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Möge das Heilen beginnen

Das Treffen mit Helen ändert alles. Von da an nehme ich das mit dem Heilen todernst. Sie sagt, dass sie etwas in mir sehen kann, etwas Leuchtendes und Helles, und wenn ich es nur schaffen würde, seine Kräfte zu nutzen, könnte ich ein Superheiler werden, genau wie sie. Die einzige Blockade bist du selbst, sagt sie, wobei sie ein bisschen gottmäßig klingt, aber trotzdem weiterlächelt und mir sagt, dass ich Saidhbh bei richtiger Anleitung in einer einzigen Sitzung heilen könnte. Easy-peasy, sagt sie und schnipst mit den Fingern und schüttelt den Kopf. Ich könnte den Verlust in ihrem biologischen Körper drin heilen und gleichzeitig ihre himmlische Seele anregen und motivieren, sich aufs Neue der Welt zu stellen, und ich könnte ihr helfen, ihren ehrlichen, ruhigen Frieden mit der Seele unseres toten Babys zu machen.

Oh ja, sagt sie und macht ein Gesicht, das wohl besagen soll: Keine Widerrede. Euer Baby ist ein äußerst spirituelles Wesen und im Himmel quicklebendig und mit Saidhbhs energetischen Strängen praktisch unauslöschlich verbunden. Es ist bei ihr, neben ihr, über und unter ihr. Was ich irgendwie schon mal im Gottesdienst gehört habe, aber Helen hat das Ganze noch mal neu erfunden.

An diesem ersten Abend halten Helen und ich eine grandiose Plauderstunde ab. Keiner in der Kirche kann glauben, dass wir uns kennen. Und sie sind noch immer schockiert darüber, wie Helen einfach ihren Schleier runtergerissen und »das Heilen gebrochen« hat, was ungefähr so ist, als würde man Waylean und Mestapheen in die Augen sehen und ihnen dann ohne ein Wort der Erklärung die Tür vor der Nase zuknallen. Helen stört das jedoch nicht im Geringsten, und stattdessen rennt sie zwischen den Tischreihen durch und sagt mir, dass sie mich sofort wiedererkannt hat, als sie mein Feld gesehen hat. Sie sagt, dass sie aurische Felder mit dem bloßen Auge sehen kann und jeder andersfarbige Felder hat, je nachdem, wie die Chakras sich in der Person bewegen. Bei einem gesunden Wurzelchakra ist ganz viel Rot im Feld. Beim Halschakra Blau, beim Milzchakra Gelb und so weiter. Sie verrät mir nichts über meine Farben und kichert nur, und ihr einziger Kommentar ist, dass mein Feld, na ja, wie soll sie das sagen, sehr markant ist.

Sie ist immer noch wunderschön. Selbst mit den Hockeynarben. Ihre Augen versprühen immer noch ein kristallklares Blau, wenn sie dich ansieht. Ihre Haare sind kürzer, aber immer noch wellig. Und die Narben, die wie dünne Spinnenbeine im Zickzack von ihrem Mund wegwachsen, machen ihr Aussehen nur noch interessanter. Als hätte sie eine Geschichte zu erzählen.

Sie sagt, dass sie gar nicht vorhatte, mit diesem ganzen Heilspaß anzufangen, aber dass sie dank der lenkenden Hände des Universums und Gaias hierhergefunden hat. Wenn sie Gaia sagt, macht sie eine kleine Verbeugung. Was irgendwie lustig ist, weil ich plötzlich nicke, als wäre ich auch ein großer Gaia-Fan. Wobei Deano mir später erklärt, dass Gaia nur ein anderer Name für die spirituelle Energie des Universums ist, was mich vermutlich tatsächlich irgendwie zum Gaia-Fan macht, aber auf jeden Fall erklärt, warum Obi-Wan Kenobi sich ans Herz packt, als Prinzessin Leias Heimat in die Luft fliegt, weil es so ist, als wäre der gesamte Planet gerade gestorben, und er garantiert auch eine riesige Seele hat, genau wie Gaia, und Obi-Wan ist genauso wie Serenity Powers und kann den ganzen magischen Kram sehen, der im Universum so vor sich geht, und deshalb ist er quasi persönlich verletzt. Daher die Herzschmerzen.

