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Am Abschlag

Saidhbh zu heilen ist der größte Müll. Die Irrenanstalt hat eine ganz neue Frau aus ihr gemacht, und sie ist total hochnäsig und vorlaut. Nächste Woche ist Weihnachten, und ich brauche volle fünf Tage, um sie zu überreden, dass ich auch nur versuchen darf, sie zu heilen. Und selbst dann guckt sie die ganze Zeit auf die Uhr und sagt mir, ich soll mich beeilen.

Im Schlafzimmer habe ich alles schon vorbereitet. Schön dunkel, nur drei Kerzen brennen. Und im Hintergrund läuft indische Pling-Plong-Musik, eine von Deanos Kassetten. Ich habe noch keinen Massagetisch, aber ich werde ihn mir zusammensparen, sobald ich erst mal die volle Summe für die Flüge hingeblättert habe – wobei ich, was das angeht, in ernsthaften Schwierigkeiten stecke und nervöse Anrufe von Pika bei Kilburn-Student-Travel bekomme, die sagt, dass ich nur noch zwei Tage habe, um für die Tickets zu latzen, ansonsten verfallen die Flüge und ich werde mir einen anderen Weg suchen müssen, um bis Weihnachten zurück nach Dublin zu kommen. Was bei einer einzigen verbleibenden Woche etwas viel verlangt ist.

Jedenfalls muss ich die Heilung auf dem Boden vornehmen, auf einer Luftmatratze, neben der ich auf den Knien rumrutsche, wenn ich mich am Körper entlangbewege. Saidhbh ist überhaupt nicht bei der Sache und sagt, dass sie für ihre Mappe noch haufenweise zu tun hat und dass ich hinne machen soll. Sie hat einen beinharten Abgabetermin für ihre Kursbewerbung vor sich – einen, bei dem man in einer Schule in Chelsea ein ganzes Jahr lang nichts als Malen lernt und wo man nur zeichnet und malt und Kunstsachen macht. Sie sagt, dass Toby, einer von den Beschäftigungstherapeuten aus der Psychoklinik, der eine Skinheadfrisur und riesengroße Ohrringe hat, auch in Teilzeit als Lehrer an der Schule in Chelsea arbeitet. Und dass er für sie ein gutes Wort einlegen wird, damit sie in den Einjahreskurs reinkommt mit der Aussicht, danach noch drei Jahre dranzuhängen. Toby, sagt sie, glaubt an ihre Bilder. Er sagt, dass sie unverfälscht und echt sind und etwas über die absolut schmerzhaften Erfahrungen einer Frau in der modernen Welt aussagen. Und wenn sie ihre Mappe mit zwanzig weiteren Superklassebildern aufpolstert, sollte es ein Klacks sein, da einen Fuß in die Tür zu bekommen.

Laut Toby wird sie dann allerdings umziehen müssen. Sie kann doch nicht jeden Tag quer durch London gondeln, wenn es nahe Chelsea massenweise besetzte Häuser gibt, in denen es massenweise Kunststudenten gibt, die total gerne den ganzen Morgen lang mit Saidhbh abhängen würden, um ihre Bilder zu vergleichen und danach Drogen zu rauchen und über die großen Meister zu reden und auch ein bisschen sauer darüber zu sein, dass Maggie Thatcher und die Geschäftsleute mit den roten Hosenträgern die Leute alle irgendwie ein bisschen egoistisch machen. Toby wohnt auch in einem besetzten Haus, sagt sie. Er glaubt nicht daran, dass man ein eigenes Haus und haufenweise Geld braucht. Alles, was er hat, steckt er in Kunstzubehör und Ohrringe. Er will auf jeden Fall was von Saidhbh. Er hat sogar schon Tante Grace getroffen, nur einmal, aber schon nach dem einen Treffen draußen auf der Straße neben seinem Fahrrad hat sie befunden, dass er »der Richtige« ist. Als er weg ist, kommt Tante Grace in Saidhbhs Zimmer gestürmt – sie teilt es sich jetzt, wo sie sich nicht mehr umbringen will, wieder mit Fiona – und sagt ihr, direkt vor Fiona, dass Toby trotz des Skinheadhaarschnitts der absolute Sechser im Lotto ist und dass sie ihn sich warmhalten sollte, koste es, was es wolle.

