Siebtes Kapitel
An der Seite des Barons von Görtz ritt Theodor durch endlose Ebenen nach Norden. Eine taubengraue Wolkendecke war von Horizont zu Horizont gespannt, beulte sich im Osten schwer und dunkel aus und hing bis auf die schwarzen Felder durch. Dort regnete es. Es war ein eisiger Regen, und der Wind, der über die flache Landschaft blies, zauste das graugrüne Gras wie ein Fell.
Manchmal fiel der Regen in dicken Tropfen, die wie Hagelkörner auf der Stirn zerplatzten, manchmal fein gesiebt, durchdrang die Kleidung und maserte das horizontale Gefüge der Natur mit silbriger, diagonaler Schraffur. Sie kamen an schwarzen, abgebrannten Stoppelfeldern vorüber. Aus einem Bruch stieg mit schwerem, nassem Flügelschlag ein Bussard. Bewässerungskanäle kamen quer, verloren sich zu beiden Seiten im Dunst. Ab und zu schälte sich aus der nassen Luft eine hohe graue Silhouette, die im Näherkommen schwarz wurde, ein mittelalterlicher, zum Kampf gerüsteter Ritter, der sich als Windmühle entpuppte, mit schindelgedeckter feuchtglänzender Holzhaube.
Theodor wischte sich die Nässe aus dem Gesicht und erwähnte Cervantes und Don Quichotte. Was sind das denn für Flausen? sagte Görtz kurz angebunden. Er hatte es eilig. Sein König war in Stralsund eingetroffen, dorthin wollte er, nach den untätigen Monaten in Amsterdam war er wieder in seinem Element: Politik und Krieg. Krieg und Politik. Theodor fühlte sich einsam.
Privatsekretär des schwedischen Plenipotentiärs, das hörte sich großartiger an, als es war, viel großartiger, und das tröstete Theodor immerhin, wenn ihm auf der unbequemen und martialisch-genügsamen Reise Zweifel kamen, ob es sonderlich vernünftig gewesen war, die soeben begonnene Agentenkarriere für die ehrvolle, aber miserabel entlohnte Position an der Seite eines Politikers von Rang einzutauschen.
Görtz erklärte, es handle sich darum, Peter entweder zu isolieren und zu besiegen oder aber gemeinsame Sache mit ihm zu machen, und erläuterte, daß die Diplomatie eben gerade darin bestehe, eine Strategie und ihr Gegenteil so lange nebeneinanderher zu führen, bis unwägbare Zufälle einen zwangen, auf eines der beiden gesattelten Rösser aufzuspringen. Theodor dachte an den russischen Geldboten, der ihn zu seiner größten Überraschung einen Tag vor seiner Abreise in Amsterdam aufgesucht und ihm einen prallen Beutel überreicht hatte, als Lohn für seine Vermittlerrolle. Theodor unterhielt sich mit Cats über die geeignete Verwendung der Summe und entschied, sie ihn in Laws neugegründete Compagnie d’Occident investieren zu lassen.
Am Rande des Herzogtums Mecklenburg-Schwerin trafen sie auf schwedische Reiterei, die Görtz von einer bevorstehenden Schlacht in Kenntnis setzte. Sie erreichten den Ort, an dem die beiden wartenden Heere lagerten, bei Einbruch der Dunkelheit. Als man Theodor ein Fernrohr reichte und er es über die hochlodernden Brände der feindlichen Lagerfeuer schweifen ließ, zog sein Magen sich vor Angst zusammen.
Larbi flüsterte ihm auf französisch zu: Maître, on ne peut pas se tirer d’ici?
Görtz, der daneben stand, antwortete, ohne sich umzublicken, die Augen starr auf die nasse Dunkelheit gerichtet, in der wässrig die Flämmchen schimmerten: Non, mon petit. Vous allez vous couvrir de gloire ou mourir.
Der Minister schien Gefallen daran zu finden, in seiner nassen, steifen und stinkenden Ledermontur in sein Biwak zu kriechen. Bärtige Uniformierte brachten ihm eine Flasche Rum. Ihr weckt mich zweieinhalb Stunden vor Tagesanbruch, kommandierte er.
Theodor wurde ins Offizierszelt geführt und bekam zwischen betrunkenen, schnarchenden und tuschelnden Leutnants eine Pritsche angewiesen.
Mon pauvre Larbi, meinte er krächzend, on est faits comme des rats.
Das Feldbett war schmal und hart wie ein Sarg, und schweißüberströmt und ohne Schlaf zu finden hörte Theodor den Regen auf das Zeltdach prasseln und war sich sicher, die letzte Nacht seines Lebens zu verbringen. Er stank, er sehnte sich nach einem Bad und frischen Kleidern, er fror. Womöglich hole ich mir hier einen inkurablen Rheumatismus, dachte er entsetzt, bevor er sich erinnerte, daß er morgen einen blutigen Tod sterben würde. Es war ein empörender Gedanke. Larbi murmelte im Halbschlaf erstickte Vorwürfe.
Theodor lauschte dem Regen und versuchte, Bilanz zu ziehen. Konnte angesichts des bisher Erreichten und Erlebten sein Ende hingenommen werden, oder machte er sich lächerlich, wenn er jetzt starb? Wie gut, daß er nie langfristige Pläne geschmiedet hatte, um jetzt halbfertige Ruinen zu hinterlassen.
Jemand rüttelte ihn an der Schulter, und er schrie auf. Es war fünf Uhr. Im Zelt herrschte hektische Bewegung. Flüche, Räuspern, klappernde Waffen. Es war noch dunkel, aber Fackelschein spielte auf der Leinwand. Kommandos wurden gebrüllt. Er mußte über vier Stunden geschlafen haben. Er versuchte vergeblich, in seine von der Nässe hart gewordenen Stiefel zu schlüpfen. Larbi mußte helfen, und als Theodor stand, drohten seine Beine gleich wieder einzuknicken. Er spannte alle Muskeln an und trat aus dem Zelt. Würdig in den Tod gehen, sagte er sich. Nichts anmerken lassen. Lachend in den Tod gehen.
Nun, Baron, fragte Görtz, wo möchten Sie das Spektakel erleben? An meiner Seite oder bei den Leutnants der Kavallerie?
Ganz wie es Ihnen beliebt, sagte Theodor charmant lächelnd, atmete tief die eisig feuchte Nachtluft ein und stieß sie leicht zitternd wieder aus.
