Achtes Kapitel
Es war über fünf Jahre her, daß Theodor seine
Schwester, mittlerweile Gräfin von Trévoux, zuletzt gesehen hatte.
Sie waren beide noch Kinder gewesen, schien ihm, und jetzt wiegte
Amélie einen zweijährigen Sohn, und er war so viel gereist, hatte
so vielen Herren gedient, daß er kaum mehr wußte, woher er kam und
wohin er ging.
Vorfreude auf das Wiedersehen und eine unbestimmte
Angst drängten und bremsten seinen Weg das Rhônetal hinauf. Er
machte sich Vorwürfe, diesen Besuch, an dem ihm soviel lag, auch
wieder nur einem Auftrag zu verdanken, an dessen Wegesrand er
stattfand, wovon er Amélie in seinem Schreiben natürlich nichts
mitgeteilt hatte. Der Baron Ripperda, ein holländischer
Glücksritter und als Nachfolger Alberonis in der Gunst der hitzigen
Farnese sein neuer Kommanditär in Madrid, schickte ihn mit
Depeschen, deren Inhalt ihm verborgen war, nach Paris. Es war das
erste Mal seit seinem Debüt in Diensten des Regenten, daß er nicht
wußte, was die versiegelten Schreiben, die er beförderte,
enthielten – übrigens war es ihm herzlich egal, nur sein Stolz war
gekränkt. Paris – auch solch ein Wiedersehen, das ihm
bevorstand.
In Lyon würde er Geschenke kaufen, Geschenke für
seine Schwester, den Gemahl, von dem er nichts wissen wollte, und
vor allem Geschenke für seinen Neffen, eine kleine Uniform nebst
einem befransten Dreispitz, einen Degen, kleine Stulpenstiefel und
ein Spitzenjabot, das an dem Mannling, den er sich unwillkürlich so
vorstellte, wie
er selbst als Knabe ausgesehen hatte, gewiß allerliebst wirken
würde. Allerliebst, das war so ein Wort, auf das er unter normalen
Umständen nie verfallen wäre und das ihm jetzt in Erwartung des
Wiedersehens zuflog – so ist mein Geisteszustand, dachte er
kopfschüttelnd, sentimental in Worten, Gedanken und Gefühlen.
Bleisoldaten würde er ihm schenken, ein ganzes
Regiment, eine Trommel und ein Schaukelpferd, nein, ein
Schaukelpferd hatte er ihm bereits geschickt, also ein
Puppentheater, so eines, wie er sie in Venedig gesehen hatte, mit
den typischen Figuren, und die Spieldose mit den arkadischen
Motiven und der sich langsam auf der kleinen Kuppel drehenden,
flötenspielenden Schäferin; die hatte er bereits in Madrid
erstanden.
Wenn nur alles genauso würde, wie er es unzählige
Male im Geist vorauserlebt hatte, wenn nur alles so würde, wie es
immer gewesen war, und keine Fremdheit zwischen ihnen existierte
und der Mann sie nicht verändert hätte und möglichst unsichtbar
bliebe. Je näher er seinem Ziel kam, desto stärker wurde die
Spannung, bis sogar olfaktorische Halluzinationen ihn heimsuchten,
die Gerüche ihres Kindheitsgartens, der Duft der verschwitzt
umhertollenden Amélie bei den Rosen und Reseden, in der
Geißblatthecke im feuchten Mauerschatten.
Wird sie mich wiedererkennen, dachte er, mit dem
schmal gewordenen Unterkiefer, in dem vier Backenzähne fehlen? Ein
Schauer lief ihm über die Haut, doch die Schmerzen waren vergessen,
dafür trat jedesmal, wenn er sich des Zahnwehs und der blutigen
Extraktion erinnerte, das Gemälde mit der Gewitterszene vor sein
inneres Auge. Dann mußte er an seine Mutter denken und bemerkte mit
leisem Erschrecken, daß er in manchen Augenblicken verwechselte, zu
wem er da zurückkehrte.
Vom ersten Augenblick an war alles so, wie er es
sich erwünscht hatte. Bereits der Anblick des auf einer Anhöhe
hinter einem Eichenhain gelegenen Schlosses behagte ihm. Es war
eigentlich kein Schloß, sondern eine kleine Burg aus der Zeit, da
es noch notwendig gewesen war, sich in seinem Haus verteidigen und
verschanzen zu können.
Der Weg führte recht steil hinauf, unter den hohen
Eichen hindurch, bog auf der Kuppe nach rechts und wandelte sich
hinter dem hohen schmiedeeisernen Tor zu einer Platanenallee, die
geradewegs auf das gedrungene Geviert zuführte. In den ehemaligen
Schießscharten des Torhauses waren Blumenkübel aufgehängt, und dies
war so eindeutig das Werk Amélies, daß Theodor das Herz
aufging.
Links und rechts der Allee lagen umfriedet Obst-
und Gemüsegarten. Ein Bursche stand mit einem Korb auf einer Leiter
und pflückte Kirschen, eine Frau kniete auf der Erde und zupfte
Unkraut.
Als er abstieg und, gefolgt von Larbi, der die
Pferde führte, durch den Torbogen schritt, öffnete sich auf der
anderen Seite des gleichmäßig gerechten und mit kleinen
Buchsbaumparterres geschmückten Innenhofs die Haustür, und Amélie
trat heraus, gefolgt von der Amme, die den Knaben trug.
Theodor schloß seine Schwester in die Arme, atmete
mit geschlossenen Augen den altvertrauten Geruch ihres Nackens ein
und fühlte sich, als hätte er Abbitte zu leisten, wie früher bei
seiner Mutter, deren strenger Liebe man nie würdig war, was man
auch tat.
Dann jedoch löste er sich von ihr und kniete vor
dem Jungen nieder, der mittlerweile auf eigenen Füßen stand und
sich mit einer kleinen feisten Hand an den Kattunrock der Amme
klammerte. Die feinen angedeuteten Augenbrauen runzelnd und die
Backen aufblasend, musterte das Kind das Gesicht des fremden
Mannes.
Allez, dis ce que je t’ai appris, sagte
Amélie.
Bonjour, Monsieur mon Oncle, lispelte der
Knabe, und Theodor setzte sich vor ihm auf die Erde, zog galant den
Hut und erwiderte die Begrüßung. Dann streckte er die Hände aus,
und als der Neffe sie zögernd in die seinen nahm, begann Theodor
zum Erstaunen der Umstehenden zu singen.