Fiona erzählt mir die ganze Geschichte noch am selben Abend, und ich habe das starke Bedürfnis, mir eine Kugel in den Kopf zu jagen. Ich finde es nicht fair, dass ein Mensch so was tun kann. Dass eine Tante plötzlich zu einem Skinheadkünstler auf einem Fahrrad hält statt zu ihrem eigenen Neffen, obwohl sie gesehen hat, was ich alles gemacht habe, und was für Pläne ich für Saidhbh hatte, als sie noch weg war. Und wie ich das Heilen geübt habe. All die Trainingseinheiten. Und ich finde es auch nicht fair, dass Saidhbh einfach durchs Tor einer Irrenanstalt rausspazieren und ihr gesamtes altes Selbst wie eine alte Bomberjacke zurücklassen kann, von der es einem egal ist, wenn man sie auf einem Silvester-Hoolie verliert. Oder dass sie plötzlich so tut, als wäre sie total reif und erwachsen, und mich so behandelt, als wären wir plötzlich wieder einfach beste Idiotenfreunde oder als wäre ich wieder einfach nur dieser kleine Kerl, der auf den Partys seiner Schwestern im Spiderman-Schlafanzug rumrennt. Als wäre das Ganze ein blöder zerplatzter Traum, alles, von vorne bis hinten. Welt ohne Ende.

Es ist zum Verrücktwerden. Wirklich. Oder zumindest ist das jetzt der Moment, in dem man sich den Schädel an so einem klobigen Baumstumpf einschlagen könnte. Leider habe ich gerade keinen Baumstumpf zur Hand und nehme stattdessen mein Kopfkissen. Ich habe einen guten alten Wutanfall, allein in meinem Zimmer unter dem Rubber-Soul-Poster, und wimmere durch meine Tränen hindurch und schreie ins Bettlaken, und zwischendurch denke ich noch, dass es sich für Heathcliff im englischen Niemandsland vermutlich genau so angefühlt hat und er sich so dachte: Oh Mann ey, Frauen sind total irre und bringen mich um den Verstand!

Als Fiona ins Zimmer kommt, wird alles nur noch schlimmer. Von dem Wutanfall bin ich irgendwie ziemlich verschwitzt, aber sie sieht mich trotzdem so liebevoll an, dass ich mir so jung vorkomme und so klein, dass ich nicht weiß, ob ich aufspringen und mich ihr in die Arme werfen soll, damit sie mich für den Rest meines Lebens himmlisch umarmt, oder ob ich brüllen soll, sie soll sich verpissen und dass ich kein verdammtes Baby mehr bin. Ich tue gar nichts und vergrabe stattdessen meinen Kopf endgültig im Kissen. Aber Fiona ist einfach die Beste und streichelt mir nur über den Hinterkopf und sagt mir, dass ich versuchen soll, mich für Saidhbh zu freuen, weil sie so viel durchgemacht hat, und dass wir und alle anderen schon seit Ewigkeiten nicht mehr erlebt haben, dass es ihr so gut geht wie jetzt.

Ich wimmere noch ein bisschen, und Fiona streichelt noch ein bisschen, und in die Stille hinein sagt sie mir, dass ich mir wegen Toby keine Sorgen machen muss, und obwohl er dreimal so alt ist wie ich und einen tollen Job in Chelsea hat, ist er nicht einmal halbwegs so ein Mann wie ich. Damit bekommt sie mich dazu, mich langsam wieder ins Leben zurückzuschniefen wie ein verheultes Kleinkind, dem gerade klar wird, dass es doch noch einen Nachschlag vom Eis bekommt.