Helen sagt, dass es nach dem Hockeyunfall gar nicht gut für sie aussah. Und auch nachdem ihre Zähne wiederhergestellt und die Fäden aus ihren Backen gezogen worden waren, machte ihr das zermatschte Gesicht und alles an ihr selbst ziemlich zu schaffen, und sie hätte bestimmt einen psychischen Komplettzusammenbruch erlitten und wäre ins St John of Gods eingeliefert worden, wäre ihre Mutter nicht so eine patente Frau vom Land und total praxisorientiert, weil die hat sie direkt für einen achtwöchigen Kurs in Schönheitstherapie und Kosmetologie an der Kilcuman Tech eingeschrieben. Meine Augen werden etwas glasig, als sie Kosmetologie sagt. Ich denke an den dicken alten Mann mit dem Glasauge auf BBC 2, der die Sternenbeobachtungssendung moderiert, die Dad angeblich immer guckt, wenn er sich schlau fühlen will. Aber Helen sagt, dass es bloß um Make-up ging, und in den ersten Wochen war es ganz furchtbar, weil du dich jeden Tag im Spiegel angucken und deinen eigenen Kopf als Girl’s-World-Frisierkopf benutzen musstest, um eine Million verschiedene Make-up-Techniken auszuprobieren.

Irgendwann hatte sie das Ganze mit viel Hilfe von den anderen Mädchen überwunden. Zwei von ihnen, zwei wunderbare junge Mädchen namens Bernie und Delores, waren ganz besonders toll darin, tonnenweise Füllung und Grundierung auf ihre Narben aufzutragen, und ab der vierten Woche hätte man nie vermutet, dass sie auch nur eine einzige Narbe hatte, geschweige denn ein Gesicht voll sich herumschlängelnder Zickzacklinien. Sie wurden beste Freundinnen und waren sofort stadtbekannt für ihre Make-up-Vorlieben, vor allem den gebräunten Karibik-Deluxe-Look, wegen dem man sie die drei Oompa Loompas nannte. Das sind die drei kleinen Typen aus Charlie und die Schokoladenfabrik, die grüne Haare und orangene Gesichter haben und supergut darin sind, sich kleine Liedchen über verzogene Kinder auszudenken, die fast gestorben wären. Nun lacht Helen und sagt, dass die Rugbytypen von der Rock, also der Blackrock School, einer vornehmen Schule für Jungs mit reichen Vätern, manchmal angefangen haben, »Oompa Loompa Dupadi Du« zu singen, wenn sie und Bernie und Delores nach einem harten Tag am Spiegel auf ein Feierabendbier ins McSorely’s in Ranelagh spaziert sind, in voller Karibik-Deluxe-Montur. Aber das hat sie nicht gestört, fügt sie hinzu und lacht noch einmal darüber, wie sie damals drauf waren, weil später am Abend haben die Typen sich trotzdem die Finger nach ihnen geleckt.

Nach acht Wochen bestanden sie alle mit Bravour, und an Weihnachten, dem Weihnachten, das bei mir das schlimmste aller Zeiten war, waren sie schon in London, weil man in London die besten Make-up-Jobs der ganzen Welt bekommt inklusive Werbung, Film, Fernsehen und Hochzeiten. Bernie, Delores und Helen machten hauptsächlich Hochzeiten. Sie bündelten ihr Talent und beschlossen, sich die drei Oompa Loompas zu nennen, wegen dem Wiedererkennungswert, den eine Firma braucht, und mieteten sich sogar einen Van, auf dessen Seite über ihrer Telefonnummer der Name aufgemalt war, neben einem Lippenstift und einem Make-up-Pinsel. Sie waren sich für nichts zu schade und machten sogar Schulabschlussfeiern und Namenszeremonien. Und so traf Helen auf Serenity Powers.