Mit leisem, aber vollem und wie immer ein wenig
näselndem Bariton sang er ein italienisches Lied und schwenkte die
Kinderhände dazu im Takt. Die Gesichtszüge Frédérics entspannten
sich, dann jauchzte er auf. Aus den Augenwinkeln – nicht, weil er
sich nicht ganz auf seinen Neffen konzentriert hätte, sondern im
Bedürfnis, alles, was geschah, zugleich aufzunehmen – sah Theodor
den Blick, mit dem seine Schwester ihn musterte, und las eine Art
erstauntes und billigendes Aufhorchen in ihm, dem er in Gedanken
antwortete: Ja, wir sind beide ein Stück Wegs gegangen.
Zugleich nahm er sich vor, sich diesem
anerkennenden Blick während seines Aufenthalts würdig zu erweisen
und die Mischung aus Wärme und Freiheit, die ihm in diesen ersten
Augenblicken ganz natürlich gekommen war, zum Leitmotiv seines
Auftretens auszudehnen.
Er saß noch am Boden, als der Graf selbst, nach
einer dem Wiedersehen der Geschwister geschuldeten
Höflichkeitsfrist, in der Bogentür des rechten Flügels erschien und
mit ausgestreckten Armen auf ihn zukam. Ein grauhaariger, sehr
schlanker kleiner Mann, nicht größer als Amélie, mit einem noblen
grauen Cäsarenhaupt und eingedrückter Nase. Der leichte Schritt
verriet den der Jagd frönenden Reiter. Theodor sprang auf, nahm
Friedrich in den Arm, klopfte seine Hose ab und ließ sich ein wenig
steif von seinem Schwager an die Brust drücken.
Mein lieber Baron, es ist mir eine Freude und Ehre,
Sie kennenzulernen, sagte Trévoux. Ich warte schon lange auf diesen
Moment, der die Familie erst vollzählig macht.
Theodor verneigte sich und erwiderte das
Kompliment.
Im übrigen, fuhr der Graf fort, vermißt man Sie
auch bei Hofe, wo ich viel nach Ihnen gefragt werde.
Theodor horchte auf. Kaum glaublich, aber sehr
schmeichelhaft, sollte er tatsächlich unter der Hand, in dieser
Zeit der Abwesenheit, so etwas wie einen Ruf und ein Renommee
gewonnen haben.
Angesichts der respektvollen Höflichkeit seines
Schwagers warf Theodor seine Vorbehalte beiseite und überlegte,
womit er seinerseits dem Gastgeber eine Freude bereiten könne. Am
ehesten und ehrlichsten, indem er seiner Bewunderung für den
kleinen Frédéric Ausdruck verlieh, der soeben dabei war, die
Geschenke seines Onkels in Augenschein zu nehmen.
Aber während er dem Vater Komplimente zu seinem
Sohn machte, kam es Theodor vor, als beglückwünsche er ihn zu
etwas, das eigentlich er selbst geleistet hatte, so wie ein
zufriedener General, dessen Pläne sämtlich aufgegangen sind, im
Überschwang des Siegs einem kleinen Husarenleutnant dafür
gratulieren mag, er habe die Schlacht quasi ganz alleine
gewonnen.
Er hatte das Bedürfnis, jedermann mit einem
freundlichen Wort ein wenig glücklicher zu machen, sogar der
Dienerin, die ihm für die beiden Etagen des ehemaligen Wehrturms,
den er mit Larbi bewohnte, zugeteilt war, begegnete er mit
Herzlichkeit und steckte ihr, nachdem sie sein Gepäck eingeräumt,
die Betten bereitet und ein Feuer im Kamin gemacht hatte, eine
Münze zu, die in keinem rechten Verhältnis zu seinen derzeitigen
Mitteln stand.
Am Abend waren zu seinen Ehren Gäste geladen,
einige Herrschaften aus der Umgegend, Provinzler, deren Reden und
Vorstellungen so eng und borniert waren wie ihre Kleidung, Pariser
Mode von vor fünf Jahren, lächerlich und der Gelegenheit wenig
angemessen. Theodor, der noch keine Muße gehabt hatte, sich seiner
Schwester und seinem Neffen zu widmen, mußte an sich halten und
seine Ungeduld zügeln, um die Gesellschaft nicht zu vertreiben.
Immerhin konnte er mit phantastischen Übertreibungen gespickte
geheime Missionen und blutdampfende Schlachten schildern – den
Seekampf bei Kap Passaro hatte er fast schon zu seinen Gunsten
entschieden, als eine Flotte türkischer Galeeren voller
Menschenfresser angriff... – und antwortete sanft lächelnd den
Kommentaren und Fragen der Eingeladenen: Man hört, dort oben im
Norden waschen die Menschen sich den Leib mit kaltem Wasser? Es muß
wohl eine seltsame Rasse sein, deren Haut solch eine Behandlung
verträgt? Sind sie sehr behaart? Oder: Der Venezianer an sich soll
ja ein rüder und haltloser Mensch sein, haben Sie das auch erlebt?
Gehört Venedig eigentlich zu Frankreich, oder welcher König
herrscht dort?
Wenn Theodor jedoch vom Niveau der Nachbarn auf das
seines Gastgebers schloß, hatte er sich getäuscht. Als alle
gegangen waren, wurde der Abend in der fast ausschließlich mit
theologischen und religionsphilosophischen Büchern gefüllten
Bibliothek Trévoux’ fortgesetzt, wo der Graf Theodor in eine
Diskussion über die Gottesgelehrsamkeit zog, der alle seine
Mußestunden gewidmet waren.
Es zeigte sich, daß Trévoux in diesen Dingen von
einem unstillbaren Mitteilungsdrang war und nach kurzem in ein
sonores Dozieren geriet, das Theodors ohnehin geschwächte
Aufmerksamkeit gänzlich ermüdete. In altbewährter Manier begnügte
er sich damit, von Zeit zu Zeit das Scheit eines Namens oder einer
irgendwo aufgeschnappten These in die Glut zu werfen, um dem Feuer
der Konversation Nahrung zu geben.
Amélie zeigte den ganzen Abend dieselbe
gleichtemperierte, in sich ruhende Freundlichkeit, ihrem Mann
gegenüber ebenso wie Theodor und den Gästen.
Trévoux sprach gerade von Bernard de Clairvaux, den
Kreuzzügen und der Architektur der Zisterzienser, da entdeckte
Theodor, daß seine Schwester, eine Handarbeit auf den Knien, still
und glatt im Kerzenschein sitzend wie ein
Gemälde Vermeers, stumm die Lippen bewegte, und nach kurzer Zeit
war er beinahe sicher, daß sie die Rede des Grafen lautlos
auswendig mitsprach.
Aber er wollte der ersten Erschütterung – war die
Ehe seiner Schwester eine derartige Hölle der Langeweile? – nicht
zu sehr vertrauen. Seine Beobachtung mußte nicht unbedingt viel
bedeuten, und schließlich war es ja auch von Vorteil, einen Gatten
zu haben, der sich in religiösen Dingen auskannte – um so mehr, als
Amélie immer fromm gewesen war, wenn auch eher im Tun als im
Schwadronieren.