Ich sehe Fiona direkt in die Augen.

Und was ist mit dem Heilen?, sage ich in völliger Verzweiflung, weil ich helfen will und mich beweisen.

Zeig’s ihr!, sagt Fiona wie aus der Pistole geschossen. Und ihm! Soll heißen: Toby.

Dann hält sie mich fest bei den Händen und sagt mir, kein Flachs jetzt, dass ich mich frisch machen und runter zu Saidhbh gehen und ihr unmissverständlich klarmachen soll, was die hier, also meine Hände, alles draufhaben!

Als ich mit dem Heilen anfange, kichert Saidhbh ein bisschen und guckt mit Schlitzaugen andauernd heimlich dabei zu, wie ich versuche, den Rand ihres Feldes zu finden. So ist es fast unmöglich, sich zu konzentrieren, und am Ende werde ich etwas sauer und überspringe diesen Teil und auch den Chakra-Test und mache mich direkt ans Sehen mit dem Dritten Auge. Das klappt auch nicht, und ich sehe nichts anderes, als dass Saidhbh in ihrer Latzhose und Doc Martens vor mir liegt und sich auf die Lippe beißt, weil es einfach zu komisch ist, wie bekloppt ich geworden bin, während sie in der Klapsmühle saß. Jedes Mal, wenn ich einen tiefen Atemzug nehme, kichert und grinst sie. Und sie sagt Sachen wie »Finger weg«, wenn sich meine Hände ihrem Wurzelchakra oder ihrem Herzchakra auch nur nähern. Ich versuche, ihr zu sagen, dass sie den Quatsch lassen und das hier ernst nehmen soll, weil bei dem kranken Huhn im Londoner Zoo hat es wunderbar funktioniert. Aber das interessiert sie gar nicht.

Ich kann sie nicht lesen, weder physisch noch kosmisch. Ich stöpsle meine Haralinie ungefähr zehnmal neu ein, doch bei keiner meiner Einatmungen aus den Tiefen der Seele des Universums tut sich etwas. Nicht einmal ein Flackern. Keine Schwingungen. Keine Farben, kein Leuchten, keine Drehungen. Nichts. Helen hat uns gewarnt, dass es solche Sitzungen geben kann. Sie hat gesagt, sollten wir uns je in so einer Situation befinden – und betet zu Gott, dass das nicht passiert –, kann dies nur eines von zwei Dingen bedeuten: Entweder die Person, die du heilen willst, ist tot, oder du bist, ganz offen gesagt, kein Heiler. Du hast es nicht drauf.

Für ein bis zwei Sekunden frage ich mich, ob Saidhbh vielleicht tot ist. Vielleicht hat sie sich in der Klinik endgültig umgebracht, und das hier vor mir ist nichts anderes als eine schauderige Erinnerung an sie. Wobei das unwahrscheinlich ist. Zum einen hätten wir in den frühen Morgenstunden einen Anruf von der Psychoklinik bekommen. Und zum anderen schwitzt der Körper vor mir um den Mund herum und in der Stirngegend schon leicht, weil es so anstrengend ist, das Lachen zu unterdrücken.

Wir brechen die Sitzung früher als geplant ab. Ich spare es mir, meine Geistführer anzurufen, um mit ihrer spirituellen Essenz zu sprechen. Saidhbh kann sehen, dass ich niedergeschlagen bin, und versucht, mich aufzumuntern, indem sie sagt, dass sie sich total super fühlt und total entspannt und ruhig und wie neugeboren. Sie ist schon halb zur Tür raus, da sagt sie noch, dass wir das definitiv noch mal machen können, in ein bis zwei Monaten, und dass ich eine wahrhaftige Gabe in diesen meinen Händen trage.

Zur Arbeit gehe ich so traurig, wie ich es seit Ewigkeiten nicht mehr gewesen bin. Ich hab genug von mir und meinem Leben. Mein Kopf fühlt sich so an, als hätte man mir einen Eimer voller Kleber aufgesetzt, und ich könnte jeden Moment in Tränen ausbrechen. Tante Grace hatte recht. Helen hat einen an der Klatsche. Der ganze Eso-Peso-Scheiß war für die Katz.