Hierbei bekommt wiederum Helen glasige Augen. Sie ist nicht traurig oder so, sie muss nicht weinen und bekommt kein rotes Gesicht. Aber trotzdem werden ihre Augen feucht. Wir sitzen einander gegenüber auf zwei verschiedenen Massagetischen, ich liege halb zurückgelehnt, mit einem angewinkelten Bein, wie Burt Reynolds, wenn er für eine Zeitschrift posiert. Mir ist kalt, aber das sieht man mir nicht an. Und draußen ist es schon komplett dunkel, weil die letzten paar farbigen Glasfenster jetzt fast pechschwarz sind und man die Bilder überhaupt nicht mehr erkennen kann. Die anderen Schüler murmeln und murmeln im Hintergrund, beim Teetisch und der Flügeltür. Ich merke genau, dass sie uns ansehen und über uns reden, aber ich tue so, als wäre niemand sonst da, und horche einfach gebannt auf das, was Helen erzählt.

Sie sagt, dass sie diese Kleine aus Portugal geschminkt hat, die furchtbare Akne hatte und wegen der sie bei der Namenszeremonie vorbeischauen sollte, um ihr zu fünf Jahren hartem Heilen zu gratulieren und ein Glas O-Saft auf sie zu trinken. Helen, die immer ans Geschäft dachte und sich schon vorstellte, reihenweise neue Kunden für die Oompa Loompas zu rekrutieren, tauchte bei der Feier auf, genau in dieser Gemeindehalle hier in Islington, und rechnete eigentlich damit, sich einfach über die bärtigen Spinner totzulachen, doch stattdessen traf sie in Serenity ihre Schöpferin.

Sie sagt, dass Serenity sie schon auf dem Schirm hatte, als sie noch ewig weit weg war, ungefähr so weit wie von hier zum Teetisch. Und obwohl Serenity umringt von Schülern und Freunden und Kollegen war, die an ihren Lippen hingen und ihr ordentlich in den Arsch krochen, stand sie einfach auf und kam rüber zu Helen und, das ist das Verrückteste daran, griff in ihre Handtasche, zog ein Taschentuch heraus und wischte sofort Helens komplette Schminke ab, vor allen Leuten. Helen sagt, dass sie da stand und zum ersten Mal seit einer Ewigkeit wieder die ganze Welt ihre Narben zu Gesicht bekam und sie laut weinte, richtig losschluchzte, lauter als je zuvor, aus vollem Herzen. Serenity stand einfach ruhig vor ihr und lächelte und hielt Helens Gesicht sanft in ihren Händen und sagte: Ich sehe dich. Und du bist schön.

Und das war’s. Das war der Anfang. Sie sagt, dass sie immer noch hier und da eine Schicht für die Oompas übernimmt, um die Miete und ihren Anteil an Lebensmitteln von Safeways zu bezahlen, aber insgesamt fühlt sie sich hier in der Schule wie ein Fisch im Wasser. Sie sagt, ganz ehrlich, dass sie glaubt, beim Aufprall des Hockeyballs hat sich irgendeine ganz frühe Blockade in ihrem Geist gelöst, was vermutlich auch erklärt, wieso sie die Fähigkeiten zum Heilen so schnell erlernen konnte. Und warum Serenity ihr erlaubt, so viele Sitzungen zu leiten. Wie heute Abend! Sie macht ganz große Augen und zieht ihre Brauen ganz hoch, um zu sagen: Wir leben schon in einer komischen Welt.

Ich sage ihr wiederum, dass es total verrückt ist, dass wir uns wiedergetroffen haben, und dann ausgerechnet in London! Aber sie wird sofort total weise und ganz still und schüttelt einfach nur den Kopf und sagt mir, dass sie es wusste. Sie sagt, dass man sich nicht gegen die Kräfte des Universums wehren kann und gegen das Licht und die Energie. Dann lächelt sie und streichelt mir über die Wange, als wäre ich ein entlaufener Welpe, der wieder zurück zu Hause ist, oder ein verlorener Sohn.