Bleiben Sie besser bei mir, ich brauche Sie noch, scherzte der Holsteiner.
Theodor verneigte sich, stieg steifbeinig auf sein Pferd, und sie ritten im Schritt auf die Anhöhe mit der verlassenen Windmühle, von wo aus das Schlachtfeld zu überblicken sein würde, sobald die Dämmerung anbrach.
Der trübe, regnerische Sterbenstag begann mit dem enervierenden Lärm trockener Trommelwirbel und im Wind knatternder Regimentsfahnen. Theodor hatte einen sauren Geschmack im Mund und Magendrücken, er hatte nichts zu sich nehmen können, der Gedanke, mit vollem Bauch zu sterben, war ekelerregend.
Die Ebene zwischen dem Hügel, auf dem er mit Görtz stand, und den beiden leichten Kuppen, auf denen sich der gegnerische Generalstab postiert hatte, war ein graugrün verwischtes Meer. Linker Hand bildeten einen Bach säumende Pappeln den Horizont. Einen Steinwurf unter ihm plauderten die Kanoniere bei ihren Lafetten. Görtz sprach auf schwedisch mit dem kommandierenden General, beschrieb mit der Hand einen Bogen.
Wir werden die aufgehende Sonne im Gesicht haben, wenn sie denn durch die Wolken kommt, versuchte Theodor einen fachmännischen Kommentar. Er fühlte sich hilflos und verwirrt. Sein Geist sprang unaufhörlich zwischen der Perspektive eines Schlachtenmalers und der eines in seiner Marschsäule rettungslos eingekeilten Infanteristen hin und her.
Wir haben die stärkeren Reiter, antwortete Görtz. Es sind nur Schweriner, die haben kein Geld, eine Kavallerie aufzustellen, die den Namen verdient. Eigentlich ist die Sache schon entschieden. Während sie unter unserem Fußvolk wildern, geht unsere Reiterei längs der Pappeln vor, fällt ihnen von hinten in die Flanke und schaltet die Kanonen dort auf dem linken Hügel aus. Heute nachmittag werden sie die weiße Fahne hissen. Es sei denn, ein Genius kommandiert sie, dem etwas Besonderes einfällt. Das weiß man eben nie, und das ist die Würze einer solchen Konfrontation.
Dies alles im Konversationston, die Tressen seines nassen Dreispitzes flatterten im Wind, links hielt ein Bursche die Zügel seines Pferds, rechts ein anderer das Fernrohr.
Sobald sie in Schußweite der Kanonen sind, eröffnen wir das Feuer auf die von uns aus gesehen rechte Marschsäule, sagte der General, der eine brennende Pfeife im Mund trug.
Theodor blickte vom einen zum andern und mußte an die Knabenspiele im Dorf denken, wenn die Kinder Ameisenhaufen anzündeten und den wirren Fluchtmustern der halbverkohlten Insekten zusahen oder ihnen Hindernisse in den Weg legten. Kalte Götter, und er spürte, daß er nicht zu ihnen gehörte, so wie er schon damals nicht zu ihnen gehört hatte.
Ein Schuß, eine blecherne Fanfare, ansatzloser Galopp den Hügel hinab der verschiedenen Meldereiter und das totenmarschartig einsetzende Bum-Bum der Trommeln, und wie eine Panzerechse, mit züngelnden Bannern, kroch das Heer vorwärts in die regennasse Ebene. Dann blitzte Mündungsfeuer auf, und Donner rollte über die Felder.
Theodor starrte gebannt auf die breite, gewellte Marschformation, die voranschritt, Spieße voraus, jeder Schritt fiel einen Sekundenbruchteil nach einem dumpfen Trommelschlag. Die Soldaten sanken in den feuchten Wiesen ein. Beine und Herzen wurden nur mehr vom Trommeltakt vorwärtsgetrieben. Bum-bum-trrt, bum-bum-trrt. Das feindliche Feuer nahm zu. Viel zu kurz, Erdfontänen spritzten gegen den Seidenvorhang des Regens.
Die Zange der gegnerischen Infanterie öffnete sich, die schwedischen Soldaten gingen ihr entgegen, Schritt für Schritt, ohne Eile, bum-bum-trrt, bum-bum-trrt.
Feuer! kommandierte der General neben ihm ruhig, das Wort wurde dreimal wiederholt wie ein Echo, dann zerriß beinahe Theodors Trommelfell, die Kanone zuckte zurück wie ein auskeilender Esel, er blickte wieder hinab auf das verregnete graugrüne Feld, wo plötzlich hochschießende Geysire die Einschläge markierten und in dessen Mitte ein unsichtbarer Magnet die Heere an sich zog, und lethargisch wie Rinder näherten sie sich einander, bis sie, wie es heißt, das Weiße im Auge des Gegners sehen konnten.
Theodor ist mitten unter ihnen, seine Muskeln und Gelenke schreckensstarr, alles in ihm schreit: Fort hier! Laßt mich raus! Aber es gibt keine Freiheit, nur das fatale Aufeinanderzu. Sehenden Auges, eingekeilt zwischen die vor Angst schwitzenden Nachbarn, im Bewußtsein des Wahnsinns und der Sinnlosigkeit auf Kollisionskurs mit dem Tod, der dir als blankes Eisen in den Bauch fährt, ins Weiche, Innere und in einem Strahl dein Leben raubt, und links und rechts weht das Gras im Wind, und die Vögel zwitschern, und das Wasser fließt zur Mündung, und du könntest ausscheren und fortlaufen und leben, und du kannst nicht. Du kannst nicht.
Da begann das Musketengeknatter, die Marschordnung löste sich auf, die Heere trafen aufeinander, vermischten, verkeilten sich, die Trommel war verstummt oder nicht mehr herauszuhören, ein wirres Gewusel, der brennende Ameisenhaufen.
Der Kanonendonner war schon selbstverständlich geworden, und jedesmal, wenn Theodor den nächsten Schlag im gewohnten Rhythmus erwartete, und er kam nicht, sondern erst im Moment darauf, wenn die angespannten Nerven sich gerade lockerten, zuckte er zusammen wie in einem epileptischen Krampf und fiel beinahe vom Pferd.
Er sah, wie die Lippen der Umstehenden sich bewegten, hörte aber nichts mehr außer den Schlägen, bis direkt unter ihm die Lärmhaut aufriß: Einer der Kanoniere war dem Rückstoß nicht ausgewichen, lag da, die Brust schief und flach eingedrückt, Blut floß aus seinem Mund, aber sein Gekreisch verstummte rasch.
