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Der Terminator
Nach der Abtreibung ist Saidhbh irgendwie ein bisschen gaga. Ich sage jetzt mal Abtreibung, aber wir haben die ganze Sache nicht durchgezogen. Die waren zwar meganett in dem Zentrum. Das war so ein riesiges altes Gebäude mit hohen Decken und dicken Türen aus der Zeit von Sherlock Holmes und so, und mit vier Stockwerken, alle für Abtreibungen, mitten im Herzen von London, nördlich vom Oxford Circus. Ich kenne den Namen Oxford Circus gut, wie jeder in unserer Familie. Das ist die U-Bahn-Station, die Sarah und Siobhan beinahe für immer verschluckt hätte, als sie als Mädchen mit Mam und Dad in London im Urlaub waren, während Fiona, Claire und Susan mit Tante Una zu Hause geblieben sind. Da war ich noch nicht mal auf der Welt, aber die Geschichte habe ich schon millionenfach gehört: Wie Mam und Dad in der U-Bahn-Station Oxford Circus von den sechsjährigen Zwillingen Sarah und Siobhan getrennt wurden und wie sie rauf zur Straße gerannt sind, todsicher, dass sie ihre geliebten Zwillinge nie wiedersehen, und wie die beiden Mädchen plötzlich mit schuldbeladenen Gesichtern auf der komplett anderen Seite der Kreuzung aufgetaucht sind. Mam und Dad brüllten: Bleibt, wo ihr seid! Und dann rannten sie quer über die geschäftige Kreuzung und versohlten den beiden ordentlich den Po für den schlimmsten Schock ihres Lebens. Und danach haben sie bei Wendy’s einen Burger gegessen.
Von der U-Bahn-Station Kilburn brauchen wir gerade mal eine Viertelstunde bis zum Oxford Circus, obwohl Tante Grace alles versucht hat, um uns davon zu überzeugen, von Kilburn aus zurück zur Queen’s-Park-Station zu laufen und von dort zu fahren. Sie sagt, die Bahnsteige dort sind viel sauberer, und die Züge fahren schneller. Aber Fiona macht hinter ihrem Rücken Rollaugen und schüttelt den Kopf, also fahren wir lieber von Kilburn aus.
Auf der Fahrt in die Stadt ist es ganz ruhig, obwohl wir gerade mitten in der Dienstagmorgen-Rushhour sitzen. Ich und Saidhbh sind zum ersten Mal im Leben in einer Londoner U-Bahn, und wir können nicht so recht glauben, dass man so viele Leute in so einen kleinen Raum bekommen kann und sie dabei so wenig Lärm machen. Nur ein paar trockene Huster, gefolgt vom Raschel-Raschel der Zeitungen, tönen in das metallene Ächzen der Zuggleise hinein. Sonst nichts. Wenn man die Augen fest zumachen würde, würde man glauben, man sitzt in einem sehr heißen, sehr leeren Abteil anstatt in einem, das von vorne bis hinten mit Körpern und Anzügen und Röcken und Jeanshosen und Jacken und Taschen vollgestopft ist. Ich vermute, das liegt daran, dass alle müde sind und es das Erste ist, was sie morgens tun müssen, aber das Letzte, worauf sie Lust haben, nämlich sich für einen langen, verschwitzten Arbeitstag mitten in der Metropole London bereit zu machen. Aber Fiona sagt später, dass es daran liegt, dass sie alle Engländer sind, und Engländer reden nicht mit Leuten, die sie nicht kennen. Und selbst wenn sie dich kennen, sagt sie, müsstest du dir ein Bein ausreißen, um ein paar Worte gediegenen Small Talk aus ihnen herauszubekommen, es sei denn, du hockst mit ihnen an einem riesigen Bankettstisch oder bei einem piekfeinen Dinner, Schulter an Schulter mit Lord Woo-Haaa Ponkington Smythe, und er redet nur mit dir, weil es total peinlich und gegen die Regeln wäre, es nicht zu tun, und Engländer halten sich immer an die Regeln.