Deano weiß nicht, was er in der Zwischenzeit tun soll. Vor Helen ist er hauptsächlich unsicher und stotterig, vor allem, weil er sie bisher nur als die heilende Winterregen gesehen hat, die für ihn entweder ein kleiner feuchter Furz war, der ihn in der Astralwissenschaftsschlange übersprungen hat, oder eben, dank Serenity Powers’ Qualitätsstempel, tatsächlich eine richtige Oberheilerin sein könnte.

Für ihn ist es merkwürdig, sie dort auf dem Massagetisch sitzen zu sehen, ganz entspannt und gesprächig und jung. Ab und zu schwebt er zu uns rüber, wenn er hört, dass ich gerade rede, und mischt sich mit kleinen dekorativen Details ein, zum Beispiel, wie lange wir schon bei Tante Grace wohnen. Aber ansonsten, vor allem, wenn Helen und ich wirklich Tacheles reden, schwebt er einfach rückwärts durch den leeren Saal zu den anderen Schülern, die schon lange ihre Heilhandtücher eingepackt und die restlichen Tische zusammengeklappt und sich beim Teetisch zu heißem Wasser mit Zitrone zusammengefunden haben und auf Insiderinfos zu Winterregens plötzlicher Missachtung der Regeln im Astralwissenschaftshandbuch hoffen.

Natürlich muss heute niemand für die Sitzung bezahlen. Und Helen flüstert mir sogar zu, dass ich für meinen Unterricht keinen Penny latzen muss. Sie wird sich bei der Bossfrau höchstpersönlich für mich einsezten. Es wäre mir eine Ehre, sagt sie, dich aus der Reserve zu locken. Und dann zwinkert sie, als wäre sie ein bisschen unhöflich geworden. Was irgendwie komisch ist. Weil, unsere Plauderei jetzt und hier ist so rundum fantastisch, dass sich ein Teil von mir total schuldig fühlt, vor allem, wenn es in meinem Bauch anfängt zu kribbeln, so wie ein Bauch nun mal kribbelt, wenn einem klar wird, dass man jemand getroffen hat, auf den man steht, oder garantiert irgendwann in absehbarer Zukunft stehen wird.

Und ich muss die ganze Zeit an etwas denken, was Mozzo mal im Scherz gesagt hat, über Weiber und Muschis und dass er jedes Mädchen in Kilcuman haben könnte, ihm das aber gar nicht einfällt, weil zu Hause Saidhbh auf ihn wartet. Und der Witz war eben, dass er garantiert nicht für einen gammeligen Burger das Haus verlässt, wenn zu Hause ein saftiges Steak auf ihn wartet. Was heißen sollte, dass Saidhbh das Steak war und jedes andere Mädchen, das er auf der Straße auf dem Weg zum Quinnsworth oder Foley’s traf, einfach nur ein Burger. Mozzo hat Gary und mir auch gesagt, wenn es darum geht, eine Muschi abzubekommen, sollte man nicht zum Kaminsims raufgucken, während man im Feuer herumstochert, was ein ziemlich blöder Spruch war, der nur dafür sorgte, dass wir uns irgend so ein kopfloses Ding mit Weihnachtskarten um den Hals und einer brennenden Muschi vorstellten, bei dem man sich die Augenbrauen abfackelt, wenn man zu nahe an die Glut kommt. Aber für einen Moment bleibe ich bei der Steak-und-Burger-Sache hängen und denke, dass Saidhbh gerade in diesem Moment zu Hause in ihrem Glengall-Gefängnis sitzt und am Fenster Rothmans pafft oder ihre heutigen Baumarbeiten durchblättert. Und ich weiß, dass sie ein Steak ist und immer ein Steak sein wird. Und dass Helen mit ihren super Geschichten und ihren funkelnden Augen lediglich ein ganz besonderer Burger ist.