Border Town ist komplett weihnachtlich dekoriert, mit Lametta auf den Mexikanerhüten und Lichterketten quer durchs Restaurant. Natürlich ist O’Culigeen schon da, als ich reinkomme, und glotzt mich von seiner Tischecke aus an wie der Klopapierwelpe aus der Fernsehwerbung, was mich so sauer macht, dass ich ihm am liebsten eine ganze Pfanne kochendes Fajita-Fett über den Kopf kippen würde. Ich schlurfe quer durchs Restaurant zum Raum für die Mitarbeiter, wo Billy heimlich eine Zigarette raucht und zu allem Überfluss auch noch ziemlich schlechte Laune hat. Er motzt mich ein bisschen an, als ich ihm sage, dass mein Schließschrank leer ist und ich mein zweites Abräumer-Outfit zu Hause vergessen habe, und kann ich bitte eine seiner schwarzen Schürzen borgen? Er hält mir eine Ministandpauke darüber, dass ich mich wie ein kleines Kind benehme und nicht für mich selbst einstehen kann, und mittlerweile sollte ich meine Schürzen beisammenhalten können. Jetzt fühle ich mich noch nutzloser. Doch fast augenblicklich wedelt sich Billy mit den Händen vorm Gesicht herum und entschuldigt sich für seine Laune und sagt, dass seine Kumpels von der Dinnerparty heute vorbeikommen und er deshalb ein dünnes Fell hat. Ich frage nicht, warum. Er bleibt noch eine Weile vor seinem Spind stehen und sorgt dafür, dass er gut und fest verschlossen ist, indem er ihn ungefähr fünfmal hintereinander zuknallt.

Und tatsächlich kommen Roger und Jamie mit Soz im Schlepptau nach nicht mal einer Stunde vorbei, in Jeans und engen weißen T-Shirts und Weihnachtsmützen, und sie sehen alle supersauber und frisch aus und irgendwie total schnieke. Billy platziert sie direkt gegenüber von O’Culigeen, wodurch er noch bärtiger und pennermäßiger aussieht und sie selbst noch mehr wie drei aufgeregte Billardkugeln, die einander fröhlich über den Tisch dotzen. Sie tun lustige Dinge, die schwule Männer so tun, zum Beispiel bestellen sie einen riesigen Pitcher Margaritas und klatschen aufgeregt, als er an ihren Tisch gebracht wird, und machen Witze über die Chimichanga, indem sie sich gegenseitig fragen, ob sie auf dicke heiße Fleischrollen stehen. Sie amüsieren sich prächtig, und wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich denken, dass sie noch lauter und schwuler sind als sonst. Roger beispielsweise schnappt sich einen von den Mexikanerhüten von der Wanddeko neben sich und liefert eine Riesenshow ab und tut so, als wäre er ein Mexikaner. Nur dass er damit nicht nur seine Jungs unterhält, sondern auch alle anderen Tische, und definitiv O’Culigeen.

Ich bin immer noch ein ziemlicher Zombie und habe noch nicht verdaut, dass meine Heilkünste unter aller Sau sind, obwohl ich ein helles, glühendes Licht in mir habe. Ich vertue mich mit jeder Menge Bestellungen. Ich bringe einen einsamen Teller Enchiladas zu einer sechsköpfigen Familie, obwohl das die Vorspeise für zwei Mädchen nahe der Bar ist, die sie sich teilen wollten. Dann bringe ich fröhlich Hauptspeisen zu einem von Billys Tischen, wo die Leute noch bei den Nachos sind und gerade auf ihre erste Runde Getränke warten. Und ich lasse eine andere Familie, die auf dem Weg ins Theater ist, zum zweiten Mal Kaffee bestellen und vergesse, es Billy zu sagen. Die machen einen ziemlichen Aufstand, und der Dad sagt beim Rausgehen, wenn sie wegen meinem vergessenen Kaffee zu spät zu Les Misérables kommen, dann kommen sie zurück, um sich von Trevor höchstpersönlich das Geld für die Tickets zurückzuholen.

