Sechstes Kapitel
Theodor wußte, was er nicht war, ein Gelehrter und Denker, und auch, was er nicht werden wollte: ein Leutnant der französischen Armee. Aber wie es mit ihm gemeint sei und ob es notwendig wäre, Schale für Schale von seiner Zwiebelseele abzuziehen, um es herauszufinden, das war ihm schleierhaft.
Der Gedanke, das Webmuster seiner Existenz fertig vor sich zu sehen und es nur noch in lebenslangem Hin und Her ausfüllen zu müssen, war unerträglich. Wozu hatte man ihn wie einen jungen Falken erzogen, wenn er jetzt als infanteristisches Rebhuhn durch die staubigen Niederungen des Alltags hüpfen sollte?
Das Leutnantssalär war erbärmlich, wenn auch völlig ausreichend, um auf eine bescheidene und vorsorgende Hausväterart sogar eine Familie zu ernähren. Im übrigen lag die Zukunft eines Leutnants relativ klar vor Augen: In zehn Jahren konnte man Oberleutnant, in zwanzig Hauptmann werden, kam ein Krieg und zeichnete man sich aus – und verlor kein Bein und keinen Arm dabei, verreckte nicht am Wundbrand, erblindete nicht an Pulververbrennungen, ging nicht an Dysenterie oder Umnebelung zugrunde -, sogar noch vor dem Ruhestand Major oder gar Oberst. Dann zog man sich auf sein Gut in die Provinz zurück und starb.
Nur besaß Theodor weder Gut noch heimatliche Provinz. Er hatte den Eindruck, die ganze Welt stehe ihm offen, aber überallhin gehen zu können, bedeutet zugleich, nirgendwohin zu gehören. Und bei näherem Hinsehen bestand die Welt, die er überblicken konnte, aus einer Unzahl palisadenumzäunter Krautgärtchen.
Die Menschen, mit denen er sprach, um sich seiner selbst klarer zu werden und sich vielleicht von einem von ihnen inspirieren zu lassen, waren in der Zitadelle ihrer religiösen, geistigen, materiellen oder sexuellen Identität verschanzt, in der man sie zwar besuchen, aus der man sie aber nicht herauslocken konnte.
Wie ein feiner Handschuh glitten Theodors Sprache und seine Gesten, seine Haltung und Überzeugung über die seines jeweiligen Gegenübers, und für die Dauer eines Gesprächs glich er sich ihm an – wenn auch nie anders, als wie gewisse Insekten pflanzliche Formen und Strukturen nachahmen und sich für das Auge nicht mehr von ihnen abheben; diese Wesen wollen ja keine Blätter werden!
Von einer ältlichen Dame de Ferjol bei Hofe erfuhr er Tieferes über die Gedanken des Jansenismus als bei Pascal selbst, aber wehe, Theodor deutete auf eine Gruppe sich amüsierender Tänzer: Da schlug sie das Kreuz und spuckte beinahe aus. Vom Grafen von Sully lernend, hätte er eine Kapazität in Pferdezucht werden können, kam er aber, um ein wenig Atem zu schöpfen, auf Bücher zu sprechen, verwies der Adlige ihn an seine Frau und rümpfte die Nase. Ein Pariser Richter wiederum, in dessen bewundernswerter Bibliothek er sich von all dem Pferdemist erholte, lud ihn nicht wieder ein, nachdem Theodor seine Verliebtheit in eine Frau erwähnt hatte. Der Richter machte ein Gesicht, als hätte er in einen sauren Apfel gebissen, lehnte sich mit abwehrend verschränkten Armen in seinen Sessel zurück und erklärte, der Gast müsse sich schon entscheiden, was ihm mehr bedeute, der Geist oder die Weiber und das Kindermachen.
Mit Mortemart, den er in Versailles ab und zu wiedersah, konnte Theodor zwar gesprächsweise vom Hölzchen aufs Stöckchen kommen, aber alles, worüber der précieux zu reden wußte, klang wie aus einem seiner Übungshefte auswendig gelernt, was es ja auch war, und seine déformation professionelle bestand darin, daß er, ewig auf der Suche nach Schwächen seiner Mitmenschen, die sich in bonmots verwandeln ließen, an überhaupt niemandem auf Erden ein gutes Haar lassen konnte.
Theodor kam zu dem Schluß, daß es nur Brunnen und Wattenmeere gab, die einen tief, aber eng und übelriechend, die anderen unüberschaubar, aber seicht.
So weit war er mit seinen Überlegungen gediehen, als der König starb. Wie man hörte, beliefen sich die französischen Staatsschulden auf rund zwei Milliarden Livres, die laufenden Ausgaben auf einhundertvierundachtzig Millionen. Theodor empfand keine moralische Verpflichtung, sparsamer zu leben als das Gemeinwesen. Wenn er sich durch seine Verbindlichkeiten so unmöglich machen sollte, daß er gezwungen war, außer Landes zu gehen, entging er vielleicht seiner Offizierskarriere.
Mit einer gewissen Gemütsruhe und Schicksalsergebenheit hoffte er auf ein Wunder. Ein solches ist aber nichts als das glückhafte Zusammentreffen eines Zufalls mit einer inneren Bereitschaft, und diese Bereitschaft war die einzige Aktivität, zu der er sich gefallen konnte.
Am Vorabend seines Einzugs ins Regiment lag er auf dem Bett, sein Diener Larbi hockte draußen vor der Tür und kaute die Nägel bei dem Gedanken, seinem Herrn in die Armee folgen zu müssen. Theodor hatte keine Pläne, außer zu schlafen, bis entweder Rettung nahte oder der Tag allgemeinen Vergessens anbrach. Er war schon halb eingenickt, als sein Bursche klopfte und Besuch meldete.
Ein hochgewachsener Mann in einem schwarzen bodenlangen Umhang und mit ebenso schwarzem Dreispitz, von dem ein Schleier herabhing, der das Gesicht verschattete, wehte in den Salon; der zukünftige Leutnant bewohnte mittlerweile eine größere Wohnung in der Rue de Grenelle, die noch kaum eingerichtet war, da die Spielgewinne von der Mietanzahlung aufgezehrt worden waren. Theodor empfing den merkwürdigen Gast im Hausmantel und schickte Larbi nach Sherry, aber der Unbekannte wollte sich nicht setzen. Offenbar spielte er ein ernstes Spiel, dessen Glaubwürdigkeit unter jeglichem Sich-in-die-Behaglichkeit-sakken-Lassen gelitten hätte.