Und außerdem plaudern wir ja nur über alte Zeiten. So wie Mam, wenn sie nach fast zehn Jahren zufällig eine von den alten Weibern aus ihrem früheren Schwimmverein in Bray wiedertrifft, als sie auf dem Weg zurück in die Henry Street die Ha’penny-Brücke überquert. Dann fangen die beiden an zu johlen und umarmen sich ein paar Sekunden lang und stellen dann fest, dass sich ihre Wege nach diesem Plausch wieder trennen werden, und deshalb müssen sie im Schnelldurchlauf alles bequatschen, was in den verlorenen Jahren passiert ist, maschinengewehrmäßig, keine Gefangenen, keine Gnade.

Ein bisschen so ist es bei Helen und mir auch. Wir merken, dass die Schüler am Teetisch unruhig werden und gelangweilt mit den Füßen wippen, also müssen wir mit allem hastig und kurz und knapp rausplatzen und riesenlange Geschichten über das Leben und die Liebe in ein paar kurze Worte packen. Meine Sachen handeln hauptsächlich von Saidhbh und unserer Reise nach London und dass ich Saidhbh »in Schwierigkeiten gebracht habe«. Helen hört sich alles an und lächelt nach bester Gott-Manier, als würde sie alles, was ich ihr erzähle, sowieso schon wissen, so wie der liebe Gott jedes Haar auf deinem Kopf kennt, bevor du überhaupt auf die Welt kommst und Haare hast oder einen Kopf. Sie sagt mir, dass sie das alles glasklar vor Augen hat. Als ich sie frage, was das heißen soll, lacht sie nur und nennt mich einen Dummie und sagt, dass das quer über mein Feld verteilt steht, mein aurisches Feld jetzt, und dass sie das alles lesen kann, wie eine lebendige Sprache, wegen den Farbkreisen und Energiewirbeln, die vor meinem tatsächlichen physischen Körper herumschweben.

Ich sehe ALLES!, sagt sie, mit mega Betonung auf dem Wort alles, und dabei nickt sie so bescheuert, wie man eben nickt, wenn man jemandem damit sagen will, dass man tonnenweise Geheimnisse über ihn kennt. Und dann lacht sie, schwingt ihr Bein nach vorne, gibt mir von ihrem Massagetisch aus einen sanften Tritt, als wäre das Ganze ein Riesenwitz, aber irgendwie auch nicht.

Helens letzte Geschichte handelt hauptsächlich davon, wie super ihr Leben ist, seit sie der Schule beigetreten ist. Sie sagt, obwohl sie mit Bernie und Delores in einer schäbigen Zweiraumwohnung in Shepherd’s Bush wohnt und immer noch die eine oder andere Hochzeit oder Abendschicht mit den Oompa Loompas macht, hofft sie, das alles irgendwann aufgeben zu können, um sich Vollzeit den Astralwissenschaften zuzuwenden und vielleicht direkt für Serenity Powers höchstselbst zu arbeiten und sogar nach Kalifornien zu ziehen!

Zurück zur Quelle, was?, sagt sie, während sie die Augen zum Himmel rollt und dann seufzt: Mein Gott, das Ganze ist so aufregend! Du wirst schon sehen, denk an meine Worte!

Und dann hält sie plötzlich inne, lehnt sich vor und schaut mir direkt ins Gesicht.

Du kommst doch für mehr Heilen zurück, oder?

Sie sagt das so, als wäre ihr gerade erst der Gedanke gekommen, dass ich das Ganze eventuell abblasen und wieder ein ganz normaler, nicht vielfarbiger armer Schlucker werden könnte, und als wäre die bloße Existenz dieses Gedankens für sie wie ein Stich ins Herz.

Bevor ich jedoch antworten kann, hüpft sie vom Tisch, packt mich fest bei den Schultern, knallt ihre Stirn gegen meine und gibt mir das heilige Versprechen, mich noch vor Jahresende in eine ausgewachsene Heilmaschine zu verwandeln, wenn ich bei den Astralwissenschaften bleibe. Du wirst die Toten auferstehen lassen, sagt sie, und in ihren Augen glitzert es.