Zudem wußte er, daß sie wußte, daß er sie
beobachtete, also wandte er sein Gesicht wieder ostentativ Trévoux
zu und ertappte sie aus den Augenwinkeln bei einem raschen,
verhohlenen Gähnen. Auch er selbst war hundemüde. Aber der Graf
öffnete noch eine weitere Flasche und prostete seinem Schwager zu.
Erst jetzt kam Theodor der Gedanke, daß Trévoux hier in der Provinz
wahrscheinlich nicht viele Gesprächspartner von einer gewissen
Bildung und Weltgewandtheit fand und womöglich aus lauter
Dankbarkeit die Höflichkeit ein wenig vernachlässigte.
Amélie verabschiedete sich, die Herren standen auf,
aber dann ließ Trévoux sich so zufrieden seufzend zurück in den
Sessel fallen, daß Theodor es nicht wagte, sich ebenfalls
zurückzuziehen.
Dafür schützte er am nächsten Morgen ein leichtes
Reisefieber vor, um der Jagd zu entgehen, zu der der Graf ihn
eingeladen hatte. Wie erstaunt war Amélie, die noch von den Zeiten
Mortagnes her wußte, wie sehr Theodor die Jagd verabscheute, am
Vorabend gewesen: Jetzt verstand sie die Art seines Fiebers sofort.
Kaum war die Jagdpartie außer Sicht, sprang Theodor aus dem Bett,
erklärte, er fühle sich schon viel besser, und bestellte ein
reichhaltiges Frühstück, das er in Gesellschaft seiner Schwester
und des kleinen Friedrich oder Frédéric in seinem Turmzimmer
einnahm.
So entstanden Tableaus eines harmonischen
Familienlebens, wert, von einem Glattmaler festgehalten zu werden,
obwohl es dessen für Theodor nicht bedurft hätte, denn er
durchlebte den Tag ohnehin, als betrachte er ein Bild aus ferner
zukünftiger oder vergangener Zeit: Der junge Mann, die junge Frau,
dazwischen der Knabe, Hand in Hand durch die Platanenallee
schlendernd, an der sonnenbeschienenen Mauer des Obstgartens
entlang, auf den sanft geschwungenen Wiesen von Linde zu Kastanie
spazierend, im Wildgehege, die zahmen Rehe fütternd.
Dieselben drei auf einem weißen Tuch, bedient von
Larbi, der aus Weidenkörben gebratenes Huhn, Wein und Brot
serviert, der Knabe spielt selbstvergessen mit dem hohen Gras, ein
Entdecker im Urwald der Tropen.
Im Haus mit starker Licht- und
Schattenkontrastierung: Der junge Mann am Spinett, die junge Frau
mit der Viola, geschlossenen Augen, konzentriert gespitztem Mund,
kurze Blicke der musikalischen Verständigung zwischen ihnen, im
Türrahmen die versunken lauschende Amme im hellblauen Kleid mit
weißer Schürze und Haube, das Kind im Arm, dessen Kopf im Schlaf
auf ihrer Schulter ruht, ein Ärmchen baumelt herunter.
Was kein Maler festhält, nur die sich von Moment zu
Moment schaffende Erinnerung: Das von den Hühnchenschlegeln
tropfende Fett und der intensive Duft des frischgebackenen Brots,
dazu die Schatten der über den Himmel segelnden Wolken und das
melancholisch stimmende, weil an den Herbst gemahnende
Windessäuseln im wie Meeresdünung gewellten hohen Gras, oder die
rasch zwischen ihm und Friedrich pendelnden Augäpfel der
Schwester.
Es drängte ihn, die Frage zu stellen, die ihm schon
seit dem Vorabend auf der Zunge brannte wie eine Aphthe;
dutzendfach hatte er sie im Geist bereits formuliert, damit sie so
unmißverständlich, aber auch so beiläufig wie möglich klänge, wenn
er sie schließlich ausspräche.
Nach der Musik, ein wenig außer Atem, die Haut
gerötet, die Konzentration in herzlichem Gelächter ausatmend, war
der Moment gekommen: Bist du glücklich, Amélie? Nicht einmal im Ton
einer Frage, sondern so, als stelle er etwas Augenscheinliches
fest.
Sie wandte sich mit ernster Miene zu ihm. Ja, sagte
sie erstaunt. (Warmer Schwall der Erleichterung.) Ja (und drehte
sich dabei suchend nach ihrem Sohn um, als hätte er nach ihm
gefragt, statt nach ihrem Glück). Ja, ich blicke nicht zurück, ich
lebe vorwärts.
Theodor schüttelte den Kopf, verärgert über diesen
Zusatz.
Aber vorwärts, da ist nichts. Deine Erinnerungen
müssen dich glücklich machen, sie sind alles, was man
besitzt.
Amélie sah ihn an, als wisse sie ganz genau, wovon
er redete, genauer, als er selbst es in diesem Moment wußte. Sein
Blick fiel auf die weiße, gedrechselte Wiege, in der schlafend,
eine weiße Mütze über dem rötlichbraunen Feenhaar, der Knabe lag,
mit beneidenswert glatter Stirn.
Erinnerungen sind Schimären, sagte Amélie.
Aber nein! widersprach ihr Bruder vehement. Es sind
Bilder und Empfindungen und Laute und selige Zustände... Der Stein
der Weisen, der mir fehlt, ist das Mittel, sie berührbar zu machen,
so wie ich dich jetzt berühren kann.
Denkst du viel an die Zeit, die vergeht?
An nichts anderes, hätte Theodor beinahe gesagt,
aber die Antwort wäre zu glatt gewesen. Die Zeit, die verging, das
war eines der Themen, die er nicht zu umfassen und zu verstehen
vermochte, an denen das ausgeworfene Netz seines Verstandes sich
aufdröselte oder abglitt. Statt dessen sagte er: Wenn alte Männer
sterben, geht ein ungeheurer Reichtum verloren. Bei Kindern ist das
nicht so schlimm...
Amélie fauchte ihn an: Und Friedrich, den du
liebgewonnen zu haben behauptest? Würdest du nicht dein Leben
opfern, wäre er in Gefahr?
Theodor blickte unwillkürlich auf die sorglose
Stirn des kleinen Kindes und fragte sich, ob die Liebe, die er zu
ihm empfand, im Zweifelsfalle tiefer ginge als sein
Selbsterhaltungstrieb. Meine gemalten Bilder eintauschen für leere
Leinwände? dachte er, an den mysteriösen Giorgione erinnert.
Für wen sonst als für ihn oder für dich sollte ich
das wohl tun? antwortete er nach einer Weile, und sie begannen,
über anderes zu sprechen.