Automatisch veränderte Theodor Körperhaltung, Blick, Gestik und ehrte die Theatralik des Gastes mit beeindrucktem Erschrecken.
Monsieur, begann der andere, der die Sache nun fast etwas zu weit trieb, indem er ostentativ die Stimme verstellte, und spätestens jetzt erkannte Theodor, dem Abbé Conconi gegenüberzustehen, einem Berater des Regenten selbst, einem der Männer von Guillaume Dubois.
Monsieur, man dient Ihnen von hoher, aber ungenannt bleibender Stelle einen Auftrag an.
Theodor neigte den Kopf und wies auf einen der Sessel, den der Abbé nun doch, niedergedrückt von der Last seiner Mission, annahm, ebenso wie einen Sherry. Den kaute er ausgiebig und erklärte, es handle sich darum, eine geheime Depesche unerkannt nach Den Haag zu bringen, sie unbemerkt einem bestimmten Menschen zu übergeben, dessen Name in einem zweiten versiegelten Brief genannt werde, und den Anweisungen dieses Herrn sodann Folge zu leisten, zum Besten, wie der Abbé schloß, von König und Vaterland.
Erstaunt bemerkte Theodor, nicht über die Maßen erstaunt zu sein. Er mußte gar nicht recht zuhören, noch weniger nachdenken, es stand gleich im ersten Moment fest, daß er den Auftrag annehmen werde, obwohl er sich hinterher manchmal fragte, ob überhaupt die Möglichkeit bestanden hätte, ihn abzulehnen.
Viel zu groß war seine existentielle Dankbarkeit, ganz offenbar nicht um irgendwelcher Verdienste und Äußerlichkeiten willen erwählt zu werden, nicht weil er sich darum bemüht und danach angestanden hätte, sondern einfach, weil er er selbst war, weil seine Person als solche für würdig befunden wurde.
Diese Dankbarkeit schloß zugleich die Undenkbarkeit ein, der Auftrag könne irgend etwas Routinehaftes oder Banales, Allerweltsmäßiges besitzen – verhielte es sich aber tatsächlich so, würden sein Selbstverständnis und seine Phantasie schon dafür sorgen, ihn zumindest in der Erinnerung zu beeindruckendem Format zu verhelfen – ein großer Charakter, ein Schicksal beweist sich nicht nur in der Konfrontation mit großen Hindernissen, sondern darin, jede Mücke nicht etwa zum Elefanten zu machen, sondern zutiefst als Elefanten zu erleben.
Nach diesen Erwägungen hörte er wieder hin, was der Abbé erzählte, und bekam mit, man habe ihn aus zwei Gründen ausgesucht, einmal, da er der deutschen Sprache mächtig sei, und zum andern, weil er ein völlig unbekanntes Gesicht habe, ein unbeschriebenes Blatt sei.
Ich will Ihnen nicht verhehlen, Monsieur, daß Sie, sollte Ihre Mission entdeckt werden, auf keinerlei Unterstützung zu zählen haben und ganz auf sich selbst gestellt sein werden. Ein Scheitern müßten Sie zweifelsohne mit dem Leben bezahlen.
Hier ließ sich Theodor dann doch wiederholen, was genau von ihm erwartet wurde und geriet in seinem Hausmantel ein wenig ins Schwitzen. Zum Schluß, das Beste hatte er sich für den Schluß aufgehoben, sprach der Verschleierte vom Lohn.
Der Auftrag wurde, hälftig sofort, hälftig nach erfolgreicher Ausführung, mit einer Summe entgolten, die fünf Jahresgehältern eines Leutnants beim Régiment d’Alsace entsprach, und, wie Theodor rasch nachrechnete, einem Jahresgehalt eines Greifswalder Professors.
Er ließ sich erklären, wo er sich am nächsten Morgen zur Aushändigung der Briefe und des Geldes einzufinden habe, verabschiedete, das Inkognito des Abbés mühevoll bis zur Wohnungstür respektierend, den Boten und sank dann in seinen Sessel, zum Platzen voll von Lust, über dieses Wunder zu reden, allen davon zu erzählen und mit dem Geld und dem Ruhm auf die angenehmste, nämlich beiläufig selbstironische Art zu prahlen. Das aber, und dies fiel als einziger Wermutstropfen in seine Euphorie, war unmöglich.
Wieder ein wenig bei Besinnung, begannen sich dann aber doch Zweifel zu melden. In einer halben Stunde hatte er, ohne abzuwägen, ohne zu zögern, seine gesicherte Zukunft über den Haufen geworfen und seinem Leben eine vollkommen andere, gestern noch nicht für möglich gehaltene Richtung gegeben.
Hatte er womöglich den gleichen Fehler begangen wie sein Vater, der einen Moment gedankenloser Kühnheit mit Erniedrigung und frühem Tod bezahlen mußte? Lag nicht ein bequemes, laues Glück in der Soldatenlaufbahn und das Wohlgefühl, den Plänen des Grafen Mortagne bis zum Schluß brav und wortgetreu gefolgt zu sein?
Erschüttert bemerkte er, ahnungs- und vorbereitungslos den ersten wirklichen Kreuzweg seines Lebens erreicht und gewählt zu haben. Er, der nie in die Lage hatte kommen wollen, wählen zu müssen.
Larbi, morgen reisen wir nach Holland. Sorge für Pferde und kümmere dich ums Gepäck.
Und was machen wir in Holland? fragte der Diener.
Geld anlegen, erwiderte Theodor. Die Antwort kam ohne Zögern.
Theodors Plan hatte sich so schnell und natürlich geformt, daß von einem Plan eigentlich schwerlich die Rede sein konnte. Er würde seinen Agentenlohn als mütterliches Erbe ausgeben, das er, der junge, unternehmungslustige Freiherr, auf dem Weg ins heimische Westfalen in Den Haag anzulegen gedachte.