In Zeiten wie diesen muss man wirklich stark sein, um nicht anzufangen loszuheulen, und wenn Billy und alle anderen mir nicht sagen würden, dass die Kunden Spastis sind und ich einen guten Job mache, wäre bei mir schon längst Land unter. Was mir aber wirklich den letzten Nerv raubt, sind diese zwei Typen in hässlichen irischen Pullis und grauen Bügelfaltenjeans, die reinkommen und sich an die Bar setzen, aber direkt neben die Tische, die Billy bedient. Sie starren mich während der ganzen Wir-müssen-ins-Theater-Geschichte an und rühren auch ihr Essen kaum an. Jedes Mal, wenn ich an ihnen vorbeihetze, schnappe ich Gesprächsfetzen von ihnen auf, und weil sie sich trotzdem so anhören, als hätten sie einen vollen Mund, bin ich mir ziemlich sicher, dass sie aus Dem Norden kommen, vermutlich aus Belfast.

Ich nehme meinen Mut zusammen und stelle mich der Wahrheit und beschließe, dass es vermutlich zwei IRA-Killer sind, die Taighdhg Donohue mir aus Der Bewegung auf den Hals gehetzt hat, um mich umzulegen, und der bloße Gedanke daran beschert mir einen plötzlichen Anfall von Flitzekacke. Ich renne aufs Klo und sitze in der Kabine, und in meinem Kopf dreht sich alles, während ich versuche, mich an diesen Witz zu erinnern, den Mam über Flitzekacke erzählt hat, wo irgendwie der Arzt sagt, Sie haben also Durchfall, wann haben Sie das gemerkt, und der Patient sagt, als mir mein Stift runtergefallen ist.

Erst nach einer halben Stunde komme ich wieder in den Gastbereich, und plötzlich ist alles anders. Die IRA-Typen sind immer noch da, aber ich fresse einen Besen, wenn das nicht O’Culigeen ist, der bei Roger und den anderen am Schwulentisch sitzt. Alle scharen sich um O’Culigeen und haben ihm sogar eine Weihnachtsmütze auf den Kopf gesetzt und kippen sein Glas randvoll mit Margarita und klopfen ihm auf die Schulter und lachen sich über die lustigen Geschichten schlapp, die ihm in Papua-Neuguinea passiert sind, als er da in der Missionarsstation war. Als ich mich dem Tisch nähere, erzählt er gerade, wie er mal vor den Wilden aus Spaß so getan hat, als würde er ihren Kopfschmuck mit einem exotischen Fruchtcocktail verwechseln, und alle lachen sich über so ein Land kaputt und wie plemplem die da alle sind. Ich versuche, mich an ihnen vorbeizuducken, doch O’Culigeens Arm schnellt schon hervor, und im Suff packt er mich und zieht mich zum Tisch. Er befiehlt mir, einen neuen Pitcher Margaritas für seine neuen besten Freunde zu bringen, und versucht, alle mit der Tatsache zu überraschen, dass wir alte Bekannte sind. Von früher, lallt er und macht anschließend ein absichtlich schiefes Kreuzzeichen in die Luft. Die Jungs lachen schon wieder und scheinen sich für unsere Geschichte nicht sonderlich zu interessieren und wünschen sich stattdessen noch mehr Geschichten von O’Culigeen, aus seinen Tagen als Priester. Die Beichten! Ja, erzähl uns was von den Beichten! Nur keine Scheu! Die Schlimmste? Die Schmutzigste? Ja. Erzähl sie uns alle!