Er erzählte von Venedig und den Festen und der
Mode, der Oper, den Tänzen, von dem, wovon er meinte, es
interessiere eine Frau mehr als Politik und Kriege, und beobachtete
zunächst befremdet, dann aber mit wachsender Bewunderung das
gleichmütige, wache, nicht leicht zu beeindruckende Interesse
seiner Schwester. Sie zu entflammen, sie dazu zu bringen, mir
nichts, dir nichts ihre Meinungen und Überzeugungen gegen andere
eintauschen zu wollen, ihr das Gefühl zu vermitteln, anderswo sei
alles schöner oder wichtiger und dorthin müsse man nun auf der
Stelle reisen, war unmöglich.
Wie schon als Kind besaß sie eine gewisse Indolenz,
etwas ruhig Duldendes, und wenn er vor dem anbrandenden, Farbe und
Form verändernden Meer des Lebens eine Möwe war, darüber
hinweggleitend, vom Wind getragen und gezaust, von Zeit zu Zeit wie
ein Pfeil in die Fluten tauchend und sogleich, mit oder ohne Beute,
wieder emporflatternd, dann war sie – ein ungalanter Vergleich, den
er nicht laut aussprach – die Kaimauer. An ihr zerschellte die
Brandung, unbeeindruckt bot sie der Wut wie der Verführung des
Elements die Stirn, und hinter ihr war Ruhe und Schutz. Im Lee
Amélies zu leben, wie der kleine Friedrich, das mußte Friede und
Glück bedeuten.
Dennoch, als die Truhen geöffnet wurden und Amélie
das mit Gold- und Silberfäden durchwirkte, mit wie Pfauenaugen
changierenden Rhomben bestickte Atlaskleid aus Venedig hervorzog
und es an ausgestreckten Armen hochhielt,
wobei ihr Blick von unten nach oben wanderte und sie das Kinn hob,
ging eine Veränderung mit ihr vor, eine Verjüngung. Die sanften
Nebel über den Augen zerrissen, Sonnenstrahlen reflektierten sich
in der Iris, ihre Zungenspitze schnalzte rosig im Mundwinkel, die
Finger, an die Handhabung von Stickrahmen und Gebetbuch gewöhnt,
zupften und flatterten, spielten mit der Luft wie Amselschwänze,
eine mädchenhaft ruckende und zuckende Beweglichkeit lockerte das
starre Hals-Schulter-Trapez, die mageren Schultern gingen auf und
ab, und in der schattigen Vertiefung direkt über dem linken
Schlüsselbein pochte unter der Haut eine Ader.
Amélie zog das Kleinod mit beiden Händen an die
Brust und drehte sich einmal um die eigene Achse, selbstvergessen
betört und beschwingt vom Gefühl des seidenweichen Stoffs auf ihrer
Haut, und das Kleid schwang wie eine Tänzerin um sie herum.
Theodor sah zufrieden zu: Mehr noch als zu hören,
sie sei glücklich, benötigte er den augenfälligen Beweis, daß sie
es nach wie vor tatsächlich zu sein vermochte.
Als sie durch den Park gingen, Hand in Hand,
spielten sie wieder – aber nur er wußte das, oder ging die innere
Übereinstimmung so weit, daß auch sie wortlos mitspielte und sich
verdoppelte? – Königskinder, und er zügelte seine Lust, die
gleichen Worte und Zärtlichkeiten mit ihr zu tauschen wie früher.
Trévoux war dabei eine blasse Trompel’Oeuil-Figur auf der Schwelle
zwischen Sein und Schein, seine Monologe über Glauben und Gott
tönten wie entfernte Kirchenglocken durch die durchlässige
Zeit.
Der kleine Friedrich fügte sich ganz natürlich in
Theodors Inszenierung, denn er lebte vollständig und innig in einer
Welt des Spiels, deren Realität beliebig viele Ein- und
Ausfallswinkel besaß. Er legte den drolligen, beinahe religiösen
Ernst wohlerzogener, körperlich ihrer Mutter zwangsentwöhnter
Kinder an den Tag, bei denen die abgeschaute
Etikette der Höflichkeit den eingeborenen Spieltrieb mit einer
gewissen gravitätischen Konzentration adelt. Auch während sie
miteinander um die Bäume schlichen oder durchs hohe Gras krochen,
blieb die feine Membran einer rührenden Förmlichkeit zwischen ihnen
bestehen, denn selbst mit erhitztem Kopf, roten Backen und
zerzaustem Feenhaar nannte der Wicht Theodor stets »Monsieur mon
Oncle«, und der siezte ihn ebenfalls und sprach ihn mit »Mon
petit bonhomme« an.
Theodor verwandelte sich sitzend in den Hafen von
Rhodos, seine gespreizten Beine die Kaimauern, sein aufrechter
Oberkörper der Koloß, und das windgewellte Gras glättete sich zum
Ozean, durch den Friedrich, Galeere und Kapitän Demetrios zugleich,
pflügte, um triumphale Einfahrt zu halten. Auf allen vieren formte
Theodor sich zu einem Pferd, nein, zu Cheiron, einem Zentauren,
verbesserte er. Qu’est-ce que c’est, Monsieur mon Oncle?
fragte der kleine Friedrich mißtrauisch und ritt dann auf ihm,
führte ihn, und als er begann, mit ihm zu ringen, spürte Theodor,
ohne daß es vieler Worte bedurft hätte, daß unterderhand eine neue
Wandlung mit ihm vorgegangen war, zum Bär, zum Berg, zur
Burg.
Amélie auf der Decke, die ihnen nachsichtig zusah,
als müsse sie gleich auf zwei Kinder achtgeben, und Larbi, ein
flötender Pan, der von einem Fuß auf den andern im Kreis
herumhüpfte, wurden zu Riesen, zu Bäumen, zu Felsen, zu Gebirgen;
zu schlafenden Löwen, zu Sphinx und Pyramide oder einfach
unsichtbar. Auch die Größenverhältnisse änderten sich ständig, und
waren sie eben noch in der Immensität der Natur verlorene
Menschenkinder, so ragten sie nun als titanische, nur aus
Himmelsaugen bestehende Götter über einen Kontinent, der nicht
größer war als Theodors Hand, ein winziges Stückchen sandiger Erde
mit Grashalmen, eine Welt vor der Geburt des Menschen, und
erschreckende Fabeltiere, Ameisen, Käfer und Schnecken,
durchquerten auf der Suche nach Futtergründen die von Theodors
Unterarm verschattete sonnenlose Steppe.
Nach Einbruch der Dunkelheit wurde das
venezianische Puppentheater aufgebaut, und Amélie musizierte mit
Theodors Diener, während er selbst für die großen, dunkelglänzenden
Augen seines Neffen spielte, dessen Vater still, die Bibel in der
Hand, am Kamin saß und zu ihnen herüberblickte.