Am Horizont löste sich jetzt die Reiterei aus dem Schatten der Pappeln, fächerte sich in der Vorwärtsbewegung auf, und in der Nachhut der Schweriner entstand Panik.
Offenbar hatte der Wind sich gedreht, die Schreie der sich Mut Machenden und das Gebrüll der Verwundeten drang an ihr Ohr wie ein Chor jaulender Höllenhunde, die schiebenden und geschobenen Bewegungen des Gemetzels parodierten einen Contredanse, zu dem die Kastagnetten der Musketenschüsse knatterten. Rot, als wären sie durch Blut gezogen worden, leuchteten Fahnen auf und verschwanden gleich wieder im Körpergewoge.
Die gegnerische Infanterie hatte mit ihrer Zange den Kopf des schwedischen Heers abgebissen, aber jetzt wurde sie von hinten aufgerieben. Das war der Moment für Görtz und auch für Theodor, hinabzureiten und den Endkampf aus der Nähe zu dirigieren. Blutige Uniformen, grotesk übereinander getürmte Körper wie in der Umarmung gemeuchelte Liebespaare. All die aufgerissenen weißen Augen, das abgebrochene, gesplitterte Holz in Bäuchen, Schenkeln, Hälsen. Die Musketen bellten nur noch vereinzelt auf, Pulverdampf und Regen mischten sich zu dichtem Weihrauch. Ein Botenreiter direkt neben Theodor fiel plötzlich lautlos vom Pferd. Erst als er auf dem Rücken ausgestreckt lag, sah man das schwarze Loch in seiner faltenlosen Stirn, den Ausdruck von Überraschung auf seinem Gesicht.
Überall um sie herum noch immer rennende, schreiende, stechende Soldaten, die Schweriner kämpften um ihr Überleben, die schwedischen, jetzt in der Überzahl, befreiten sich in Haß und Blutdurst aus den Klammern ihrer Todesangst.
Botenreiter kamen heran und sprengten wieder fort, Kavallerieoffiziere machten Meldung, dann deutete jemand auf den gegenüberliegenden Hügel: Die weiße Fahne wurde geschwenkt. Es regnete noch immer und war den ganzen Tag nicht hell geworden.
Dann begann die Plünderung der Leichen. Sie wurden umgedreht, entwaffnet, entkleidet, auf Haufen geworfen, man leerte die Taschen, und am Abend, als Brände loderten und der unterlegene Heerführer schon zwei Stunden zum Palaver in Görtz’ Zelt saß, kam der Mond zwischen den Wolken hervor und beleuchtete matt die Hunderte von nackten, bleichen Körpern, die in sich selbst verdreht dalagen mit in der Todesstarre steif abstehenden Armen, die das nächtliche Gestirn anzuflehen oder zu preisen schienen. Insekten nahmen Besitz von allem Weichen, und Krähenschwärme flatterten und hüpften zwischen den Toten umher. Ein Nachhall von Pulvergeruch und süßlicher Wundgestank hingen in der Luft.
Theodor fand Larbi beim Küchenwagen und ließ sich Fleisch und Rum servieren. Er war hungrig wie ein Wolf.
In Stralsund bekam er den schwedischen König zu Gesicht, ein junger Mann noch, nur zehn Jahre älter als er selbst. Das schwedische Heer hatte auf seinen ausdrücklichen Befehl nicht in der Stadt Quartier genommen, sondern kampierte vor ihren Toren in Regen und Kälte.
Der König wollte keinen Komfort, er wollte unter seinen Männern sein. Er roch nach Pferd und altem Schweiß. Theodor mußte an eine Szene im Palast von Versailles denken, als der zukünftige Regent, der Sohn der Pfälzerin, für ein Reitergemälde porträtiert wurde und er im Gefolge der Mutter bei den untätig-bewundernden Zuschauern gestanden hatte. Philippe saß auf dem Bock wie ein großes, fettes Kind auf dem Schaukelpferd, hielt die Zügel und mußte auf Kommando des Künstlers Hottehüh machen, das heißt, auf und nieder hopsen, wobei er seinen Hut verlor; es war ein entwürdigendes Schauspiel. Der rastlos zwischen seinen Generalstabsoffizieren umherirrende Schwede, der zwei Pistolen im Gürtel trug, war auch so ein großes Kind. Und er spielte Krieg. Und je blutiger das Spiel wurde, je mehr Figuren umfielen, desto lauter jauchzte er und klatschte in die Hände.
Theodor erkundigte sich bei Görtz über seine weitere Verwendung und erhielt die bittere Antwort, er werde wohl, mangels besonderer diplomatischer Missionen, zeitweilig zum Kriegsdienst abkommandiert werden.
Nach einer schlaflosen Nacht versuchte er mit dem Minister zu reden, zu handeln, schließlich bot er ihm sogar seine Aktien an, um sich freizukaufen, und fiel am Ende vor seinem Gebieter auf die Knie.
(Larbi, sagte er auf dem Weg nach Glückstadt, wo sie eine Woche später in See stachen, tonlos und kalt: Ein Wort jemals zu irgendwem über diesen Auftritt, und du bist ein toter Mann.
Entendu Monsieur, begnügte der Diener sich zu antworten.)
Der halb belustigte, halb angewiderte Görtz vertraute ihm schließlich eine Mission nach Spanien an, erklärte ihm aber sogleich, er müsse selbst sehen, wie er an den Premierminister, den Abbé Alberoni, herankomme, um ihm die Vorschläge seiner Majestät zu unterbreiten und schmackhaft zu machen.
Theodor war es gleich, daß er kein Spanisch konnte, daß seine Reisekasse für einen derartigen Auftrag lächerlich, ja empörend schmal war, die Seereise nicht gefahrlos, die Zukunft ungewiß. Er mietete sich auf einem Kauffahrer seines Freundes Cats ein und reiste mit Larbi nach Bordeaux und von dort auf dem Landweg in die spanische Hauptstadt.
In Madrid angekommen, war Theodors Kraft allerdings erschöpft, und er verkroch sich in einem Mietshaus mit Patio. Er kannte niemanden, er beherrschte die Sprache nicht, er war verloren wie ein Kind und beschloß, krank zu werden.