So geht es den ganzen Abend lang weiter, und die Schwulen und O’Culigeen sind mit Abstand der lauteste Tisch, sogar noch, als die Rausschmeißermusik angemacht wird. Das sind die letzten beiden Stunden Service, wo ein winziger Bereich vor der Bar frei gemacht wird und sich das Restaurant in eine halbe Disco verwandelt. Wenn man an diesem Punkt reingestolpert kommt, kann man so viel saufen, wie man will, der Trick ist, dass man zu seinem Drink auch was zu essen bestellen muss, damit jeder weiß, dass das hier keine richtige Disco ist, sondern immer noch ein Restaurant.

Nach Mitternacht und trotz drei Bronski-Beat-Nummern hintereinander lichten sich schließlich die Reihen. Um die Bar rum ist praktisch nichts mehr los, da sind nur noch die IRA-Typen und ein Tisch mit müden Junggesellinnen. An Billys Tischen sitzen nur noch die Schwulen und O’Culigeen, der mittlerweile schon nicht mehr geradeaus gucken kann. Und genau jetzt passiert es.

Das hier solltest du nicht verpassen.

Das sagt Billy zu mir, total ernst und im Flüsterton, als er in einem verrückten manischen Marsch an mir vorbeizischt, in seinen Bereich. Ich folge mit etwas Abstand und beobachte, wie er sich an den Schwulen vorbeischleicht und Roger zunickt, bevor er hinten im Umkleideraum verschwindet. Roger, Jamie und Soz stehen plötzlich auf und hauen O’Culigeen halb im Scherz die Weihnachtsmütze vom Kopf und ziehen ihn hoch und sagen, dass sie ihm dahinten etwas ganz Besonderes zeigen müssen. O’Culigeen lacht laut los und sagt, dass er ganz genau weiß, was so Londoner Jungs wollen, und macht einen großen Witz draus, sich an seinen eigenen Gürtel zu greifen und ihn fest zuzuziehen, um sich vor einer dreifachen Pimmelattacke zu schützen.

Die Schwulen lachen noch mehr und packen ihn und wuchten ihn ein wenig in die Höhe. O’Culigeen lacht und zappelt und haut ein bisschen zurück. Und dann, ganz plötzlich, verwandeln sich die Gesichter der Männer genau gleichzeitig zu Stein, und sie haben alle den gleichen Gedanken. O’Culigeen versucht, einen Satz nach hinten weg vom Tisch zu machen, doch gegen einen Hünen wie Soz hat er keine Chance. O’Culigeen macht keinen Mucks, wehrt sich aber nach Leibeskräften, als sie ihn zu dritt in Richtung Umkleide zerren. Wieder folge ich ihnen mit einem gewissen Sicherheitsabstand, und als ich an der großen roten Tür mit dem schmalen viereckigen Fenster angekommen bin, haben sie ihm schon eine Decke über den Kopf geworfen, so eine Art Picknickding. Ich traue mich nicht reinzugehen, aber ich sehe ihnen durchs Fenster zu, wie Roger die Baseballschläger aus Billys offenem Schließschrank verteilt und die Männer anfangen, alle vier, auf ihn einzukloppen.

Die Baseballschläger machen auf O’Culigeens Körper das verrückteste Geräusch überhaupt. Es klinkert und klonkert, wenn das Holz auf die Knochen trifft, die O’Culigeens Arme und Beine sind und unter der Decke zappeln und treten, in der Hoffnung, den Schlag abzuwehren, sich zu schützen. Aber dann und wann prallen sie volle Kanne auf seinen Kopf, und es macht laut und hohl pock! Und dann wissen sie, Jackpot, und machen genau da weiter. Was die Prügel angeht, geht Roger mit gutem Beispiel voran und kann in der kürzesten Zeit die meisten Treffer für sich verbuchen. Und dabei sagt er noch ziemlich oft Motherfucker und klingt plötzlich richtig amerikanisch. Für jeden Hieb von den anderen kommt er auf mindestens drei. Aber irgendwann finden sie einen Rhythmus, wie vier Typen von früher, die irgendwo am Arsch der Welt mit ihren Vorschlaghämmern einen riesigen Holzpfahl in die Erde rammen, während einer von ihnen ständig Motherfucker sagt.

