lassen Sie sich
auf keinen Fall entgehen, einmal den Kantor Bach in Leipzig zu
hören. Ich halte große Stücke auf ihn und habe auch selbst das
meine dazu getan, damit die Stadt ihn mit diesem Posten ehrt, für
den sie eigentlich mich holen wollte.
Aber was soll ich denn noch alles tun? Um so mehr, als er es
besser kann als ich. Vergessen Sie’s aber nicht. Er ist wirklich
ein konkurrenzloser Orgelvirtuose!
Es war ein Abend im Februar 1732, zu Beginn ihres
sechsten Jahres in der Lausitz. Am Morgen war das hallende
metallische Schreien in der Luft gewesen, und man war aus dem Haus
getreten und blickte den fliegenden Pilgerzügen nach.
Da es in der Nacht geregnet hatte, lag ein
intensiver Duft nach Humus und Gärung in der Luft. Der Sargdeckel
der Erdkruste wurde porös, und erstes Grün brach durch. Die
Zinzendorfs waren zum high tea zu Besuch gewesen, und trotz
Nikolaus’ Sorgen mit der Regierung war die Unterhaltung angeregt
und heiter verlaufen. Nun war das Paar abgefahren, und die Stunde
der Fledermäuse schon vorüber. Im Kamin brannte ein Feuer. Der
große, in blaßblauen und warmgelben Tönen gehaltene Salon lag im
Flackerdämmer der spielenden Flammen. Der Hund trocknete im
Halbschlaf vor dem Feuer, Schnauze und Körper flach am Boden,
zusammengerollt, wie um sich möglichst dicht um sein eigenes
Zentrum zu sammeln. Ab und zu, wenn es im Kamin knisterte oder
leise knallte, schlug er ein Auge auf. Das Gesinde hatte sich
zurückgezogen.
Jane saß in einem schwarzen Kleid auf der
Chaiselongue und summte eine Melodie. Sie trug ihr Haar in einem
Knoten, an den leicht ergrauenden Schläfen war es straff
zurückgekämmt. Überwältigt von Zärtlichkeit, blickte Theodor auf
diese in den warmen Kastanienton gewirkten Silberfäden. Auf ihrer
Schläfe verlief unter der dünnen Haut eine bläuliche Ader. Seine
schwarze Madonna. Er stand noch einmal seufzend auf und ging
hinaus.
Der bestirnte Himmel zog ihn an wie ein tiefer
Brunnen, über dessen Rand er blickte. Auf dem unteren Ende des
Geländers saß, graziös und hochaufgerichtet wie ein Wappentier,
Fry, und blickte aufmerksam in die Dunkelheit. Ohne ihn nach
seiner Meinung zu fragen, griff Theodor ihn unter dem Bauch und
trug den strampelnden und kratzenden Kater zurück ins Haus, schloß
die Tür mit der Schulter, ließ mit dem Ellenbogen den Riegel ins
Schloß fallen und setzte Fry ab. Der fauchte ärgerlich, trippelte
dann aber mit aufgerichtetem, flammenzüngelndem Schwanz Theodor
voraus, sprang auf einen Sessel im Salon, putzte sich, drehte sich
zweimal um sich selbst und rollte sich zum Schlafen zusammen.
Einen Moment lang in der Tür stehend, bevor er sich
wieder neben seiner Frau niederließ, nahm Theodor den friedlichen
Anblick, der sich ihm bot, in sich auf.
Glück ist eine Perfektion von Bildern, die einen
Moment lang harmonisch zusammenschwingen. Ein schmerzhaftes
Aufblitzen des »Nu« und damit zugleich der Wunsch nach Stillstand
und in der Flamme der Fülle der blaue Kern der Trauer über das
Dahinschwinden des Augenblicks. Die Zukunft ist der Feind des
Glücksmoments, obwohl sie seine Schöpferin ist.
Fühlt man sich dagegen unglücklich, dachte Theodor,
schrumpft die Perspektive auf das Jetzt zusammen, man rollt sich
gegen die Zeit wie ein verteidigungsbereiter Igel zusammen, um
weniger Angriffsfläche zu bieten und kämpft sich vorwärts. Man hat
seine stärksten vitalen Antriebe im Unglück.
Weißt du, woran ich denke? fragte Jane. An die
Musik des Kantors Bach. Erinnerst du dich an jene Kantate
»Vergnügte Ruh, beliebte Seelenlust«? Ich sage mir manchmal, das
ist es, was Zinzendorf immer sucht und nie findet, nie finden
kann...
Was, die vergnügte Ruh’?
Nein, ich meine das, was diese Musik mit dir tut
und keine noch so guten Worte erreichen können.
Theodor erinnerte sich des Eindrucks, den die Töne
des
Leipzigers auf ihn gemacht hatten, und beim Versuch, diesen
Eindruck in Worte zu fassen, mußte er plötzlich an die weit
zurückliegenden ersten Tage in Madrid denken, als er fiebernd im
Bett gelegen hatte: Larbi hockte bei ihm auf einem Stuhl und
vertrieb sich die Zeit mit einem Geduldsspiel. Es ging darum, durch
Drehen und Kippen der Oberfläche eines Holzkästchens Jademurmeln in
dafür bestimmte Löcher zu bugsieren, und Theodor erinnerte sich
daran, wie er im Fieber das endlose Klicken und Klacken der übers
Holz rollenden Murmeln gehört hatte und Larbis Atem und geglaubt,
er müsse sterben, gelänge es seinem Diener nicht, endlich Ruhe und
Stille zu schaffen.
Und ganz so, als wären sein Hirn und seine Seele
dieses Brett voll umherrollender Murmeln, die die Musik in ruhigen,
klaren Bewegungen an den ihnen gemäßen Ort lenkte, hatte er damals
St. Thomas verlassen.
Gehen wir schlafen, sagte er zu seiner Frau.