Er litt, wenn überhaupt an etwas, an einer Art frenetischer Langeweile, worunter eine Kombination verschiedener Ängste zu verstehen ist, die eine hoffnungslose Trägheit und Lähmung erzeugten, welche ihn wiederum mit jedem untätig dahingebrachten Tag nervöser und zappeliger machte, derart, daß er sogleich, um sich zu beruhigen, ins Bett zurückkehren mußte, aus dem er noch kaum wie ein Getriebener und mit den Worten »Jetzt muß endlich etwas geschehen« aufgesprungen war.
Ängste, dachte Theodor, an die weiß verputzte, im Dämmerlicht grau schimmernde Decke starrend, Ängste plagen mich, anstatt daß ich dem Himmel danke, dem Schlachtgetümmel dieser Kriegswilden entronnen zu sein.
Aber die Freude darüber und die Erleichterung waren aufgebraucht gewesen, sobald er in Bordeaux wieder festen Boden unter den Füßen gespürt hatte. Und dann die fremde Stadt, in der er sich nicht auskannte. Die kalten Mauern, zwischen denen man sich verlief, der Spießrutenlauf zwischen den gehässigen oder drohenden Blicken, bis man vor lauter Konzentration auf seine Schritte ins Stolpern geriet, die Gespräche in hellen Türöffnungen oder hohen offenen Fenstern, die man hörte, aber nicht verstand, soviel Unbegreifbares, in dem die Integrität des eigenen Wesens zu zerfallen drohte. Angst vor der agressiv hervorzuckenden, lauten flagellantischen Religiosität in den Augenzisternen dieser Menschen.
Kopfschüttelnd setzte er sich auf und sagte halblaut und mit jener wohlwollenden Nachsicht, jener noch in der Befremdung bewundernden und anerkennenden Neugier, die er immer für sich aufbrachte, auch für die seltsamsten und am wenigsten beispielhaften seiner Eigenschaften: Ich habe eine wirkliche Begabung zur Angst!
Das unedle Wort bezeichnete bei genauerer Überlegung in seinem Fall aber keine Feigheit, sondern vielmehr die höchst respektable Verbindung eines kenntnisreichen Interesses für die eigene Person – das wiederum nichts anderes war als ein Ausdruck der Achtung vor dem Wunder seines Lebens – mit einem illusionslosen Bewußtsein von den Gefahren, die auf ein exponiertes Dasein lauerten, ja, die ein solches womöglich sogar anzog.
Ein Talent für die Angst hieß aber auch, genügend Phantasie aufbringen zu können, um alle drohenden Eventualitäten zu benennen und somit schon halb zu bannen, die sich auf seinem Weg befinden mochten. Es hieß, der Zukunft, seinem größten Gläubiger, nicht ganz über den Weg zu trauen. Denn ihr stand es immerhin frei, ihn an der Mission zu hindern, die sein Auf-dieser-Welt-Sein rechtfertigte. Seine Angst war daher eine Respektsbezeugung vor der Autonomie der Zukunft, ein taktischer Kotau.
Mit dem Rechtfertigen-Müssen seiner Existenz meinte er aber keineswegs sich selbst. Andersherum wurde ein Schuh daraus: Das Schicksal selbst, fand Theodor, war in der Schuld, den ihm entgegengebrachten Respekt mit einer gewissen geistigen Anstrengung, einem wohlwollenden Begutachten seines Falls und der Zuverfügungstellung einer schönen Lebensaufgabe zu danken.
Was das für eine Aufgabe sein sollte, darüber allerdings wußte er nichts, der derzeitige Auftrag Schwedens konnte schwerlich damit gemeint sein, und mit einer gewissen Geringschätzung hatte Theodor den Geleitbrief Görtzens, der hierzulande das Papier nicht wert sein mochte, auf das er geschrieben war, auch einfach per Boten in den Palast schicken lassen.
Nein, die Mission kannte er nicht, und ging er in sich, wollte er sie auch gar nicht kennen, bevor sie sich offenbarte. Genug zu wissen, es müsse sich um etwas Außergewöhnliches handeln, wozu er das Seine tat dadurch, daß er gar nicht erst anfing, mit einer die hohen Pläne, die das Schicksal für ihn ausheckte, beleidigenden banalen Aktivität seine Bereitschaft zu blockieren und seine Erwartung abzulenken.
Was er benötigte, war lediglich Zeit, und seine Angst daher letztlich die, vom Tod um diese Zeit betrogen zu werden.
Gegen den Tod aber, das wußte auch Theodor, ist kein Kraut gewachsen, und man braucht Glück, um nicht vor der Zeit von ihm aufgespürt zu werden.
Der hinzugezogene Madrider Arzt tappte angesichts seiner Leiden im Dunkel und beschloß daher, ihn zur Ader zu lassen.
Die Säfte, die ihm das Blut vergiften, sagte er, müssen herausgewaschen werden, zog die Lanzette und postierte die Schröpfköpfe auf dem Tisch.
Noch zwei Wochen danach grübelte Theodor, mittlerweile an Bord eines holländischen Kauffahrers auf dem Weg durchs sonnenglitzernde Mittelmeer nach Genua, über sein Verhältnis zum Glück nach. Denn als der Arzt eben zur Tat schreiten wollte, wurde er vom unerwarteten, rettenden Eintreffen einer ledernen Börse mit zweihundert Pistolen unterbrochen.
Ungläubig hielt Larbi die Goldmünzen in den Händen und näherte sich seinem im Fieber delirierenden Herrn. Der öffnete die Augen zu Schlitzen, ließ sich den Brief vorlesen, der von Kardinal – Kardinal also mittlerweile! – Alberoni persönlich unterzeichnet war und den schwedischen Gesandten zu einer Unterhaltung in die Descalzas Reales bat. Theodor ließ sich das Geld reichen, blickte kurz in die Börse, schob sie dann gleichmütig in die Schublade des Nachttisches und setzte sich im Bett auf.
Meine Natur hat immer Ressourcen gehabt, erklärte er dem verblüfften Arzt. Ich brauche Sie nicht mehr.
Am nächsten Tag suchte er einen Schneider auf und ließ sich auf Kosten des Kardinals eine neue Garderobe anfertigen. Am Abend tafelte er mit Larbi in einer Bodega. Zwei Tage darauf war die Ausstattung fertig, und er machte dem Premierminister seine Aufwartung, um sofort und ohne Umschweife in ein politisches Gespräch gezogen zu werden, in welchem Alberoni Theodor anhand mehrerer auf dem Ebenholztisch aufgerollter Land- und Seekarten mit verschiedenen Wenns seine Strategie erläuterte.