Später am selben Abend renne ich fast die Haustür ein, um Fiona alles über Helen Macker zu berichten. Deano ist auf dem gesamten Heimweg im Auto launisch und eingeschnappt darüber, dass ich nach meiner ersten Sitzung schon der Star der Klasse bin, also bleibt er meilenweit hinter mir zurück, als ich die Stufen raufschieße und lauthals schreiend zu Fiona und Saidhbh ins Zimmer platze: Wisst ihr was? Wisst ihr was? Ich brauche ein, zwei Sekunden, um zu kapieren, dass das große Licht schon aus ist und Fiona neben der Matratze hockt, auf der Saidhbh angezogen und halb zusammengekrümmt unter der Decke liegt, bei Kerzenlicht. Saidhbh sieht etwas aufgequollen aus, als hätte sie geweint, aber ich versuche, das zu irgnorieren, und erzähle Fiona stattdessen von dem Treffen mit Helen Macker und was für ein völlig verrückter Abend es gewesen ist. Zuerst sagt Fiona nicht viel, außer ein paarmal »Ist ja irre!«, bevor sie mir ins Wort fällt und riesige Glotzaugen macht, die auf den schniefenden Körper auf der Matratze deuten, und dann sagt sie, dass Saidhbh ihre Ruhe braucht und ich sie nicht weiter mit meinen unnötigen Geschichten belästigen soll. Ich sehe fragend zu Saidhbh rüber, die Fionas Protest lediglich mit einer Handbewegung wegwischt, wie die Königin bei einer Bediensteten, was wohl heißen soll, dass es für den Moment schon okay ist, wenn ich weiterbrabbeln will.

Ich liefere ihnen beiden alle schmutzigen Details. Darüber, dass Helen Macker jetzt Make-up-Spezialistin und Superheilerin in einer Person ist, dass sie zum Schluss nach Fiona gefragt und sich seit den Hockeytagen kaum verändert hat. Ich übertreibe bei der Beschreibung der Narben und lasse sie weitaus gruseliger erscheinen, als sie in Wirklichkeit waren, weil es so für die anderen interesssanter ist und Helen dadurch etwas fieser scheinen lässt und nicht so lustig und gesprächig und funkensprühend, wie sie heute Abend tatsächlich war.

Ich erzähle auch vom Heilen und den vielen Fähigkeiten, die Helen mir ganz umsonst beibringen wird. Ich berichte Saidhbh von den vielen Sachen, die Helen über uns gesagt hat und über unser Baby, und dass sie über mein aurisches Feld fühlen kann, dass das Baby immer noch mit einer aurischen Schnur an Saidhbh dranhängt und dass es meine Aufgabe sein wird, falls ich genug Heilungssitzungen machen werde, den männlichen Part zu übernehmen und die Schnur zu zerschneiden und das Baby in die Freiheit des Universums zu entlassen. Was ungefähr so wie eine Geburt sein wird, nur rückwärts.

Saidhbh schüttelt wie verrückt den Kopf, als sie das hört, und haut so oft auf die Matratze, dass Fiona sie festhalten und zur Beruhigung ihre Hand nehmen muss. Saidhbh sagt lange gar nichts, doch dann stützt sie sich auf die Ellenbogen und sagt mir, dass ich ein völliger Vollpfosten bin, wenn ich ernsthaft glaube, dass ich ihr Jackson wegnehmen kann. So heißt unser totes Baby. Später bei einem Kriegsrat mit Fiona in der Küche finde ich heraus, dass Saidhbh den hauseigenen Plattenspieler rauf in ihr Zimmer genommen und den ganzen Nachmittag lang Thriller gehört hat. Fiona versucht, nicht total peinlich berührt zu klingen, als sie erzählt, dass Saidhbh zum ersten Mal wieder ihre Tage bekommen hat, seit sie das Baby verloren hat. Und das ist ihr gar nicht gut bekommen. Ich frage sie, ob sie irgendeinen bestimmten Song auf der Platte gehört hat, und vermute, dass es wohl »Billy Jean« war, weil das der anstößige ist, den wir zu Hause nicht hören durften, weil es darin darum geht, ein Kind zu bekommen, ohne verheiratet zu sein. Fiona schlägt mir einmal auf den Hinterkopf und sagt, dass ich ein Trottel bin und dass Saidhbh das komplette Album immer wieder durchgehört hat, wenn ich es genau wissen will.