Um sein aufgewühltes Inneres zu beruhigen, besuchte er die Vesper in der Klosterkirche von St. Germain und betete für die Seele seiner Mutter, für seine Schwester und für den Grafen von Mortagne, seinen Gönner, dem er nun nicht die Freude und Genugtuung bereiten würde, die Leutnantsuniform überzustreifen, und den er damit vor den Kopf stieß, wie man nur Menschen, denen man etwas schuldet, brüskieren kann.
Er bat um das Gelingen seiner Mission und vor allem um sein Überleben. Er sah sich dabei zu, der heilige Ernst und das inbrünstige Knien paßten vortrefflich zu einer Zukunft im Dienste unbekannter, aber zweifelsohne hoher Ideale.
Auch eine gewisse Großherzigkeit gehörte dazu, fand er, und da die Gedanken an Mortagne ihn auf Monsieur De Broglie brachten, an dem er gesündigt hatte, entschloß er sich, diese Tat zu sühnen, um sein neues Leben reinen Herzens beginnen zu können. Er schrieb seinem alten Lehrer noch am selben Abend einen Brief, in dem er warm von seiner Schulzeit sprach und dem er einen großzügigen Wechsel beilegte, der sich angesichts seines Honorars leicht verschmerzen ließ.
Auf dieses Schreiben erhielt Theodor übrigens Monate später auf Umwegen eine Antwort von De Broglies Witwe, voll überschwenglichen Dankes für die Gabe, die ihr und ihren halbwaisen Kindern in höchster Not zu Hilfe gekommen war. Er hatte von einer Familie seines Lehrers nie etwas geahnt, der Graf jedoch mußte darüber Bescheid gewußt und Theodors Anschuldigungen daher als freche Lügen durchschaut haben. Dennoch hatte er De Broglie entfernt und kein Wort darüber verloren.
Das Haus, in das man Theodor bestellt hatte und das er am nächsten Morgen betrat, war unauffällig, ebenso der Raum, in dem vier Männer ihn empfingen. Sie benahmen sich sehr förmlich und musterten ihn, als seien sie erschreckt über seine Jugend. Der Wortführer wurde von den übrigen »Herzog« genannt.
Auf einem Tisch stand ein kupferschimmerndes Holzgehäuse, auf das der Herzog jetzt deutete. Sie wissen wohl nicht, fragte er gönnerhaft, was das hier ist? Und die übrigen Männer blickten sich fein lächelnd an.
Doch, gewiß, versetzte Theodor blasiert und ohne den Tisch eines weiteren Blicks zu würdigen. Das ist eine Leibniz’sche Staffelwalzen-Rechenmaschine. Das einzige Exemplar in Paris.
Eine was? rief der Herzog. Wie kommen Sie denn auf den Gedanken, daß wir eine Rechenmaschine hier stehen haben, Baron?
Nun ja, sagte Theodor, diese Rechenmaschine ist die Zukunft, und hier geht es doch wohl um die Zukunft.
Die Männer sahen einander an, als hätte er ein Staatsgeheimnis ausgeplaudert, das ihnen vorenthalten worden war.
Obwohl die Staffelwalze demnächst vom Sprossenrad ersetzt werden wird, fuhr Theodor fort, eine Entwicklung, die ich selbst, wie ich in aller Bescheidenheit anmerken darf, mit Rat und Tat begleitet habe. Was wollen Sie, meine Herren, die Zukunft ändert sich eben von Tag zu Tag. Im übrigen ist zuviel Respekt nicht angebracht. Pascals Satz von den Sechseckseiten in einem Kegelschnitt läßt sich damit schwerlich beweisen.
Ja, die Zukunft, Pascal, der Respekt, stotterte der Herzog. Sie sind wohl Mathematiker, Baron?
Oh, nur ganz nebenbei. Es ist sozusagen eine Liebhaberei von mir. Eigentlich halte ich es mehr mit empirischen Studien als mit der Theorie, was wohl auch der Grund ist, daß Sie, meine Herren, mich hergebeten haben.
Ganz recht, ganz recht, aber was nun diese Maschine hier betrifft, so muß ich Sie enttäuschen.
Der Herzog blickte Theodor schuldbewußt an, und der konnte feststellen, daß sein Ton viel respektvoller geworden war.
Was Sie hier vor sich sehen, Baron, ist lediglich ein Chiffrierapparat. Allerdings auch der erste seiner Art. Ein für das Verschlüsselungssystem von Monsieur de Vigenère konstruierter Kryptograph. Wir müssen die Briefe, die Sie transportieren sollen, schließlich sichern.
Natürlich, beeilte Theodor sich zu antworten. Wo habe ich meinen Kopf? Sie müssen gesichert werden. Mit einem Kryptographen. Womit sonst?
Als präsumptiver Wissenschaftler wurde Theodor im Eilverfahren ins System der mithilfe eines Schlüsselworts verknüpften sechsundzwanzig Cäsar-Alphabete eingeführt, und dachte danach betäubt: Das ist einmal nützliche Mathematik. Sofern es überhaupt Mathematik ist.
Das Schlüsselwort kennen nur Sie, Baron, es wird nirgendwo notiert, Sie müssen es im Kopf behalten und dann dem Adressaten mitteilen, damit er mit seiner Hilfe den Brief ins reine schreiben kann. Welches Wort möchten Sie wählen?
Amélie, sagte Theodor, und die Herren lächelten einander wissend zu und entließen ihn.
 
Es war Theodors erste Fahrt ins Ausland, und die Lust auf die Seereise von Boulogne nach Holland, die Lust, fremde Länder und Städte zu sehen, mischte sich mit einer gewissen Bangigkeit und dem Wunsch, alles bereits hinter sich zu haben und darüber reden zu können.
Am Abend im Gasthof in Amiens setzte er einen Brief an seine Schwester auf. Neben dem weißen Papier lag das geöffnete zweite Schreiben seiner Auftraggeber, in dem der Name des Mannes stand, den er im Haag aufsuchen sollte: des holsteinischen Kammerherrn Georg Heinrich Reichsfreiherr von Görtz, Minister seiner Majestät des Königs von Schweden, zur Zeit in einem Gefängnis in Den Haag einsitzend und auf seine Auslieferung nach England wartend. Es ging also gegen England.