Auf dem Papier sah alles machbar aus. Große Veränderungen stünden bevor. Das sage er, das sage die Farnese, ihr Astrologe habe es berechnet, und der neurasthenische König nicke immerhin dazu. Dann fiel der beringte Zeigefinger des Kardinals auf einen Punkt der Karte. Hier, genau an dieser Stelle, brauche er eine Festlandbasis in Italien. Wenn er einer Allianz mit den doch wohl den Ast ihrer ehemaligen Glorie hinabsteigenden Schweden offen gegenüberstehen solle, sei dies der Preis: ein Neutralitätsversprechen der Republik Venedig zum mindesten, noch besser eine Hilfestellung für die spanische Eroberungsflotte.
Theodor brauchte nicht mehr zu hören, um so weniger, als Alberoni ein großzügigerer Auftraggeber war als Görtz. Und Italienisch sprach er ja. Also auf nach Venedig!
Er war offenbar jemand, der Glück zu haben als seinem Wesen und Schicksal zugehörig ansah und ihm den Platz zumaß, den andere Menschen einem persönlichen Verdienst einräumen. Wieviel erregender war es, nonchalant sagen zu können: Ich habe eben Glück gehabt, als knirschen zu müssen: Ich habe alles dafür getan.
Wer nun aber das Glück als Charaktereigenschaft betrachtet, wer sich zutraulich in Fortunas Schoß schmiegt und sich als ihr Hätschelkind geriert, der wird sich, bleibt dieses Glück einmal aus, denn auch gleich als Verfluchten sehen müssen, als den letzten der Menschen oder auch als einen, den die Götter dafür strafen, daß er so ist, wie er ist.
Theodor sollte in der Folgezeit alle Gelegenheit erhalten, die Wechselfälle des Glücks am eigenen Leib zu spüren, wie eine Folge kalter und warmer Güsse, und in langen müßigen Stunden sich auszumalen, was passiert wäre, hätte er anders entschieden, als die Gelegenheit sich bot – nur: Bot sie sich denn jemals wirklich?
Er war noch nicht in Venedig angekommen, als er von einer Seeschlacht zwischen Spaniern und Engländern am südlichen Zipfel Siziliens hörte, einige Tage später verdichtete sich dieses Gerücht zur Nachricht von der Niederlage bei Kap Passaro. Er befand sich mitten im venezianischen Karneval, als er erfuhr, der schwedische König sei in der Schlacht gefallen und sein bereits halb vergessener Immernoch-Herr, der Graf Görtz, verhaftet und kurz darauf enthauptet worden. Er war im Sommer zurück in Madrid, da unterzeichnete Alberoni unter dem Druck der allgegenwärtigen Engländer seine Abdankungsurkunde, zwischenzeitlich hatte er erfahren, daß Cats’ Spekulationen mit Laws Aktien ihn zu einem reichen Mann gemacht hatten, als er jedoch in Paris sein Kapital abheben wollte, geriet er in die Bankrottswirren der Notenbank und fand sich einige Tage später so arm, wie er seit seiner Jugend nicht mehr gewesen war.
Was also war der Grund, sich auf Gedeih und Verderb dem Glück, das heißt dem Zufall, zu verschreiben?
Nur das Glück sprengte die Ketten der Kausalität. Nur mit Hilfe des Glücks konnten Sprünge vollführt, Grenzen überwunden und Ziele erreicht werden, zu denen keine Anstrengung und keine disziplinierte Arbeit einen je brachte, bevor man alt und tot war.
Auch befand sich der das Leben durch Planung und Fundierung Meisternde in eine einzige Spur gezwängt. Kam er durch, erreichte er nur das, was er immer vor Augen gehabt hatte. An eine Erfüllung in solch engem Hohlweg wollte Theodor nicht glauben und kam für sich als der Weisheit vorläufig letztem Schluß zu der Erkenntnis, daß der Mensch soviel nicht war und vermochte, als seines Glückes einziger Schmied zu sein, daß es immer mehr als die eigene Mühe brauchte, um etwas Schönes aus seinem Leben zu machen, nämlich die Einwirkung höherer Mächte.
Genau besehen war dies eine demütige Haltung, von vornherein bei allem, was man tat, die unabdingbare Hilfe des Schicksals zu erflehen oder ins Kalkül zu ziehen, und es machte Theodor Freude, sich selbst als einen im tiefsten Sinne demütigen Menschen, einen Bruder der Einsiedler und Heiligen sozusagen, zu begreifen.
Dieses Bestreben nach glückhafter Rahmung seiner Lebenswege und Schönheit des Bildes, das er vor einem Parkett zuschauender Götter abgäbe, bewog ihn auch, kaum hatte er erfahren, daß Venedig auf dem Landweg erreicht werden sollte, also quasi von hinten durch die Sümpfe, den Kutscher und die übrigen Reisegäste mittels einer großzügigen Zahlung zu einer Routenänderung zu veranlassen, so daß man, die Brenta abwärts stakend, sich schließlich in Chioggia einfand, wo Theodor ein Boot mietete, um die langerträumte Stadt auf dem einzig angemessenen, dem Wasserwege über die Lagune hin zu erreichen.
Während er im Bug auf einem schwarzpolierten Holzstuhl saß und dem pitschenden Peitschen der sechs Ruderblätter lauschte, die beinahe synchron ins Wasser tauchten und das Boot mit sanften Schüben vorwärtstrieben, während er abwechselnd auf den wolkenlosen Himmel und seine verwellten Spiegelungen im braun-grün-goldenen Wasser der Lagune sah, die Holzpfähle und Pfahlhütten der Muschelfischer als dunkle vertikale Maserung des ansonsten ausschließlich horizontal strukturierten Bildes wahrnahm, durch Schwärme winziger Mücken glitt, die ein Windstoß zu Nichts zerwirbelte, und mit zusammengekniffenen Augen den Horizont absuchte, wo in pastellenen Farbschlieren und Dunst Himmel und Lagune ineinander übergingen, um als erster die Silhouette der Stadt zu erblicken, zerriß das Bild vor seinen Augen auf einmal mit einem zugleich stechenden und bohrenden Schmerz in einem seiner linken unteren Backenzähne.