Am folgenden Abend führte Amélie ihr neues Kleid in
einer Lyoner Gesellschaft aus, und als Theodor auf der nächtlichen
Heimfahrt von seinem Gastgeber erfuhr, dieser müsse am nächsten Tag
nach Paris und an den Hof abreisen, erklärte er kurzerhand, er
werde ihn begleiten.
Wenn sie wenigstens etwas gesagt hätte! Sie hätte
ihn ja nur zu bitten oder ihm Vorwürfe zu machen brauchen, statt
dessen das mißmutige Schweigen, dieser wie Säure sich in ihre Züge
fressende Ausdruck stummer Enttäuschung, die einen Schleier über
das Glück des letzten Abends legten, auch wenn er am Morgen schon
wieder verweht schien, so daß der Abschied in offenbarer Liebe und
Zärtlichkeit vonstatten ging. Hätte er ein erlösendes Wort der
Erklärung aussprechen müssen? Aber es war zu kompliziert, diese
Entscheidung zur Abreise erklären zu wollen, die wie alle seine
Entscheidungen schon ausgesprochen war, bevor er sich noch bewußt
zu ihr entschlossen, ja, von der er gleichsam nichts geahnt hatte,
bevor er sie sich nicht aussprechen hörte. Kopfschüttelnd, dem
lesenden Grafen gegenüber in der Kutsche, dachte Theodor: Ich habe
nie Gründe, etwas zu tun, immer nur hinterher
Rechtfertigungen.
Da war die Notwendigkeit, endlich nach Paris zu
kommen, um Ripperdas Auftrag auszuführen, da war die günstige
Gelegenheit, durch Trévoux wieder gnädig bei Hofe aufgenommen zu
werden, wo er sich durch seinen Treuebruch, erst für die Schweden,
dann für die Spanier zu arbeiten, vermutlich einige Gunst
verscherzt hatte. Aber der
Hauptgrund war ein anderer: Die Stunden und Tage mit Schwester und
Neffe, ja sogar mit dem Grafen selbst, waren so harmonisch
verlaufen, daß jede Verlängerung des Aufenthalts nur unweigerlich
ein Abfallen bedeuten konnte. Ein Erschlaffen der Glücksspannung,
die Theodor, so kam es ihm jetzt vor, drei Tage lang für alle
Anwesenden wie ein gestrafftes Seil in perfekter Linie hochgehalten
hatte. Aber nun wurde ihm der Arm lahm, und er mußte ein Ende
setzen.
So wie du alles beendest und es in Erinnerung
verwandelst, bevor du wirklich etwas über die Menschen und Dinge in
ihrem Wandel erfährst, dachte er, in Paris angekommen. Es war
seltsam und traurig, wie die Menschen Episoden blieben in seinem
Leben und verschwanden, bevor sie wirklich Realität gewannen.
Schmerzhaft, zu denken, dachte er vage lächelnd, daß es andersherum
vermutlich ebenso funktioniert. Wobei es ihm, war er ehrlich zu
sich selbst, wichtiger schien, ein unauslöschliches Mal im
Gedächtnis der anderen zu sein, als selbst zu genau und
eindringlich an deren Leben teilzuhaben. Nebst Verblüffung war es
denn auch eine seltsame Art von Freude gewesen, die er angesichts
von Amélies Schmollerei empfunden hatte.
Aber wer war sie, und was dachte sie, wenn sie
nicht an ihn dachte? Amélies zusammengepreßte, wie verschnürte
Lippen an jenem Abend vor dem Schlafengehen, Amélies helle, das
Sonnenlicht fangende Augen, als sie, die Hände auf dem Rücken
gefaltet, versucht hatte, eine im blauschwarzen Himmel stehende
Lerche zu entdecken. Ihr schräg geneigter Kopf, wenn sie auf den
mit dem Kinderfräulein spielenden Friedrich hinabblickte. Ihre sehr
gerade Gestalt wenn sie in die Kutsche stieg und die rechte Hand
ausstreckte, ein wenig aufwärts, am Handgelenk eingeknickt, um sie
Trévoux zu reichen, der ihr in den Wagen half. Ihre ihn ruhig
musternden Augen. Ihr seltenes perlendes
Lachen. Was erwartete sie vom Leben? Im Gegensatz zu ihm, Theodor,
war sie nie krank gewesen, er hatte sie nie krank daliegen sehen,
nichts tun, träumen.
Trévoux führte ihn wieder bei Hofe ein, wo sich
seit dem Umzug nach Paris alles verändert hatte. Einmal fuhr
Theodor hinaus nach Versailles, keiner der Springbrunnen
funktionierte mehr, über dem Park lag bleierne Stille, in der das
Gesirr der Stechmücken so laut war, daß ihm die Ohren davon
schmerzten.
Diskret und zuverlässig wie immer, erledigte
Theodor Ripperdas Mission, erstattete schriftlich und nach dem
Vigenère’schen System verschlüsselt Bericht, sandte das
Schlüsselwort separat per Boten nach Madrid, notierte Beobachtungen
über die französische Politik, wurde vom Regenten für den Erfolg
seiner ersten Reise belobigt – daß Görtz daraufhin exekutiert
worden war, konnte man schwerlich ihm anlasten -, erhielt neue,
kleinere Aufträge, das Aushorchen eines ausländischen Diplomaten
hier, eine ins Reich zu verbringende vertrauliche Depesche da, man
trug die Bitte an ihn heran, bei seiner nächsten Rückkehr nach
Spanien Erkundigungen über die dortigen Pläne anzustellen, und so
kam nach und nach ein neuer und äußerst praktischer Rhythmus in
seine schattenhafte Arbeit, die ihn in den nächsten Jahren kreuz
und quer über den Kontinent treiben sollte. Es war wenig
Weltfähiges darunter, obgleich man das oft nicht auf der Stelle
merkte, manches banal Anmutende stellte sich erst im Rückblick als
der Keim von etwas Bedeutsamem heraus, im allgemeinen aber ging es
weniger um Krieg und Frieden als um den alltäglichen diplomatischen
Geheimnis- und Intrigenhandel, bei dem es galt, gut zu reden, ohne
zuviel zu sagen, Vertrauen zu erwecken, Diskretion zu üben oder
gezielte Indiskretionen zu streuen, und der, wie Theodor einmal
scherzhaft einem Engländer anvertraute, ihn mit der Zeit die
Physiognomie
eines Windhunds annehmen ließ: ein stromlinienförmiger Kopf, um
zwischen allen Hindernissen hindurchzuschlüpfen, und ein leichter
Höcker oder Buckel, denn man war gezwungen, ständig den Kopf tief
zu halten, sei es, um nicht aufzufallen durch seinen wachen Blick,
eine Spur nicht zu verlieren oder immerzu a priori zu dienern, vor
Herren und Gegnern, Auftraggebern und Auszuhorchenden, Hoheiten und
Nichtswürdigen.