So jung und unerfahren und letztlich desinteressiert Theodor eigentlich an Politik war, hatte er doch in den Gesprächen in Paris und bei Hofe sich ein Bild von den abgrundtiefen Niveauunterschieden zwischen der französischen und der englischen Diplomatie machen können, so daß er von den Intrigen, in denen er selbst nun plötzlich ein kleines Rädchen war, keine hohe Meinung hatte. Für die Engländer müßte man arbeiten, sagte er sich, da geht es ungleich vernünftiger und moderner zu.
Sie hatten einen Agenten in Amiens sitzen und einen weiteren in Boulogne, Theodor erkannte ihn sofort, als er dort eintraf, und hätte er selbst ein bekanntes oder verdächtiges Gesicht gehabt, er wäre ihrer Aufmerksamkeit nicht entgangen. Doch war er mit ganzer Seele der junge plauderhafte Erbe, der sein Geld anlegen wollte, so sehr, daß er sogar den kompromittierenden Brief in seiner Tasche vergaß – vermutlich die bestmögliche Tarnung.
Die Engländer, soviel wußte er, wünschten Görtz’ Auslieferung, weil Schweden die kürzlich gescheiterte Stuart’sche Landung begünstigt und mitfinanziert hatte, hinter der noch König Ludwig selbst steckte. Obwohl Theodors Neugierde erfahren wollte, in welchem Spiel er einer der Bauern war, kam es ihm doch sowohl klüger als auch sicherer vor, sein gutes Geld vorerst mit nichts anderem zu verdienen als seinem Auftrag: einer diskreten Botenrolle.
In Boulogne, mit Blick auf den Mastenwald, das Ächzen von Holz auf Holz im Ohr, die Nase erfüllt vom durchdringenden Geruch nach Tang und Teer, schrieb er, ein Dominospiel mit Larbi unterbrechend, an dem Brief für seine Schwester weiter: Alles, was ich mir wünsche, ist vierzig zu sein und genügend Geld angesammelt zu haben, um mich irgendwo auf dem Land zur Ruhe setzen zu können. Ein erster Anfang ist gemacht, und wenn ich weiterhin soviel Glück habe und mir nichts zustößt, kann ich das Abenteurerdasein bald hinter mir lassen. Ich beneide dich um dein so wohlgeordnetes Leben und hoffe nichts inniger, als meinen kleinen Neffen Friedrich endlich einmal in die Arme schließen zu können...
Er knüllte das Papier zusammen und warf es auf den Haufen, um neu zu beginnen: Geliebte Amélie! Der erste Schritt zum Ruhm ist getan! Nur dies: Ich bin im Begriff, mit den wichtigsten Politikern Europas von gleich zu gleich um die Zukunft des Landes zu verhandeln. Der Glanz der internationalen Bühne blendet ungeheuer, aber du weißt, ich sehe auch da klar, wo andere im Dunkeln tappen. Das einzige, was ich noch erreichen muß, ist selbst gehört zu werden. Sobald du ein wenig Einblick ins Räderwerk der Diplomatie gewinnst, wird dir bewußt, von welchen Zufällen und Eitelkeiten wir regiert werden, wo es doch genügen würde, einem klaren, unbestechlichen Blick ebensolche Taten folgen zu lassen... Ich habe vor, in Amsterdam, wo ich erwartet werde, ein großes Schaukelpferd für den kleinen Friedrich zu erwerben, einen Schimmel mit echter Mähne und rotledernem Zaumzeug...
... Meine einzige Schwester! Das verregnete flache Grün hier, die Viehweiden und Brüche und die Salzschwaden in der Luft, das graue, endlose, sich in sich selbst bewegende Meer sind mir so fremd, und ich denke mit Wehmut an unsere Kinderheimat zurück, den umfriedeten Garten, die Gerüche, die Baumblüte, die Wolkenschatten auf den Hügeln, den sicheren dunklen Hort des Hauses, die Gesänge in der Kirche, unsere Spiele. Es will mir nicht in den Kopf, daß das alles vorüber sein soll und man immer nur nach vorn lebt, weg von allem Liebgewonnenen, fort von aller Sicherheit. Geht es dir nicht auch so, daß die Dinge erst geschehen sein müssen, um sie sehen, riechen, besitzen zu können? Empfindest nicht auch du, daß das wahre Leben, das wir überschauen und in seiner ganzen Würze erleben können, tragischerweise das ist, welches unwiderbringlich hinter uns liegt, und daß der Versuch, uns auf die ungewisse Zukunft einzustellen – eine Situation, als müsse man den Fechtangriff eines Unsichtbaren parieren -, uns alle Muße raubt, zu sehen und zu erleben, was heute passiert? Glücksmomente kenne ich nur in der Erinnerung oder der Hoffnung auf später. Hast du es gelernt, den Augenblick und die Freude, die Freude und das Bewußtsein von ihr in eins zu setzen? Aber was frage ich: Du bist Mutter...
 
Alles gelang so mühelos, daß es Theodor selbst verdächtig vorkam. Er war zwar niemand, der von der Mühsal eines Tuns auf ihren Wert schließt und schließlich das Quälende selbst schon als Qualität empfindet, aber der hohe Lohn, den er empfangen hatte, wollte dennoch von einigen Schwierigkeiten gerechtfertigt werden, damit nicht der Eindruck entstand, eine Tätigkeit ausgeführt zu haben, die unter der eigenen Würde lag, die auch ein Geringerer hätte besorgen können.
Aber jeder Tag und jeder Schritt verlief ungestört und unbeschwert. Er mietete ein Schiff an, stand bei seiner ersten kurzen Seereise über die kabbelige graue Kanalsee, immer in Sichtweite der Küste, am Bug, ließ die Gischtspritzer wie ermunternde Ohrfeigen in sein Gesicht und gegen sein Lederzeug klatschen und hatte dabei das Gefühl, sich zu verjüngen, zu reinigen – der Kontakt mit den Elementen, sofern er nicht titanisch und gefährlich ist, hat für einen Menschen, der hauptsächlich in geschlossenen Räumen lebt, ja fast immer einen derartigen Effekt. Er kam in dem bescheidenen Hafen an, bestieg die Kutsche nach Den Haag, fand Unterkunft in einer sauberen Herberge – jeder Schritt und jeder Tag glückte wie von Zauberhand, kein Hindernis und keine Gefahr waren sichtbar, und in seine Euphorie mischte sich mehr und mehr Angst.