Tränen stiegen in Theodors Augen, er preßte den Unterkiefer mit beiden Händen zusammen und drehte sich zu Larbi um, der hinter ihm auf dem Gepäck hockte.
Der Diener führte eine Art Reiseapotheke mit sich, aus der er seinem Herrn zwei getrocknete Nelken reichte, und wies ihn an, sie auf den faulen Zahn zu legen und zuzubeißen.
Für Minuten wurde der Himmel farblos und das Wasser schwarz, jede Schaukelbewegung drohte seinen Schädel zu sprengen, und Theodor hatte das Gefühl, über die Lethe gestakt zu werden.
In einer durch den Schmerz geschärften und zugefeilten Zuspitzung aller Sinne, mit einer Mischung aus Enttäuschung über die verdorbene Freude und zugleich gesteigerter Wahrnehmungsfähigkeit und Aufnahmebereitschaft sah er dann, wie die Campaniles von San Giorgio Maggiore und San Marco zunächst als himmelblau und türkisfarben lodernde Rauchsäulen aus dem Dunst stiegen und langsam schärfere Konturen gewannen.
Der Eindruck der in der Sonne geschmolzenen und im Erkalten langsam Form annehmenden Stadt, die zunehmende Zahl der Schiffe, die bald, je näher man kam, zu einem Wald hochgestellter Ruder und Masten wurden, und der bohrende Zahnschmerz steigerten sich gegenseitig und gruben sich, einander intensivierend, so tief in sein Bewußtsein, daß er lautlos, sich die Wange haltend, flüsterte: Ich bin vierundzwanzig. Ich treffe in Venedig ein. Ich werde mir, wenn diese Schmerzen nicht aufhören, den Zahn ausreißen lassen müssen. Ich weiß, daß ich diesen Augenblick nie vergessen werde.
Sehen Sie, Baron, sagte Respighi drei Monate später in einer Gondel, die die beiden Männer den Canale Grande hinunterstakte, vorbei an der Ca’d’Oro und der Pescheria zum Palazzo Vendramin, Venedig hat seine Aufgabe als Aktivposten in der Welt erfüllt und überlebt. Jetzt hat es keine andere mehr, als sich selbst darzustellen.
 
Theodor ließ die Hand durch das schiefergraue Wasser gleiten und wartete auf den bernsteinfarbenen Glanz, wenn momentelang die Sonne durch die Wolken brach. Er sah den Kaufmann und Freund von Jacob Cats aufmerksam an, um ihn zum Weitersprechen zu bewegen.
Was Respighi über die Stadt erzählte, die Theodor vom ersten Tag an, mit schmerzendem Kiefer und einer ganz wie seine Zahnnerven bloßliegenden Empfindsamkeit als ihm gemäß adoptiert hatte, tröstete ihn über seine eigene derzeitige Lage hinweg.
Empfänge und Kleider, Bälle und Opernaufführungen und das tägliche Leben hatten seine Reisekasse bedenklich geleert. Görtz und der schwedische König tot, Alberoni durch seine militärische Niederlage handlungs- und zahlungsunfähig, hatte er keinen Auftraggeber mehr, der den Namen verdiente, und keine diplomatische Mission in Venedig.
Wofür ist die Heimat San Marcos also noch gut? fragte Respighi und lieferte den aufnahmewilligen Augen seines Nachbarn die Antwort gleich mit: Um die Schönheit und Dauer und Fragwürdigkeit der menschlichen Existenz zu bezeugen. Es ist ja eine alte Stadt, setzte er hinzu, mit der gleichen genüßlichen Betonung, wie er gesagt haben würde: Es ist ja eine junge Frau.
Und mit dem Alter, fuhr er fort, ist es so eine Sache. Vernünftige Menschen behaupten immer, der Lebensweg gleiche einer Bahn, die auf Reduktion und Klarheit hinauslaufe, aber ist es nicht gerade andersherum in Wirklichkeit?
Er sah Theodor mit hochgezogenen Brauen an und setzte dann entschieden hinzu: Hier in Venedig ist es anders. Und nach einer Pause: Ist es nicht vielmehr so, daß je älter man wird, je älter die Menschheit wird, desto weniger Klarheit herrscht und desto mehr ambiguité. Desto mehr, wie soll ich sagen: chiaroscuro...
Theodor blickte auf die dunklen Gestalten, die an den Ufern des Kanals unter den Arkaden standen oder vorüberhuschten und Respighis Worte rauschten leise wie das Wasser bei jedem Stoß des Gondoliere: Gewißheiten... Unterschiede... zwischen Wasser und Licht... Wahrheit oder Traum... Klare Identitäten... Schemen... Das Symbol, das heißt die Maske, tritt zunächst vor das Gesicht und ersetzt es schließlich...
Masken – das Fest, eines der vielen Feste, die Musik, wie schwere Düfte aus jedem der hohen Räume wehend, die gebauschten Vorhänge, das Dämmerlicht, die Unwirklichkeit der wallenden Gestalten in teuerstem Brokat, dem nur ein unbarmherzig klarer Blick all die Stopfnähte und Stockflecken ansah, ein nächtlich zum Leben erwachter Theaterfundus. Sein nach letzter Pariser Mode gefertigtes Festkleid mit Rüschen und Jabots war zu eindeutig in diesem prachtvoll-schäbigen Maskenreigen, zu wenig ironisch. Alles war verwischt und in der Tiefenschärfe verschoben wie in einem Traum, als trete man auf der Stelle und der Saal bewege sich auf einen zu und von einem fort.
Der Eindruck von Blindheit oder unscharfem Sehen angesichts all der Masken, der fehlenden Gesichter, diese Anonymität erregte ihn, die Nähe des Fremden, Ungewissen stimmte Theodor erotisch. Die Vermummung half, sich nicht vom allenfalls unter ihr verborgenen Persönlichen eines Menschen ablenken zu lassen, von der Sehnsucht in seinen Fingerkuppen und Lippen, der es nicht ums Begreifen zu tun war, sondern ums Betasten, die nicht in Erkenntnis und Verständnis aufgehoben, sondern zugleich erfüllt und gestillt werden und doch weitersehnen wollte.