Theodors Aufenthalt in Paris fiel mit dem Skandal
der zusammenbrechenden Law’schen Bank zusammen, und als er in der
Rue Quincampoix seine Papiere in Geld umtauschen wollte, um ein
Haus in St. Mandé zu kaufen, kam er nicht durch die schreiende,
fuchtelnde Menge hindurch. Auch wenn vorderhand Ripperda sein Herr
war, traute er dem undelikaten Glücksritter, der mit seinem
Verhältnis zur Königin prahlte (wo die Farnese doch wenig
wählerisch war, was die Herkunft ihrer Liebhaber-Berater anging;
erst der zum Kardinal erhöhte Bauernlümmel und Krämer aus Italien,
jetzt der pfeifeschmauchende Faun in Holzpantinen) doch nicht so
weit über den Weg, seine Zukunft in Madrid fixieren zu
wollen.
Das Haus war noch nicht bezogen, da verloren
Theodors Aktien ihren gesamten Wert, und er stürzte sich, links und
rechts mit größtenteils erlogenen Sicherheiten Kredite beschaffend,
in den Spekulationstrubel, um die bereits erlittenen Verluste
entweder zu verzehnfachen oder in hundertfachen Gewinn
umzuwandeln.
Sein holländischer Freund und Geschäftspartner
Cats, der mittlerweile ein Kontor sowie ein Kredit- und Wechselhaus
in Paris unterhielt, ging ihm mit gutem Rat zur Hand, verlor jedoch
rasch die Übersicht über Theodors frenetische Transaktionen, die
weniger einem legitimen Willen zur Bereicherung geschuldet schienen
als einer kindlichen Lust, im wilden Spielgeraufe sich als der
Wildeste hervorzutun.
Mit einer Kombination aus sturer Wut und naivster
Sorglosigkeit lieh Theodor sich Geld, machte Schulden über
Schulden, gewann über Nacht zehntausend Livres und verlor sie am
nächsten Tag wieder. Die Bilanz dieser Berg- und Talfahrt zwang ihn
schließlich, im Frühjahr 1721, Paris bei Nacht und Nebel zu
verlassen, um nicht von einer Horde von Gläubigern vor Gericht
gezerrt und in die Bastille geworfen zu werden.
Die Frage ist, und sein Verhalten läßt beide
Rückschlüsse zu, ob er die Gesetze der Geldwirtschaft nicht
verstand oder nicht verstehen wollte und sie, sobald es ihm paßte,
verächtlich ignorierte wie ein adliger Grundherr das Gemurr seiner
unter der Steuerlast zusammenbrechenden Bauern.
Das Geld, welches er für den ihm gemäßen Lebensstil
benötigte, hatte dazusein, ob es gedeckt war oder nicht, ob es ihm
gehörte oder nicht, darüber wollte er weder reden hören noch
nachdenken müssen.
Dabei kam es vor, daß er, gekleidet wie ein Dandy
aus der Oper oder der Comédie Italienne kommend, sich mit
Menschen gemein machen, reden und diskutieren mußte, oder sogar von
ihnen angepöbelt wurde, im Gewoge schreiender, wahnsinniger Käufer
und Verkäufer stand, ein Taschentuch vor die Nase hielt, sein Hut
fiel, er wurde gepufft und gestoßen und warf sich später
schluchzend vor Erniedrigung auf sein Bett, lag drei Tage krank,
während die Gläubiger an der Tür kratzten. Larbi mußte ihm
Lindenblütentee servieren, ein Abbé wurde gerufen, und Theodor
hielt tränenreiche Beichte.
Sein Diener verstand instinktiv, daß zwischen dem
idyllischen Aufenthalt im Hause Trévoux, dem überstürzten Hauskauf
und den irrsinnigen, Theodors Ruf untergrabenden Spekulationen ein
Zusammenhang bestand und daß diese Selbstzerfleischung erst ein
Ende haben würde, wenn man wieder einmal auf Reisen ging oder
fliehen mußte, und
um eine Flucht vor ganz unterschiedlichen Furien würde es sich
diesmal handeln.
Theodor, angeekelt von sich selbst in die Kissen
vergraben, wußte im ruhigen Grunde seiner Seele recht genau, was
ihn umtrieb, ohne doch etwas daran ändern zu können oder zu wollen:
Er führte eine Art Kampf gegen sich selbst, wollte seinem
Reiseleben mit Gewalt eine Imitation von Amélies gesetzterem Dasein
aufpfropfen und bemühte sich zugleich, jeden Erfolg eines solchen
Unterfangens schon im Keim zu ersticken. Aber das war ein heikles
Thema, und er wollte nicht zu genau darüber nachdenken und
womöglich die Hintergründe seines Handelns verstehen.
Jenseits dieser selbstgesteckten Grenzen des
Nachdenkens waren es die tatsächlichen Beschränkungen seiner
analytischen Fähigkeiten, die ihn wütend machten. Er verstand
nicht, was genau da vorging. Er verstand nicht, wie es möglich war,
daß über Nacht greifbare Werte vernichtet, arme Leute reich wurden,
Schulden getilgt waren oder ins Unermeßliche stiegen.
Cats erklärte ihm, daß in Paris auf anarchische
Weise geschah, was in Amsterdam oder London auf sanfte längst
passiert war. Wenn Theodor es sich aber so sehr zu Herzen nahm –
was ansonsten kaum vorkam -, Dinge nicht zu verstehen, den
Law’schen Bankrott, die Rolle von Papiergeld und die moderne
Entwicklung des Handels, die sich vor seinen Augen abspielten und
zum Tag, zur Zeit, zum Leben gehörten, dann lag das auch daran, daß
in diesem Pariser Herbst und Winter sein ganzes Selbst- und
Weltverständnis noch von anderer Seite her erschüttert wurde, und
zwar derart, daß er sich aus seiner eigenen Zeit verstoßen fühlte,
und das ging gegen seine Würde.
Alles hatte mit einem anonymen Manuskript begonnen,
das in diesem Herbst vor seiner Drucklegung in den Pariser Cafés
und Clubs zirkulierte und das Theodor zitternd, mit aufgerissenen
Augen und aufgeblasenen Backen in seinem
Schlafzimmer in St. Mandé las. Die abgelegten Blätter übrigens
studierte, nicht zum besten einer seinem Rang anstehenden
seelischen und materiellen Genügsamkeit, auch Larbi, der bereits
bei seiner Ankunft in Frankreich hatte lesen und schreiben können.