Er kannte die alten Mythen gut genug, um zu wissen, daß die Schicksalserwählten, die Glückskinder und Unsterblichen ihre Flügel mit kurzem Leben und blutigem Tod bezahlen und daß die Götter nur den leben lassen, der sie langweilt.
Vielleicht sollte er einer Krankheit zum Opfer fallen, das ungesunde Klima mit all den brackigen Gewässern machte eine Ansteckung wahrscheinlich. Daher befahl Theodor Larbi noch im Hafen, bei einem fahrenden Apotheker eine Art ellenlanger Klistierspritze zu erstehen, aus der ein Mittel gegen Krankheiten aller Art bei geschlossenen Fenstern im Zimmer versprüht werden mußte.
Nach der ersten Behandlung stank Theodors Gemach derart, daß beiden die Augen tränten und Larbi zugleich die Fenster aufreißen und ein Feuer im Kamin gegen die eindringende Kälte anfachen mußte.
Herr, glauben Sie wirklich an diesen Unfug, für den Sie einen Gulden bezahlt haben?
Keineswegs, mein lieber Larbi, nicht mehr als du. Aber es beruhigt mich, dieses widerwärtige Zeug zu versprühen, es beruhigt meine Nerven. Es ist eine Aktivität, und irgend etwas muß ich tun, um nicht nichts zu tun.
Aber womöglich ist es dieses Zeug, das uns erst krank machen wird!
Nicht von der Hand zu weisen! Aber dann wissen wir wenigstens, woran wir leiden, und eine Krankheit, deren Ursachen man kennt, ist beruhigender als eine Gesundheit, die jeden Augenblick, ohne daß man sich’s versieht, in Krankheit umschlagen kann.
Maître, manchmal verblüfft Eure Logik mich.
Mein lieber Larbi, ich würde selbst nicht viel für sie zahlen, aber im Moment haben wir eine derartige Glückssträhne, daß ich sicher bin, die Götter unter dem Kinn kraulen zu können, und sie werden um meinetwillen ein Auge zudrücken.
Kaum hatte er erfahren, daß Görtz recht komfortabel in einem der Gebäude des Binnenhofs in Hausarrest saß, ließ er sich als einen entfernten Verwandten ankündigen und plauderte mit einem Wachhauptmann so sorglos und naiv über das Soldatenleben, wobei er ein preußisches Dragonerregiment den Platz des Régiment d’Alsace einnehmen ließ, daß er sofort die Erlaubnis erhielt, seinen »Vetter« zu besuchen.
Görtz war ein massiger Mann Ende Dreißig. Er saß in einem mehr hohen als weiten Zimmer an einem Schreibtisch und blickte kurz auf, als Theodor hereingeführt wurde. Sein roter, großporiger Hals wuchs aus einem weißen Spitzenkragen über einer mattschimmernden schwarzen Weste. Das Haar war rotblond, der Bart ebenso, der Blick umfaßte die Szenerie sogleich und schien sich doch auf das Wesentliche zu konzentrieren, in diesem Fall den fremden, ihm als Cousin aus Westfalen gemeldeten Gast. Unter seinen Nasenlöchern lagen dunkle Schatten vom Schnupftabak.
Ah, da ist ja der Vetter... (Blick auf den Wachmann) Wir müssen uns nicht mehr gesehen haben, seit Sie ein Knabe waren! Lassen Sie sich umarmen...
Theodor war beeindruckt. Er trat in den Dunstkreis des Mannes ein und atmete den Duft von Macht und Willen ein, der nach Schnupftabak, Schweiß und am Vorabend genossenem Kohl roch. Wie zur Bestätigung ließ der Minister einen krachenden Wind fahren, und Theodor, an die Versailler Sitten gewohnt, wäre beinahe vor Scham in Ohnmacht gesunken. Statt dessen lächelte er mit schmalen Lippen.
Sobald die Wache verschwunden war, erklärte er sich in wohlgesetzten Worten, zog den Brief aus der Innentasche, reichte seinem Gegenüber das De Vigenère’sche Schema und nannte sein Schlüsselwort. Danach sah er stehend zu, wie Görtz mit seinen dicken Fingern den Umschlag aufriß, oder besser: in Stücke riß.
Er hatte eigentlich erwartet, über den Inhalt aufgeklärt zu werden, aber nichts dergleichen geschah. Lächeln, Nikken, Schnupfen, Wegräumen, Aufatmen, Niesen, dann neuerliche Konzentration. Theodor sah dem Mann an, daß er soeben ein Kapitel abgeschlossen hatte und dabei war, ohne sich mit Nachbetrachtungen aufzuhalten, ein neues aufzuschlagen.
Diesen sichtenden, aussortierenden, ordnenden und wertenden Geist neidete der junge Mann dem älteren auf der Stelle, sah sich auch gleich die den Denkprozeß illustrierende Gestik ab, spürte aber mit einer gewissen Reserve, an jemanden geraten zu sein, dessen Machtmagnetismus die anderen an sich zog und benutzte. Theodor mußte sich zurückhalten, nicht mit einer geschönten Version seiner Lebensgeschichte herauszuplatzen, um dem Größeren, bevor der daran gehen konnte, ihn sich zu Diensten zu machen, Achtung vor seiner Persönlichkeit zu verschaffen.
Ist Ihnen eigentlich klar, daß die britische Krone hundert Agenten laufen hat, um Sie abzufangen? fragte Görtz jetzt. Wissen Sie überhaupt, daß eine Hilfe Orléans’ wie diese hier erwartet wurde und daran gehindert werden sollte, mich zu erreichen? Hier im Land habe ich Freunde, aber der erwartete Agent sollte gar nicht erst bis ins Land gelangen. Mein Kompliment, junger Mann. Wie haben Sie das gemacht?