Die Abtreibungsmenschen sind total anders und superfreundlich. Und sie haben sogar eine spezielle Frau aus Irland da, die sich um all die Mädchen aus der alten Heimat kümmert, die in anderen Umständen hier rüberkommen. Und sie heißt Noreen und hat ratzekurze Haare, so wie Fiona, und ist vermutlich der freundlichste Mensch, dem man in einer Abtreibungsklinik über den Weg laufen kann. Die anderen sind auch nett, aber hauptsächlich starren sie runter auf ihre Formulare und stellen richtig peinliche Fragen darüber, wie viele Sexualpartner du gehabt hast, und wann hattest du zum ersten Mal Sex, und ist das der Vater? Die Frau, die das fragt, hat blonde Haare und perfektes Top-of-the-Pops-Make-up, total trendy, aber als ich auf die Frage mit Ja antworte, guckt sie irgendwie mit einem verspannten Lächeln von ihrem Klemmbrett zu mir runter, das wohl heißen soll: Mit dir habe ich nicht geredet, Babymacher!
Noreen fragt hauptsächlich Sachen über zu Hause, wer Bescheid weiß, und wer uns geholfen hat, und ob wir Tickets und genug Geld haben, um zurück über die Irische See zu fahren. Sie gibt Saidhbh ein Glas Wasser, als ihre Lippen beim Anblick eines Comics auf einer Broschüre zu zittern anfangen, auf der ein y-förmiger Abtreibungsstuhl skizziert ist, mit den Fußstützen hoch in der Luft, vor dem ein Comicarzt gefährlich nah vor der Comicmuschi einer Comicfrau kniet. Und dann sagt sie Saidhbh, dass sie ab jetzt ein glückliches Mädchen sein wird, und führt sie an der Hand ins Abtreibungszimmer. Zu diesem Zeitpunkt sagen ich und Saidhbh nichts mehr zueinander. Wir sehen einander noch nicht einmal mehr an. Ich wollte sagen, viel Glück dabei und so, aber das fühlt sich irgendwie bescheuert an. Und Saidhbh scheint sich bereits in einem verrückten tranceähnlichen Zustand zu befinden, sodass alles, was darüber hinausgeht, einen Fuß vor den anderen zu setzen und sich schließlich in einer halb sitzenden Position auf diesem furchterregenden, menschengemachten Fußhalterungsstuhl niederzualssen, völlig außer Frage steht. Sie verschwindet hinter den Abtreibungstüren, obwohl noch kein Arzt mit seinen Geräten weit und breit zu sehen ist, weder als Comic noch in echt.
Ich warte draußen im Verhörzimmer – als einziger Kerl, umgeben von vier nervös aussehenden Frauen – und lese meine Peig-Notizen, um hoffentlich mit diesem superfrühen Büffeln im nächsten Jahr schulmäßig wieder ein Bein auf den Boden zu bekommen, als Saidhbh früher als erwartet rauskommt, quasi zehn Minuten, nachdem sie reingegangen ist, und in der Hand hält sie den halb zerknüllten Papierkram, und auf ihrem Gesicht liegt ein merkwürdiges Starren, und Noreen hält sie am Arm fest. Noreen sagt nichts, sondern schüttelt nur mit geschlossenen Augen den Kopf, als wollte sie sagen, dass es traurig ist, dass Saidhbh den ganzen weiten Weg von Irland aus gekommen ist, nur um das Oxford-Circus-Abtreibungserlebnis zu verschmähen. Sie schiebt Saidhbh in meine Richtung, als würde es sich um eine chinesische Vase handeln, und ich nehme sie sanft in Empfang und halte sie noch immer in demselben Unterarmgriff, als ich sie vom Empfangsraum ins Tageslicht schiebe, durch die gigantischen Holztüren der Abtreibungs-Tower.
Wir feiern die Nicht-Abtreibung in einem coolen mexikanischen Restaurant namens Border Town am Oxford Circus mit einem späten Frühstück, das aus Pommes und Chicken Fajitas besteht. Ich habe noch nie Fajitas gegessen, und mir fallen beinahe die Augen raus, als ich sie quer durchs Restaurant auf mich zubrutzeln und -dampfen sehe und sie vor mir landen wie ein Airfix-Raumschiff bei Flash Gordon in der Glotze und dabei eine dicke schwarze Wolke als Kondensstreifen hinterlassen. Meine Fajitas werden in einer schwarzen Eisenpfanne auf einem kleinen Holztablett von einem völlig entspannten Kellner serviert, der so aussieht, als hätte er das hier schon eine Million Mal gemacht und würde sich um den beeindruckenden Spezialeffekt am Ende seines Handgelenks schon nicht mehr kümmern.