Die Maske, die ihn beim Tanz für sich erwählt hatte, war eine hochgewachsene Frau, in deren moorgrünes Kleid silberschimmernde Fischschuppen gewirkt waren. Als sie ihn aufforderte, den Ballsaal zu verlassen, fiel ihm ihre tiefe, fast männliche Stimme auf. Er reichte ihr den Arm, sie legte ihre Hand darauf, eine feingliedrige, lange Hand unter durchbrochenen Spitzenhandschuhen. Wie unter einer hauchdünnen Eisschicht sah er die weiße Haut mit dem blauen Adergeflecht, ein Perlmuttgeschimmer wie die Innenschale einer Auster. Sie erreichten einen leeren Raum, dessen zwei Rundbogenfenster offenstanden. Der Geruch des eisigen nächtlichen Wassers wuchs herauf. Es machte Theodor halb verrückt, sie nicht küssen zu können, als sei schon die erste Tür vor einer ganzen Zimmerflucht verriegelt. Seine Hände glitten in mühsam gezügelter Begierde über ihr Kostüm. Durch raschelnde Drehungen, Geräusche wie Regen oder der Wind in Pappeln, wurde für die Dauer eines Lidschlags helle Haut unter dem grünen Stoff sichtbar, ganz unvermittelt in einem Beugen oder Dehnen, suchenden Tasten oder Zupfen seiner Finger tat sich ein Spalt in den moirierenden Verwerfungen auf, ein Beiseiteschieben, ein Raffen des schweren, knisternden Stoffs offenbarte einen Schlitz, an dessen Saum seine Finger sich entlanghangelten, bis erschreckend warme Haut die Fingerkuppen zunächst zurückzucken ließ. All das geschah unter umeinander kreisenden, schlängelnden Bewegungen, einem Sich-ineinander-Schrauben zweier Spiralen, und Theodor, dessen suchender Blick von keinem Paar Augen aufgefangen wurde, sondern sich an den dunklen Löchern der Maske brach, sah unter halbgeschlossenen Lidern der Hand unter dem durchbrochenen Handschuh zu, den rasch und geläufig wie eine Spinne operierenden Fingern, dann sank er kraftlos zurück in die Armbeuge der Maske, bemerkte in seinem sich verschleiernden Bewußtsein noch, daß sie beide in dieser Stellung eine Art Pietà mimten, sein über den weichen Oberarm nach hinten gesunkener Kopf wurde sanft zu Boden gesenkt, die Maske löste sich von ihm, stand auf, ging zum Fenster, streifte den Handschuh von ihrer rechten Hand, hielt ihn mit Daumen und Zeigefinger fest und ließ ihn in den Kanal fallen. Er sah ihr zu, und als sie sich wieder setzte, sagte sie mit ihrer schönen, etwas heiseren Altstimme: Ich habe genug von diesen Handschuhen dabei...
Später fragte sie ihn: Es ist Karneval. Warum trägst du keine Maske?
Seine Lippen berührten ihre Ohrmuscheln, er flüsterte wie zuvor: »Mein Pferdchen«. Dies war der zärtliche Kinderneckname, den ihre Mutter seiner Schwester Amélie gegeben hatte, und Theodor hatte in den Umarmungen mit der Unsichtbaren zugleich in der Vergangenheit und an anderem Ort gelebt, war hier und dort, jetzt und damals zugleich gewesen, und jedes seiner Worte hallte durch eine Art Zeit und Entfernung überwindenden Echoraum. So vervielfachte und bereicherte er sein Glück in einer von Worten geschaffenen Spiegelflucht, ohne daß seine nächtliche Gefährtin etwas dabei verlor.
Aber ich trage eine Maske! sagte er schließlich.
Auf dem Nachhauseweg im Morgengrauen standen auf einem an drei Seiten umbauten Platz, der sich in zwei Stufen zu einem schmalen Brackwasserkanal öffnete, plötzlich zwei vermummte Männer vor ihm, die einen Dolch unter der Pelerine hervorzogen und sein Geld forderten.
In Paris hätte Theodor die Hände gehoben und den Männern seine Börse hingeworfen, aber hier im venezianischen Morgendämmer, zwischen Tag und Nacht, Maskenspiel und Realität, Theater und Straße, träumerisch gestimmt von der Liebe mit der Unbekannten und gequält von seinen Zahnschmerzen, noch immer im Dunst zwischen den Zeiten und Welten wandelnd, zog er wortlos den Degen, sprang, wie er es gelernt hatte, gestreckt in den Ausfall, und seine Klinge fuhr in den Körper des nächststehenden Räubers.
Der Degen glitt und glitt durch das Fleisch, ohne auf Widerstand zu stoßen, als würde Theodors Arm gezogen, so perfekt und mühelos, daß er eine Befriedigung empfand, die der seines alten Freunds Sternhart ähneln mußte, wenn eine seiner Gleichungen glatt aufging. Aber das war wohl doch ein unpassender Vergleich, denn als seine Vorwärtsbewegung im Anschlag des Korbs vor der Brust des Mannes zur Ruhe kam, so daß Theodors Gesicht beinahe die Maske berührte, war der Räuber tot.
Helles Blut sickerte unter der Gesichtsverhüllung auf die schwarze Pelerine. Er mußte die Lunge durchbohrt haben. Das Blut roch süßlich wie Pferdefleisch, und der Geruch mischte sich mit dem morgendlichen Kotgestank des Kanals. Der zweite Räuber flüchtete entsetzt.
Theodor zog den Degen aus der auf die Knie gesunkenen Leiche, beförderte sie mit dem Fuß ins Wasser und sah zu, wie sie versank. Ein stimmungsvollerer Rahmen als Venedig, sinnierte er halbwach, war schwerlich vorstellbar, um einen Menschen zu durchbohren.
An der nächsten Kreuzung hatte er den Zwischenfall bereits fast vergessen, so daß er innehielt und sich fragte, ob er nicht etwa träumte. Dies war der erste Mensch, den er getötet hatte, und er mußte an seinen faulenden Zahn denken. Dieser erste Beginn körperlichen Verfaulens und der erste Tote von seiner Hand: Wie ein kalter Wind wehte ihn ein Gefühl von vergehender Zeit und Älterwerden an.
Zurück in seinem Zimmer im Palazzo Respighi, streichelte er die gelbe Katze der Hausherrn, die für die Dauer seines Aufenthalts bei ihm Wohnung genommen hatte, auf dem Fensterbrett saß und sehnsüchtig, wie Theodor es empfand, den vorüberfliegenden Tauben nachblickte. Die aufgehende Sonne überzog die pockige graue Fassade des Palazzos am gegenüberliegenden Ufer mit gedengeltem Silber und tauchte sie in blendendes Licht. Er kraulte die kleine, so zerbrechliche Hirnschale des wohlgenährten, schnurrenden Tiers, die sich wie eine fellumhüllte Walnuß anfühlte und nannte sie sanft »Poverina. Poverina«.