Theodor preßte die Kiefer aufeinander, um sie daran zu hindern, zu einem erstaunten »Oh!« auseinanderzuklaffen, faßte sich sogleich und antwortete lächelnd: Nun ja, mit der Zeit lernt man, die Gefahr zu riechen und ihr auszuweichen. Ich hatte eine höchst unterhaltsame und angenehme Reise. (Hier kam ihm aus unerfindlichen Gründen das Bild der riesigen Klistierspritze in den Sinn.)
Sie wirken noch sehr jung, Monsieur. Wie alt sind Sie?
Zweiundzwanzig.
Wieder Kopfnicken, Mustern, Schnupfen. Dann eine Handbewegung: Setzen Sie sich. Ich habe einen Auftrag für Sie.
Später dachte Theodor lächelnd an diesen Augenblick zurück, der, soweit er sah, der einzige gewesen war, in dem er nach einem Honorar für die Mission hätte fragen können, welche, ginge es nach Wichtigkeit, zehnmal so teuer hätte bezahlt werden müssen wie die erste. In diesem solennen Moment jedoch hielt er es einfach für wenig elegant, den Schwung der Dinge mit einer Geschmacklosigkeit wie dem Schachern um Geld zu bremsen. Im übrigen hatte er Görtzens Ausführungen konzentriert gelauscht, um bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit ein möglichst faszinierendes, komisch-dämonisches Charakterbild von ihm zeichnen zu können und Lacher und Bewunderung auf seiner Seite zu wissen. Aber während er sich von den Komplimenten des schlauen Fuchses becircen ließ, nutzte der seine Eitelkeit, um ihn kostenlos für seine Sache arbeiten zu lassen.
Aus gehörigem Abstand sagte Theodor sich aber, hätte er, vor die Wahl zwischen Komplimente und Geld gestellt, in jedem Fall die Komplimente gewählt.
Am nächsten Tag reiste er mit Larbi, noch immer in seiner Rolle als Erbe, nach Amsterdam weiter, wo er dank eines Empfehlungsschreibens Görtzens im herrschaftlichen roten Giebelhaus des Ständerats Van Boon an der Herengracht Logis fand.
Ihm fiel auf, daß es in seinem Zimmer keine Vorhänge gab, und er sprach den Hausherrn darauf an.
Sie werden in keinem ehrlichen Haus der Stadt Vorhänge sehen, sagte der.
Handelt es sich um eine Tradition oder ein Gelübde wie bei den venezianischen Gondeln?
Keineswegs. Wir haben einfach nichts zu verbergen. Wir brauchen uns nicht zu verstecken. Aber wenn Sie es wünschen, lasse ich in Ihrem Zimmer Vorhänge anbringen. In Versailles, wo Sie herkommen, diesem Ort der Unzucht, ist es nur zu verständlich, sich vor den Blicken anderer zu verstecken. Die dunklen Machenschaften der Papisten verlangen es geradezu.
Der Ton van Boons, dessen nobler Adlerkopf von einer Art Doppelschnabel aus Hakennase und vorspringendem Kinn beherrscht wurde, fiel nicht etwa aus dem Rahmen. Soviel Liberalität und Freiheit wie in Amsterdam war in Paris unvorstellbar. Unzensierte religiöse Pamphlete zirkulierten, man rüffelte offen die Monarchen, es gab nichts, worüber nachzudenken, zu reden und zu mäkeln verboten war.
An einem der ersten Tage spazierte Theodor in Begleitung des Ständerats über den Blumenmarkt zum Dam. Der hohe Herr ging, mit freundlichem Gleichmut seinen Hut ziehend, an Ratsherren ebenso vorüber wie an den mit schwärenden Wunden im Straßenstaub dahinsiechenden Bettlern oder beinlosen Geigern auf ihren Rollwägelchen.
Theodor, dem der Anblick des Elends immer ein schlechtes Gewissen machte, warf ihnen eine Münze zu, der reiche Van Boon gab keinen Heller.
Es ist nicht gottgefällig, so elend zu sein, erklärte er.
Warum schafft man sie dann nicht von der Straße? fragte Theodor.
Oh, wir sind hier toleranter als die Franzosen, meinte der Kaufmann. Sie haben auch ein Recht zu leben.
Während die Tage im gediegenen Amsterdam vergingen und Theodor in Görtz’ Auftrag seine Verhandlungen führte, gärte es in ihm immer heftiger, seine Geschichte publik zu machen, sein Spiel aufzudecken, um im bewundernden Abglanz in den Augen der anderen etwas davon zu haben, daß er kein kleiner Leutnant in französischen Diensten geworden war.
Seine zwei Schrankkoffer voll modischer Kleider und Accessoires waren beständig geöffnet, und er verbrachte ganze Vormittage damit auszuwählen, um eine so elegante wie auffällige Verpackung für sein Selbstbewußtsein zu finden. In dieser opulenten Takelage, dieser odaliskenhaft sinnlichen Zurschaustellung von gekämmter Wolle und Damast, Seide, Batist, Brüssler Spitze und feinstem Leder ging er dann auf die Straße und erbitterte sich über das holländische Phlegma allem und jedem und ganz besonders ihm gegenüber. Ohne seine Mission zu gefährden, konnte er nicht mit den guten Gründen für seine Aufmachung herausplatzen. Je länger ihm der Mund verschlossen war, desto mehr provozierte ihn das calvinistisch gemäßigte Schwarz-Weiß, und er wünschte sich, zu erleben, daß auch die Menschen hier sich einmal gehen ließen.
Der Wahrheit die Ehre zu geben, meinte er mit »Menschen« eigentlich hauptsächlich seine Wirtin, Mijfrouw Els van Boon, die kühle und sehr viel jüngere zweite Gattin des bereits einmal verwitweten Ständerats. Ihre stattlichen Formen ähnelten ein wenig denen der Valentini, aber ihr Gesicht war gröber gezeichnet, sozusagen eher mit dem Kohlestift als mit dem Rötel.
Er war sich fast sicher, daß ihm die immer in Schwarz gekleidete Els, die sich, wenn er plauderte, mit dem Gebetbuch gähnend in eine Ecke zurückzog, um es in den Worten eines Versailler Höflings und Jesuiten auszudrücken: »die Instrumente zeigte«.