Saidhbhs Cousin hat schon mal Fajitas gegessen, in Benidorm im Urlaub, deswegen wollte sie, dass ich welche bestelle. Dazu bekommt man eine eigene runde Box mit Fladen drin, und Saidhbh muss mir zeigen, wie man sie isst, zusammengerollt mit roter und grüner Soße in der Mitte neben den Hühnchenstreifen. Der Vorgang ist ziemlich kompliziert, und Saidhbh hat einen Heidenspaß dabei, mir beizubringen, wie man sie isst, und mich dabei einen Dummkopf zu nennen. Im Grunde macht es uns beiden Spaß zu vergessen, wo wir gerade waren, und sei es auch nur für ein paar Minuten, und uns so zu fühlen, als wären wir am merkwürdigsten, entlegensten Ort der Welt und würden das abgefahrenste, dampfigste, brutzeligste Zeug essen, das man sich nur vorstellen kann. Ich beschließe sogar auf der Stelle, zurück nach England zu gehen, wenn ich alt genug bin, um zu arbeiten, und Tante Grace zu bitten, ihr Möglichstes zu tun und sämtliche Arbeitsbeziehungen aus ihrem Adressheft zu benutzen, um mir einen Job bei Border Town am Oxford Circus zu besorgen.
Um alldem die Krone aufzusetzen, trinken wir Virgin Piña coladas, die so schmecken wie flüssige Bounty-Riegel, und die Musik plärrt, Country-Style, und ein blondes Mädchen läuft in Jeans-Hotpants und einem abgeschnittenen Hemd herum, sodass man ihren Bauchnabel sieht, während um ihren gesamten Oberkörper ein mexikanischer Banditengürtel gewickelt ist, in dem anstelle von Patronen kleine Gläser stecken. Sie bleibt an jedem Tisch stehen und redet hauptsächlich mit den Männern und bietet ihnen einen Drink aus den beiden Schnapsflaschen an, die in ihren beiden Halftern stecken. Die meisten sagen Nein und deuten auf ihre Uhren, aber zwei Typen in Anzügen neben uns bestellen sich jeder einen Shot. Das Banditenmädchen klimpert die Gläser auf den Tisch und wirbelt die beiden Flaschen einmal cowboymäßig in ihren Händen herum, bevor sie den Schnaps in die beiden winzigen Gläser kippt und sich von jedem Typen ein Pfund geben lässt. Dann dreht sie sich mit einem breiten, bildschönen Lächeln zu uns und sagt, ihr Name ist Sandy. Sie wendet sich mit ihrem ganzen Körper Saidhbh zu und bietet ihr einen Shot an, wobei sie mir zuzwinkert und sagt, sie ist sich sicher, dass Saidhbhs Sohn, also ich, nichts dagegen hat!
Saidhbh zuckt mit den Schultern, eine Art Was-hab-ich-schon-zu-verlieren-Zucken, doch ich gehe volles Risiko ein und lehne mich direkt über meine dampfenden Fajitas und halte meine Hand über Sandys Schnapsglas und sage ihr, dass Saidhbh ein Baby erwartet. Sandy lächelt kurz, was bedeuten soll, dass wir zwei Freaks sind, und geht weiter. Saidhbh sagt nichts. Sie sieht mich an. Wenn ich sage, dass sie mich ansieht, meine ich eigentlich, dass sie in meine Richtung sieht, aber ihre Augen sind nicht wirklich scharf gestellt.
Es dauerte eine ganze Mahlzeit inklusive der letzten Fajita und ein paar Bissen Key-Lime-Pie, um ein paar Worte aus ihr herauszubekommen. Ich sage ihr, dass alles gut wird, und wenn wir wieder zu Hause sind und unsere Eltern sich an die Neuigkeiten gewöhnt haben, wird es das Beste überhaupt. Sie kann immer noch ihre Lehrerausbildung machen, und ich kann in der Schule wieder richtig reinhauen. Und das Baby wird das Beste, was unseren beiden Familien hat passieren können. Es wird dafür sorgen, dass Saidhbhs Eltern einen Gang runterschalten und ihr Dad nicht mehr so viele Demos und so Kram macht. Vielleicht reißt es meinen Dad sogar aus seinem Krebsdurchhänger und ist endlich wieder etwas, wofür es sich für ihn zu leben lohnt. Vielleicht sagt er: Zur Hölle mit dieser ganzen scheiß Sterberei! Und dann trommelt er sämtliche gesunden Zellen in seinem Körper zusammen und sagt ihnen, dass er nicht aufgibt, nein, Sir, nicht jetzt, wo ein Enkel auf dem Weg ist, die Aussicht auf neues Leben, auf Wiedergeburt und ewige Glückseligkeit.