O’Culigeen dagegen sagt nix. Von ihm da unten unter der Decke hört man keinen Pieps. Es ist so, als würden alle genau wissen, warum sie hier sind. Sogar er. Als Roger irgendwann einen Schritt zur Seite macht und ich durch das dicke Glas einen ordentlichen Blick auf die Szene werfen kann, ist O’Culigeen schon zu einem überraschend winzigen Häufchen in sich zusammengesackt. Er ist nur noch eine Hand, mit Blut dran, die unter der Decke hervorlugt. Die Hand macht nicht mehr viel, aber ich könnte schwören, dass sie sich nach Vergebung ausstreckt, und zwar in meine Richtung. Und in dem Moment sehe ich ganz plötzlich O’Culigeen als kleinen Jungen am Arsch der Welt aufblitzen, wie er von seinen großen Brüdern fertiggemacht und verkloppt und hinten in die Scheune mit dem Heu gezerrt wird, wie sie ihn schlagen, ihn vermöbeln, und Nimm das und das und das!

Billy sammelt die Baseballschläger hastig und aufgeregt ein und packt sie in seinen Schrank. Die Männer lesen O’Culigeen auf, der jetzt ganz wabbelig ist, immer noch mit der Picknickdecke drauf. Billy tritt die Hintertür vom Mitarbeiterraum auf, wirft einen Blick die dunkle Gasse rauf und runter und gibt seinen Freunden das Zeichen, sich vom Acker zu machen. Während sie dies tun, lehnt sich Billy zu dem Überwurf und flüstert etwas Wütendes, etwas, bei dem er seine Zähne zeigt, zu dem O’Culigeen-Klumpen, der rausgeschleift und am Ende irgendwo abgeworfen wird, irgendwo, scheißegal. Wenn er Glück hat, vor einer Notaufnahme. Wenn er Pech hat, irgendwo in Soho, in einer Seitenstraße.

Ich entferne mich vom Umkleideraum, bevor Billy mich finden und auf freundlichste Art und Weise ein Zeichen meines Dankes einfordern kann. Schneller denn je laufe ich raus aus dem Restaurant, an den IRA-Killern vorbei, direkt zur Tür raus, noch in meiner Uniform.

Ich warte auch gar nicht erst auf das Mitarbeitertaxi, sondern laufe stattdessen den ganzen Weg nach Hause durchs weihnachtlich besoffene London. Ich laufe wie in Trance, wie der Typ in Kung Fu, und laufe mit dem Wind im Rücken um den Hydepark herum und quer durch die Überbleibsel von Büroweihnachtsfeiern in Queensway und an den bis in die Nacht hinein geöffneten Bars in Notting Hill, und, ohne einen einzigen Blick drauf zu werfen, geradewegs am Eingang von Grace’s Angels vorbei und dann die Ladbroke Grove rauf über die Harrow Road und schließlich nach Queen’s Park und dann nach Kilburn und bis ans letzte Ende der Glengall Road.

Ich brauche fast anderthalb Stunden voller leerer, kopfloser Schritte, und als ich schließlich wie ein Roboter in Tante Grace’ Flur marschiert komme, sind alle Lichter an, und alle sind wach und warten auf mich. Und mit alle meine ich alle inklusive meiner Schwestern Sarah und Siobhan.

Sie stehen schweigend im Wohnzimmer, umringt von Grace, Deano, Fiona und Saidhbh. Als wären sie die leiseste Überraschungsparty der Welt. Sie sehen mich mit merkwürdigen, wechselnden Gesichtsausdrücken an. Von Mit-uns-hättest-du-nicht-gerechnet-was? bis Fuck!

Es geht um Dad, sagen sie schließlich nach einer Ewigkeit verrückten Grimassenschneidens. Seine Zeit ist gekommen.