Von Zeit zu Zeit hörte Theodor ihn durch die geschlossenen Türen
prusten und sich auf die Schenkel schlagen.
Eine Abschrift dieses Manuskripts war Theodor in
einem der Cafés und Clubs überreicht worden, wo er seine freie Zeit
zwischen finanziellen Eskapaden und politisch-gesellschaftlichen
Kontakten verbrachte. Die Männer, die sich dafür begeisterten und
darüber diskutierten, gehörten seiner eigenen Generation an, dachte
er bestürzt, und waren doch von völlig anderer Art als die
galanten, blasierten, spitzzüngigen, vergnügungssüchtigen
Herrschaften, die er in Versailles gekannt hatte, deren Liebe nur
sich selbst und dem alternden, dann uralten Monarchen galt und die
er ganz automatisch für die Jugend an sich gehalten hatte.
O wie Theodor jetzt spürte, daß man an einem Ort,
an diesem hier, geblieben sein und die Triebe des Zeitalters selbst
gepflegt haben muß, um seine ersten Blüten verstehen und schätzen
zu können! Es herrschte ein Ton unter den jungen Leuten, es wurde
ein Wort geführt, wie er es in dieser Impertinenz, in solch
ätzendem Kritizismus nicht nur noch nie gehört, sondern gar nicht
für möglich gehalten hätte.
In gewisser Hinsicht waren die Männer, die er traf,
Verwandte Sternharts, sie erklärten die Welt und die Verhältnisse
aus einem erschreckend materialistischen Geist und zerrissen wie
die Berserker die Spinnweben der Mysterien, die Theodor so teuer
waren, da von niemandem erwartet werden konnte, durch ihren
Schleier hindurch zu sehen, was genau dahinter lag.
Ein wenig reserviert wie gegenüber allen Menschen,
die so eindeutig eine Gruppe bilden, eine équipe, Menschen,
die gemeinsam gelernt haben und auf den starken Wurzeln ihres
Wissens austreiben wie die Bäume im Frühjahr, lauschte er, wie ihre
Worte einander ergänzten, und wurde auch dabei wieder an Sternhart
erinnert, den Studiosus von damals mit den vor Erkenntnisdrang
rotglühenden Ohren. Was mochte aus ihm geworden sein?
Er erinnerte sich, wie Sternhart mit großen Augen
und dem Quantum an Charme, das ihm möglich war, in einem Salon auf
ihn zugekommen war, weil er ihn mißverständlicherweise für einen
jungen adligen Mäzen hielt, einen Tölpel mit Geld, dem man für ein
paar Brosamen Geist eine monatliche Unterstützung aus der Tasche
leiern konnte. So nämlich hatte ihre Freundschaft begonnen, und
geendet hatte sie mit einer diskreten Prüfung, die die Académie
des Sciences anläßlich Sternharts Aufnahmegesuch anstellte, und
bei der er, Theodor, als Bürge genannt von seinem Freund, in den
Elogen über dessen Fähigkeiten ganz beiläufig auf sein Ketzertum zu
sprechen kam – Sternhart war ja Protestant – und ihn damit
jeglicher Chance beraubte, Mitglied der illustren Gesellschaft zu
werden. Was nichts genutzt hatte gewissermaßen, wäre es ihm damals
tatsächlich darum gegangen, den Freund klein zu halten, weil
beinahe zur gleichen Zeit der Ruf der preußischen Akademie
ertönte.
Ja, diese Verwandten Sternharts verblüfften,
beeindruckten, befremdeten Theodor. Woran lag es, daß diese
Menschen so redeten, wie sie redeten, und jeglichen Respekt und
alle Angst verloren zu haben schienen?
War es die Rückkehr des Hofes nach Paris, die
liberale Herrschaft des Regenten, der nach dem Tod des Sonnenkönigs
von den Leibern und Seelen gehobene Sarkophagdeckel, waren es ganz
einfach die Zeitläufte? Während Theodor vor den Drohungen seiner
Gläubiger mit der Bastille wie vor einer Todesstrafe zitterte –
mein Gott, alles, aber nicht die Hölle der Bastille! -, sah er mit
an, wie diese
jungen Männer, Adelige und dritter Stand bunt gemischt, ohne
gepuderte Zöpfe und in unifarbener billiger Kleidung, sich darüber
lustig machten, wenn einer der ihren wieder einmal von einer
Eskorte abgeholt und arretiert wurde.
Arouet, der ehemalige Notariatsgehilfe, der unter
seinem nom de plume vor zwei Jahren mit einem »Ödipus« einen
Theatertriumph davongetragen hatte, ein kleiner Mann, häßlich, mit
einer das Gesicht fressenden langen Hakennase und funkensprühenden,
braunen, tiefliegenden Augen, eine schwarze Strähne fiel ihm
beständig in die Stirn, der saß da im weißen offenen Hemd, als die
Uniformierten ihn wieder einmal abholten, und hob die Arme zur
Begrüßung.
Ah, Messieurs, ich habe Sie schon erwartet! Klein
und mager, wie er war, sprang er auf, seine Freunde standen Spalier
und applaudierten. Sie standen auch zwei Wochen später wieder
applaudierend Spalier, als der sehnige, sperberköpfige Mann mit
einem Stoß, der ihn stolpern ließ – er übertrieb das Stolpern
komisch, aber der Stoß hatte ihn wirklich aus dem Gleichgewicht
gebracht -, aus dem Tor des Gefängnisses entlassen wurde. Theodor
sah hin und sah nur die zwei tiefen Falten, die von der gewaltigen
Nase herabliefen, bevor der Mund mit den schlechten Zähnen sich zu
einem Grinsen verzog.
Der Kerl hat die Zähne zusammengebissen, dachte
Theodor inmitten der jubelnden Zuschauer, und er kann sie
zusammenbeißen. Es hatte etwas von einem Seiltänzer, wie er sich
bewegte. Rein in die Bastille, raus aus der Bastille. Verbannt nach
Sully-sur-Loire, und wieder zurück nach Paris. Und sie lachten
darüber.
Jenes Manuskript, die Geschichte der zwei Perser
Usbek und Rika mit dem unverschämten Porträt Ludwigs als »Großem
Zauberer« stammte angeblich von einem Adeligen aus der Provinz,
einem Baron de Secondat aus Bordeaux. Und nicht nur der kritische
Stachel der Schrift war
es, die Kritik am Monarchen und den Zuständen, an der Akademie
oder der Spott über die Religion, der Theodor schockierte, sondern
vor allem die Handhabung der Liebe und die Rolle der Frauen – in
dem Manuskript übrigens so gut wie im Leben dieser Herrschaften,
soviel er davon mitbekam.