Ob es sich tatsächlich so verhielt oder nur Theodor so vorkam, sei dahingestellt, aber er hätte schwören können, daß die Dame des Hauses in seiner Gegenwart zwei-, dreimal verborgene Stellen ihrer Haut sehen ließ, was man kaum anders denn als eindeutige Einladungen an seine Beherztheit auffassen konnte: ein sekundenlanges weißes Schimmern der bloßen Fessel zwischen Rocksaum und Schuh, der muttermalsdunkle Ansatz eines Brustwarzenhofes im blitzartig verrutschten Dekolleté. Und einmal kneteten ihre langen Finger in seiner Gegenwart voller Insistenz den Lehnenknauf ihres Sessels...
In den Gesprächen, die er in einem Kabinett van Boons mit russischen Ratsherren führte, schweiften seine Gedanken immer wieder ab, um sich mit der Frage zu beschäftigen, welche Lösung für seine Not es geben mochte. In den politischen Dingen sah er mittlerweile klar: Der wirkliche Grund für Görtz’ Anwesenheit in Holland war, mit dem derzeit in Amsterdam weilenden russischen Zaren über Konditionen eines möglichen Friedens zu verhandeln. Der schwedische Minister, der noch immer komfortabel in Den Haag festsaß, hatte ein Schreiben für den Zaren aufgesetzt, das Theodor persönlich übergeben sollte, wozu er jedoch zunächst eine Bresche in die Reihen der russischen Beamten schlagen mußte, mithilfe von Charme und Genever.
Als er dem zukünftigen Kaiser schließlich gegenüberstand, einem kleinen Mann in Schwarz, kleiner als Els Boon, schoß es ihm durch den Kopf, mit langem dünnem Haar, hängendem Schnurrbart und einem Mittelscheitel, auf dessen weißer Trennlinie Schuppen flockten, schrumpfte im Vergleich mit der Aura dieses Mannes die imposante Figur des schwedischen Ministers ins Zwergenhafte.
Pjotr Alexejewitsch stand in der schrägen, staubdurchwölkten Lichtbrücke, die durchs Fenster einfiel, die Hände im Rücken verschränkt, auf den Ballen wippend, konzentriert, flankiert von zwei Schreibern oder Sekretären, die auf Holzplatten gespanntes Papier vor der Brust hielten.
Er lauschte Theodors Worten, der vergeblich versuchte, durch die straffe Schutzhülle des Mannes zu dringen und eine gemeinsame Basis der Konversation zu schaffen. Einmal sprach Theodor zufällig etwas an, das den Zaren interessierte, es war, als werde ein Licht in dessen Augen entzündet, und er begann zu reden und holte Theodor kurz aus, ließ aber nach wenigen Minuten enttäuscht ab, wie es schien. Er hatte über Fakten sprechen wollen, Theodor um des Redens willen, das war nicht genug.
Das Gespräch mit dem großen Mann war zu konkret, um mit seinem à-peu-près-Stil bestritten werden zu können. Man benötigte Fachwissen, um sich mit ihm zu verständigen. Beleidigt sagte Theodor sich, daß der Zar mit Sternhart lieber geredet hätte als mit ihm, auch wenn ein stures, widderhaftes und für jeden Außenstehenden todlangweiliges Fachgesimpel über Schiffbau und Konstruktionsphysik dabei herausgekommen wäre.
Meine Zeit ist gemessen, sagte der Russe, ich danke für Ihre Ausführungen, und streckte die Hand aus, in die Theodor Görtz’ versiegelten Brief legte. Dann wurde er entlassen.
Während er sich noch über sich selbst und den schroffen, ihm überlegenen Mann (immerhin keine Zeugen!) ärgerte, fiel ihm ein, was er tun würde. Er würde ein Fest ausrichten. Im Hause Boon. Ein Fest zu Ehren seiner Gastgeber. Ein gigantisches Fest. Eine Orgie bei den Calvinisten.
Welch eine Idee! Was lag ihr zugrunde? Wollte Theodor, durch die Begegnung mit dem Zaren erniedrigt, die Zwecklosigkeit der eigenen Existenz in hedonistischem Exzeß hochleben lassen? Brauchte er den großen Rahmen, um Els van Boon im Auge des Sturms ungestört zu verführen? Glaubte er, nur so seine Erhöhung und sein Glück demonstrieren zu können, oder trieb ihn vielmehr eine heimliche anarchische Lust, das Erreichte zu zerschlagen, die fünf Leutnants-Jahressaläre auf einen Schlag zu verpulvern und mit leeren Händen dazustehen, um erst im Begreifen, nichts mehr zu haben, verstehen zu können, was er besessen? War es Angst, schon am Ziel zu sein, und der Glaube, nur die Hoffnung treibe das Leben voran, wo aber Ergebnisse und Abschlüsse sich einstellten, könne Hoffnung nicht mehr gedeihen? Oder war es vielleicht ein etwas infantiler Protest gegen die beängstigende calvinistische Philosophie des gottgefälligen Erfolgs. Denn um mit Mortagne zu sprechen: Erfolg war ein Grund, sich zu schämen.
Das Fest fand am Ende der achten Woche von Theodors Amsterdamer Aufenthalt auf drei Etagen des Van Boon’schen Patrizierhauses statt und versammelte über zweihundert Gäste.
Theodor hatte ein Orchester und ein ganzes Theater aus Paris kommen lassen, um ein Schäferspiel mit Ballett aufzuführen. Er hatte faßweise burgundischen Rotwein und tausend Flaschen Champagner bestellt. Zwei Rinder wurden in dem hohen Kamin im Erdgeschoß gebraten, eine ganze Wagenladung Hühner und Täubchen traf flatternd und schreiend in der Herengracht ein.
Larbi war tagelang in der Stadt unterwegs, um Einladungen zu überbringen, und hatte darüber hinaus den Auftrag, fünfzehn der schönsten Prostituierten königlich auszustatten, auf zunächst dezentes Betragen einzuschwören und sie unter die Gäste zu mischen. Meterhohe Tücher und Draperien wurden genäht, um die Wände und Fenster zu verhängen und Atmosphäre zu schaffen, Hunderte von Kerzen gegossen, die den Eindruck erweckten, man treibe durch ein Meer geschmolzenen Goldes.