 
Ja, es ist eine Stadt der Maskerade, wiederholte Respighi. Zuerst tritt die Larve vor das Gesicht, dann ersetzt sie es.
Theodor nickte gedankenverloren, die Hand im Wasser.
Die Gondel legte am Steg des Palazzo Vendramin an. Die Familie bot aus finanziellen Gründen ihre Gemäldesammlung zum Kauf, und Respighi interessierte sich dafür. Ein Gemälde, Baron, ist, von seinem ästhetischen Wert einmal gar nicht zu reden, eine ausgezeichnete Geldanlage, erklärte er und rieb sich die Hände. Theodor, seine Nelke zwischen die Zahnreihen pressend und mit von dem leichten Schmerz geschärftem Blick, kehrte immer wieder zu einem mittelgroßen Gemälde zurück, das in einem breiten Korridor zwischen zwei von hohen samtenen Vorhängen gerahmten Türen hing.
Das ist ein Giorgione, sagte Respighi im Vorbeigehen. ›La famiglia del pintore‹. Er deutete auf das Gemälde: Quest’uomo è il pastore dell’essere...
Theodor nickte geistesabwesend.
Unfug, dachte er, vom plötzlich wieder bohrenden Zahnschmerz unwirsch und empfindlich-aggressiv gegen alles und jeden, einschließlich seiner selbst, gestimmt, und in unerklärlicher Eifersucht: Das ist überhaupt keine Familie, und wenn, dann nicht die des Malers.
Er stand vor dem Gemälde wie ein Kapitän auf der schwankenden Brücke eines in Seenot geratenen Schiffs und klammerte sich mit den Augen daran fest.
Die Szenerie badete im türkisgrünen Licht eines Gewitterhimmels. Im Hintergrund zog sich am rechten Ufer eines von einer Holzbrücke überquerten Flusses eine Stadt hin, im Vordergrund links stand ein junger Mann in Festtagstracht, der den Ort, durch einen Hain und an antiken Ruinen vorübergehend, soeben verließ, rechts saß eine junge nackte Frau auf einer Wiese, ein leichtes weißes Tuch über den Schultern, und säugte das Kind, das sie in den Armen hielt. Der junge Mann blickte zu der Frau hinüber, die ihrerseits mit abwesendem Blick den Betrachter ansah.
Durch die getürmten grünen Gewitterwolken zuckte der erste Blitz eines unmittelbar bevorstehenden Gewitters. Die Häuserfront am Flußufer lag noch in der Sonne und spiegelte sich im Wasser diesseits der Brücke.
Der unentschieden ins leere Zentrum fallende Blick des Betrachters wollte das Paar aufeinander zuziehen, zueinander kommen lassen. Aber keine der beiden Figuren machte in diesem Moment, bevor das Gewitter losbrach, alles erzitterte, erbebte, alles stillstand, Anstalten, den unerträglichen Abstand mit zwei, drei Schritten zu überbrücken. Vielmehr schien die junge Frau den hübschen jungen Mann gar nicht zu beachten und er Genüge daran zu finden, sie genüßlich zu betrachten, ohne darüber seinen Weg, wohin auch immer, zu vergessen oder auch nur für längere Zeit unterbrechen zu wollen.
Das junge Mädchen war schön. Seine rosige Haut schimmerte samtig und verschattete im Keil der Leisten. Es hielt sein Kind mit jener beiläufig schützenden Gelassenheit, die junge Mütter zu solch fremdartigen, bewundernswert starken und in sich ruhenden Wesen macht. Zu einer Einheit, die auch der junge Mann offenbar nicht antasten wollte. Am hinteren Ende der Stadt lag eine streng geformte Kirche mit einer Kuppel.
Der Ausdruck inniger Liebe auf dem Gesicht der Mutter steckte Theodor an. Wütend vor Zahnweh rief er: Warum gehst du denn nicht zu ihr hinüber? Was zögerst du denn? So zum Greifen nah ist das Glück nie wieder!
Er hielt sich die schmerzende Wange. Respighi stand wieder hinter ihm. Möchten Sie es kaufen? Es ist über zweihundert Jahre alt.
Nein, nein, sagte Theodor fast ärgerlich. Wie kommen Sie auf Pastore dell’essere?
Er ist doch offensichtlich ein Hirte, sagte Respighi achselzuckend und auf den Stab des jungen Mannes deutend. Diese gebauschten weißen Hemden und reich bestickten Pumphosen können Sie bei Festen auf dem Land entdecken.
Ein seltsames Bild, sagte Theodor mit schmerzendem Mund. Er kramte nach dem Döschen mit den Nelken.
Ja, es wird viel darüber gerätselt, statt es einfach zu genießen. Es ist übrigens teuer. Eben hörte ich jemand sagen, es handle sich um Hermes bei dem jungen Mann, den Gott der Hirten, und um Io oder gar Isis bei dem Mädchen. Der Mythos jedenfalls, welcher es auch sei, ist mit der Al-Fresco-Farbe der Modernität übermalt, und unsere Fragen bleiben unbeantwortet. Sehen Sie die antiken Ruinen hier, Baron, an denen unser Hermes gerade vorübergekommen ist, unwiderruflich zerstört. Vielleicht ja sogar von dem Gewitter, das eben erst anbricht.
Theodor lächelte, was bei seiner schmerzenden Gesichtshälfte eine schiefe Grimasse ergab. Der Gedanke, daß es hier in Venedig nicht verrückt war, die Vergangenheit als das Bevorstehende, noch nicht Geschehene zu betrachten, gefiel ihm. Und der, daß er ein Gemälde für wichtiger hielt in seinem Leben als alles, was er in zwanzig Jahren gesehen und erfahren hatte, entzückte ihn. Er dachte an seine Mutter: Verwechsle niemals die Realität mit der Wahrheit.
Was haben Sie jetzt vor, Baron? fragte Respighi auf dem Rückweg.
Ich muß mir einen Zahn ziehen lassen und dann nach Spanien zurückkehren, antwortete Theodor.
Kommen Sie wieder, sagte der Kaufmann.