Theodor hatte nämlich ein Auge auf eine blonde
junge Frau aus Arouets Clique geworfen und beschlossen, sie zu
erobern. Er nahm sie mit ins Theater, er dinierte mit ihr, über den
Tisch blickten sie einander in wortloser erotischer Herausforderung
an, und als Theodor sie nach Hause brachte und sich auf einige
Wochen prickelnder Spannung freute, voller Sehnsucht, Träume und um
den heißen Brei streichender Konversation, sagte sie: Komm rein,
ich habe ja auch Lust!
Willenlos vor Verblüffung ließ Theodor sich ins
Schlafzimmer ziehen, wo das Mädchen sich erwartungsvoll vor ihm
aufbaute.
Du hast Lust...? begann er tastend.
Ja, antwortete die Blonde lächelnd. Ich will, daß
du es mir jetzt machst.
Theodor schluckte und entgegnete: Nun, das hat den
Charme des Unmißverständlichen, was du da sagst.
Während sie seine Hose öffnete, mit der Hand darin
umhertastete und sie dann herauszog, um in schelmischem, nicht wie
Theodor befürchtet hatte, sarkastischem Ton »na, na« zu sagen,
seine Hand ergriff und sie unter ihren Rock führte, wie um ihm zu
beweisen, daß sie bereits ein ganzes Stück Wegs zurückgelegt hatte
und er nicht zu sehr trödeln dürfe, sondern sich ein wenig sputen
müsse, dachte Theodor an all das Betäubte und Betäubende, das mit
träumerisch-verschämtem Blick die Realität Glättende,
Verschönernde, Erhöhende, das geschlossener Augen Sehnende, das in
süßen Zähren den Abstand Dehnende, das Religiös-Epiphanische, das
in Warten und Bangen sich Erfüllende,
die aus Unsicherheit und Sinnlichkeit gemischte Religion der
Verführung – mit einem Wort: an seine eigene Liebesphilosophie, die
hier ad absurdum geführt wurde.
Der bange Verdacht beschlich ihn, daß Sternhart
damals recht gehabt und auch die jungen Frauen es auf nichts als
das rhythmische Gepfähltwerden abgesehen hatten. Mit herausfordernd
ironischer Neugier warteten sie darauf, ob der Hund, der Männchen
zu machen verstand, auch sein kleines Geschäftchen verrichten
könne, um dann, war alles erledigt, herzlich und schamlos über das
Vorgefallene zu lachen.
Warum möchtest du mir angehören? fragte Theodor.
Erkläre es, fasse deine Lust in Worte, die sie mir verständlich
machen und sie auf mich übertragen.
Ihr seid doch der Baron Neuhoff?
In der Tat.
Ich habe soviel von dir gehört: »Den verrückten
Baron« nennen sie dich.
Du hast von mir reden hören?
Ja, überall in den Cafés.
Das ist etwas anderes, sagte Theodor. Dann will ich
deine Neugier nicht länger auf die Folter spannen.
So wenig sie die Bastille ernst nahmen oder den
König oder die Traditionen, dachte Theodor danach, so wenig
achteten sie das Mysterium, das zwischen allem Lebenden wabert und
sein Innerstes, seine Identität schützt – auch und gerade vor den
eigenen Fragen.
Die eigenen Fragen! In den Gesprächen, die er im
Club de l’Entresol führte, mußte er feststellen, daß er
eigentlich kaum je Fragen gestellt hatte, jedenfalls nicht solche
von höherem Interesse.
Die eine entscheidende, die zu stellen ihm nie in
den Sinn gekommen war und die in der einen oder anderen Form jetzt
alles durchdrang und zersetzte und in sämtlichen
Gewißheiten wütete wie der Schwamm in den Mauern, bestand aus
einem einzigen einfachen Wort: Warum?
Es stimmte schon, er nahm die Dinge wie
unverrückbare Tatsachen, Gottes Werk, ob richtig oder falsch,
angenehm oder unangenehm, es war eben so, und anstatt die Tatsachen
auf ihre Festigkeit abzuklopfen, versuchte er, sich zwischen ihnen
hindurchzulavieren. Sie zu analysieren, zu kritisieren, in Frage zu
stellen, nach ihrem Ursprung, ihrer Rechtfertigung, ihrer Realität
zu fragen und sie womöglich zu verändern – dieser Gedanke wäre ihm
im Leben nicht gekommen. Es ist schon wahr, gestand er sich ein,
mit Menschen allein von meinem Schlag säßen wir noch immer in
Höhlen und heulten den Mond an – allerdings wäre es ohne Zweifel
ein höchst melodisches Geheule.
Einmal wurde er spitzfindig in diesen Tagen und
sagte: Wenn man die Vollendung der Welt anzweifelt, das heißt
Gottes Werk in Frage stellt, geschieht das nicht eher, um von dem
Abgrund abzulenken, der uns selbst von unserer persönlichen
Vollendung trennt?
Um ihn herum wurde gelächelt – lautlos, aber doch
spürbar für Theodor, und so entwürdigend, daß er beschloß, diese
Menschen zu meiden. Es war das Lächeln derer, die ihre gemeinsame
Vergangenheit stark macht, und jemand fragte ihn, was von einer
persönlichen Vollendung zu halten sei, an der eine kritikable Welt
und Gesellschaft neun Zehntel der Menschheit hindere, siehe die
Steuerlasten auf dem dritten Stand, das Elend der Landbevölkerung,
siehe die moralische Verkommenheit derer, deren Beruf es ist,
zwischen Gott und uns zu vermitteln.
Theodor war froh, als neue Aufträge und der Druck
der Gläubiger ihn schließlich aus Paris vertrieben. Und doch vergaß
er diese Erfahrung nicht, versuchte sich ihrer zu erwehren und
seinen eigenen mäandernden Weg zu behaupten. Wie kommt es denn nur,
fragte er sich, daß ich, der mehr von der Welt gesehen hat als sie
alle zusammen, mich
von ihren Theoremen einschüchtern lasse? Dennoch nahm er sich in
den folgenden zwei Jahren der Reise, der geheimen Geschäfte und
Spionagedienste vor, den Ernst der Zersetzer, ihre bohrende
Fragekultur zu beherzigen.
Was bleibt zu sagen? Er beneidete sie. Er beneidete
sie, wie er Mortagne, Sternhart oder Görtz beneidet hatte. Überwand
sich auch zu lesen, viel zu lesen, aber dann erschlafften seine
großen Vorsätze wieder, und er begnügte sich mit seinen
Erinnerungen, Bildern und Anekdoten, denn im Jahr 1724 heiratete
und verliebte er sich in Madrid, alles in kürzester Zeit, und was
immer er in den Cafés von Paris gehört hatte, verschwand, als hätte
er endgültig darüber gesiegt.