Sogar »P. Y. T.«?

Ja, sagt sie, sogar »The Lady in My Life«.

Saidhbh sagt, dass Jackson das Beste war, was ihr je in ihrem ganzen verschissenen Leben passiert ist. Ich wusste, sagt sie, dass das Ganze einen Sinn haben musste, einen Grund. Gott wollte, dass wir diesen ganzen Schmerz durchstehen, für Jackson. Er wollte sichergehen, dass wir bereit für ihn sind. Als Eltern. Sie reißt ihre Hand von Fionas los und rollt sich auf die Seite, sodass ihr Rücken unter der Decke hervorguckt, immer noch in einem grellgrünen Pulli, als sie einen imaginären Raum vor ihrem Bauch abschirmt. Sie fragt mich mit dem Gesicht zur Wand, ob ich wirklich glaube, dass sie nach allem, was passiert ist, zulassen wird, dass ich ihr Jackson wegnehme. Sie sagt mir, dass man sie nur über ihre Leiche voneinander trennen wird. Und dann streckt sie ihre kaputte Hand aus der Decke raus, um zu sagen, dass sie es ernst meint. Sie dreht ihr Gesicht komplett ins Kissen und flüstert leise den Namen Jackson vor sich hin, immer und immer wieder, gesprenkelt von mein Liebling, mein Schatz, mein süßer kleiner Junge. Fiona wirft mir einen Blick zu. Wir verstehen schon und schleichen aus dem Zimmer.

Unten halten ich, Deano, Fiona und Tante Grace Kriegsrat. Wir schließen alle Türen, Fiona setzt Tee auf, schaltet den Fernseher aus, und Tante Grace trinkt Rotwein. Sie hört sich mit versteinertem Gesicht die Helen-Macker-Story an und sagt dann auf der Stelle, dass sie Saidhbh in eine psychiatrische Klinik die Straße rauf in Cricklewood einweisen lassen wird. Darüber bricht ein Riesenstreit aus, in dem Deano im Prinzip sagt: Auf keinen Fall, das wäre herzlos, und Fiona und Tante Grace sagen: Auf jeden Fall, zu ihrem eigenen Schutz. Ich sage nichts, weil ich nicht gut im Argumentieren bin und normalerweise brillante Einfälle habe, die am Ende aber als nervöse Sätze rauskommen, die eigentlich total offensichtlich und kein Stück brillant sind.

Und mal davon abgesehen, wird mir bei der ganzen Sache etwas übel, wie damals, als ich zu Hause vor der Küchentür saß und lauschte, wie Mam und Dad darüber stritten, Fiona auf so ein megastrenges Internat am Arsch der Welt zu schicken, weil sie damals ein bisschen krass drauf war. Sie hatte gerade ihre ersten paar Perioden gehabt und war zu allen ziemlich schnippisch und sagte f… dies und f… das, andauernd. Und Mam dachte, dass sie ein furchtbares Vorbild für Claire und Susan war und sie einfach nicht mehr wusste, was sie noch tun sollte, weil Fiona ihr sofort sagte, sie soll sich verf… noch mal verpissen, wenn sie ihren Kopf durch ihre Schlafzimmertür schob.