Die traurige Wahrheit ist leider, dass ich nichts davon denke oder fühle. Ich lüge, weil ich im Katzenkrankenschwestermodus bin. In den schaltet man, wenn man ein flauschiges Burmesenkätzchen hat, das dir gleich unter den Händen wegsterben könnte, an einer krustigen Schnodderblockade oder Lungenpfeifen, und dir nichts anderes übrig bleibt, als den letzten Tropfen Energie aus dir zu wringen, um den Schnodder mit Wattestäbchen wegzuwischen und die Atemzüge mit dem Dampf aus der Dusche möglichst schnell und sorgfältig runterzufahren. Denn alles andere, wirklich alles andere, selbst ein einziger Gedanke daran, was für Gefühle du für dieses kostbare kleine Liebesbündel vor dir in deinem angeschwollenen Herzen hast, würde dich hier und jetzt auf der Stelle zerstören – würde dir vor Traurigkeit die Beine wegreißen und dich als schluchzende, gelähmte Pfütze auf dem Boden zurücklassen.
So ist es mit mir und Saidhbh langsam, aber sicher geworden, seit sie rausgefunden hat, dass sie schwanger ist. Es ist etwas in ihren Augen. Ein Wort hier. Ein Gesichtsausdruck da. Der krustige Schnodder und Pfeifatem der Seele. Und ich habe Angst.
Nach dem Mittagessen raunzt Saidhbh mich an und sagt, dass sie nach Hause will. Obwohl sie nach dem Abendessen den exakt gleichen positiven Motivationsvortrag noch einmal von Deano bekommt. Er sagt ihr, dass das, was sie getan hat, etwas wirklich und wahrhaftig Magisches war, und weil sie einen Schritt auf das Universum zugegangen ist, indem sie ihr Baby nicht getötet hat, wird das Universum nun zwei Schritte auf sie zugehen, um sich mit ihr zu treffen und sich um alles, was sie braucht, um ihre emotionalen Bedürfnisse zu kümmern. Immer und immer wieder sagt er ihr, dass sie ein guter Mensch ist. Und dass das Universum sie belohnen wird. Den ganzen Abend lang latscht er ihr in Tante Grace’ Haus hinterher, sogar, als sie ihren Koffer packt, und flüstert ihr spitzenmäßige Tipps ins Ohr, sagt ihr, sie soll Folsäure fürs Baby nehmen und keine Krustentiere essen, aber dafür jeden Tag ein Glas Guinness trinken, wegen dem Eisen.
Sie soll sich aufs Bett legen, im Schlafanzug, und dann legt er ihr die Hand auf den Bauch. Er berührt sie nicht, die Hand bleibt einfach in der Luft. Er sagt, dass er eine Heilung an ihr vornimmt und dass das etwas ist, was er bei »Gemeinschaft« gelernt hat, von einer Gruppe absoluter Spezialisten, der Schule der Astralwissenschaften. Ein ganz natürlicher Vorgang, sagt er, bei dem man sich die bereits existierenden aurischen Energien des Kosmos zunutze macht. Und nach einer Viertelstunde schweren Atmens, in der er sich erdet, wie er sagt, und Energie von seiner Haralinie abzapft, erzählt er ihr, dass der Lebenswille ihres Babys enorm sei und unaufhaltbar und dass er fast noch nie so ein starkes menschliches Energiefeld gelesen hat. Seine Hände wurden von der Kraft des winzigen Wesens in Saidhbhs Bauch förmlich weggedrückt. Er sagt, unser Leben ist dabei, sich zu verändern, und ruft mich ins Zimmer, während er enthusiastisch aus seiner knienden Position aufspringt. Denn dieses Baby sei der lebende Beweis für ein wohlwollendes und allmächtiges Universum, sagt er, und jetzt packt er Saidhbh tatsächlich an den Bauch. Dieses Baby, sagt er, wird kein Nein akzeptieren. Denn dieses Baby ist das fleischgewordene Leben selbst. Es ist Leben.
In den frühen Morgenstunden bekommt Saidhbh Bauchkrämpfe. Am Morgen kommt das Baby als winzig kleiner roter Schleimknubbel raus. Sie spült es im Klo runter, stürmt in Fionas Schlafzimmer und knallt die Tür hinter sich zu. Sie schiebt Fionas Kommode über den Boden vor die Tür, wobei die hundert Make-up-Fläschchen auf den Boden poltern. Wortlos klettert sie zurück ins Bett. Wir verpassen den Zug. Und die Fähre. Und den restlichen Sommer in Irland.