Die Sehnerven der Gäste wurden bis zur Hysterie strapaziert von schwirrenden Aufwärtern, schwellenden Blumenarrangements, wogenden Orchesterperücken, sichelnden Bögen und walnußfarbenen Geigenkörpern, von gebauschtem Tuch, leuchtenden Damastdecken und schimmerndem Geschirr voll gelbbraun krossen Geflügels. Ein Geruchsgemisch aus Gebratenem und Gebackenem, Punsch und Likör, Parfum und Blumenduft und Kerzenwachs und schwitzender Menschendichte exaltierte ihre Nasenschleimhäute. Die zunächst noch klar auseinanderzuhaltenden Klangwelten verdichteten sich, indem der Abend voranschritt, zu einem Gebrumm, wie ein Schlagflüssiger es im Kopfe hört.
Einige wenige Gäste entkamen beizeiten und retteten sich in die nüchterne Amsterdamer Nachtluft. Die übrigen aber speisten und redeten und gerieten, je länger der Abend dauerte, desto stärker in den Bann dieser katholisch-sinnlichen Walpurgisnacht, über die Theodor herrschte, in Schwarz und Weiß gekleidet, ein heilig-nüchterner Mephistopheles mit leuchtenden Augen, der immer noch ein Gericht auftragen ließ und noch mehr von dem ungewohnt schweren Wein in die Kehlen der Patrizier kommandierte.
Das Schäferspiel mit seinen schwülen Ballettszenen griff auf die Zuschauer über, Hände und Münder verselbständigten sich, die Musik wurde schrill und wieder einschmeichelnd und wieder kreischend, die Würde der Gäste zerfiel in lüstern trunkener Sinnlichkeit, kippte in Hysterie, die erst im alkoholisierten Koma zur Ruhe kam. Halb entblößte neben- und aufeinander eingeschlafene Menschen, denen die Schminke zerlaufen war, deren helle Hemdbrüste rote Weinflecken verunzierten, lagen zusammen mit entbeinten Hühnchen und abgenagten Hammelkeulen auf der Walstatt. Verdauung und Schlaf senkten sich über die endende Nacht, durch die eine Hafenhure mit einem Jahresgewinn zurück an ihre Arbeit trippelte, unwirsch die Atlasschleppe ihres moosgrünen Kleids hinter sich herzerrend wie ein bockendes Hündchen an der Leine. Herr van Boon war am Ehrentisch, den er den Abend über nicht verlassen hatte, den Kopf auf der Eichenplatte von dunkelgrünen leeren Flaschen bewacht, die Arme um zwei schnarchende Damen gelegt, schon vor Stunden eingeschlafen. Aufwärter füllten die liegengebliebenen Speisen in Kartoffelsäcke, ein Geiger und ein Spinettist musizierten noch immer, mit geschlossenen Augen, mechanisch wie Spieldosen, der dünne Klang hallte gespenstisch durchs Haus.
Dies war Theodors Stunde. Durch die sich wellenden Tüllbahnen schien die graue Helligkeit des anbrechenden Tags hindurch.
Er hatte viel getanzt und geplaudert, aber nicht mit Els van Boon, nur so, daß sie es sah. Mehrere Male im Vorübergehen hatten ihre Kleider sich berührt, und er spürte in den Fingerspitzen, daß sie auf ihn wartete. Jetzt trat er zu ihr, die ihn aus geröteten Augen zwischen Trunkenheit und Traum schlaff und sinnlich zugleich anstierte. Er schloß die Augen, die letzte Grenze der Fremdheit, der Weg bis zur äußersten Indiskretion mußte sich von selbst überbrücken. Er fühlte sich wie angesaugt, öffnete die Augen, die Patriziergattin hatte schlafschwere Arme um ihn geschlossen. Sie setzte sich auf den Tisch, öffnete die Beine, hob ihr Kleid mit beiden Händen hoch, hielt es mit dem Mund fest, die nackten Schenkel schmatzten auf der weinfeuchten Tischplatte, ihre Arme legten sich wie Bleigewichte auf seine Schultern, ihre Beine schlossen sich um seinen Rücken, sie zog ihn an sich, öffnete den Mund, und das Kleid fiel über den Moment ihrer Vereinigung.
Als sie sich wortlos voneinander lösten und ihre Toilette in Ordnung brachten, las Theodor zu seiner größten Befriedigung in den Augen Els van Boons eine Art staunendes Grauen, in dessen Zentrum die schmalen Pupillen müde, katzenhafte Genugtuung signalisierten.
Hier zumindest, sagte Theodor sich, würde man ihn nicht so schnell vergessen.
Im frühen Morgen begleitete Theodor den Großkaufmann Jacob Cats, bei dem er die Lieferungen für das Fest in Auftrag gegeben hatte, nach Hause. Cats war wie aufgedreht, seine rechnende Seele und seine von Calvins Ketten befreite Lebenslust, die nicht anders konnten, als die denkwürdige Nacht in einem erregten Wortschwall zu kommentieren, kamen sich dabei ständig ins Gehege.
Theodor bilanzierte launig: Amsterdam war ein gutes Pflaster für Geld und Geschäfte. Und wenn man ein wenig nachhalf, auch fürs Vergnügen. Seine fünf Jahresgehälter steckten in der Tasche des Mannes, der neben ihm ging und der ihn nie mehr vergessen würde. Er war mittellos, schwerelos, voller guter Hoffnungen. Am selben Tag wurde der Baron Görtz aus seinem Arrest entlassen, fuhr nach Amsterdam und bot Theodor an, sein Privatsekretär zu werden. Der hatte das Gefühl, sich für diesmal aus Amsterdam verabschieden zu sollen, und willigte ein.
Die Reise gehe nach Mecklenburg, erklärte Görtz. Was sein Gehalt sei, fragte Theodor. Der große, bärtige Mann sagte es ihm. Es entsprach einem Leutnantssalär beim Régiment d’Alsace.