Dad wollte davon natürlich nichts hören und sagte, keine seiner Töchter wird wie ein dahergelaufener Verbrecher ans Ende der Welt verschifft, zu so einer Horde Wilder vom Land, die keine Fragen stellen. Dad redete viel darüber, dass er streng ist und strikte Regeln liebt und wie gerne er seinen Kindern ein paar ehrliche Stockschläge verpasst, damit sie wissen, was Sache ist. Aber wenn es um große Entscheidungen ging, war er weich. Zumindest weicher als Mam. Und diesmal bestand er darauf, Fiona eigens eine Standpauke zu halten, von Vater zu Tochter, und das würde dann schon genügen. Mam schnaubte, aber Dad hatte recht. Fiona ließ das Böse-Mädchen-Dasein hinter sich und war nach ein paar Tagen wieder ganz normal und fluchte und brüllte nicht mehr. Was bewirkte, dass Dad sich natürlich ganz toll fühlte und wie der beste Vater auf diesem Planeten, aber vermutlich eher daran lag, dass ich Fiona am Abend alles von dem Streit erzählt hatte, dass ich im Flur vor der Tür gesessen und alles gehört hatte, was Mam und Dad einander an den Kopf geworfen hatten, und dass sie planten, sie für immer auf ein furchtbares, mit Monstern gefülltes Internat mitten am Arsch der Welt zu schicken, wo man den ganzen Tag lang mit Porridge zwangsernährt wird und riesige rotgesichtige Bauernmädchen mit hochgekrempelten Ärmeln ihren Camogie-Stock unterm Kopfkissen verstecken, um mitten in der Nacht auf dich einzuprügeln, weil du ein riesiger wütender Schimpfwortsager mit Tunnelblick bist.

Damals, da im Flur, wollte ich einfach zur Tür reinstürmen und Mam und Dad mit einer Million Gründen bombardieren, warum sie Fiona nicht auf dieses blöde alte Dorfinternat schicken sollen. Aber vom Lauschen stand ich völlig unter Schock und wegen der Gefahr von allem, was sie da gesagt hatten. Und ich war stocksteif bei dem Gedanken an das Resultat, das durch diese falsche Entscheidung zu schwer zu ertragen wäre. Also blieb ich draußen wie jemand, der auf einem Kartenhaus steht und sich nicht traut zu atmen und dennoch hofft, dass es in die richtige Richtung stürzt.

Genau so ist es jetzt auch. Und Deano merkt, dass ich stocksteif dasitze, also macht er eine große Show daraus, für mich zu sprechen, und sagt, dass Winterregen mir helfen wird, Saidhbh zu heilen, und zugesichert hat, dass sie binnen kürzester Zeit wieder gesund und munter sein wird.

Bei diesen Worten ticken Fiona und Tante Grace gleichzeitig aus, wobei Tante Grace Deano einen leichtgläubigen Vollidioten nennt und Fiona darauf besteht, dass er aufhört, sie Winterregen zu nennen, und sie einfach Helen Macker nennen soll oder sogar Scarface. Alles, aber nicht Winterregen. Deano dagegen sagt ihnen beiden, dass sie ihm leidtun, weil sie ihre Herzen verschließen.

Tante Grace nimmt einen riesigen Schluck Rotwein und fängt an zu weinen und sagt Deano, er soll ihr nichts von verschlossenen Herzen erzählen und ob er denn nicht weiß, was sie schon alles durchgemacht hat in ihrem Leben, als Irin in England, um dorthin zu kommen, wo sie heute ist. Fiona hat auch einen Kloß im Hals und setzt sich für Tante Grace ein, indem sie droht, Deano vor die Tür zu setzen, und dann kann er sich jemand mit einem offenen Herz zu suchen, vielleicht jemanden aus seiner Eso-Peso-Klasse, vielleicht sogar Helen Macker höchstselbst, und mal sehen, ob die seinen Quatsch duldet. Deano fängt nun auch an zu weinen und jammert über sein Leben und dass er nie einen Vater hatte und wie schwer es für ihn gewesen ist, seinen Platz in der Welt zu finden.

Alle drei beenden den Kriegsrat versunken in ihren sechs Armen und kuscheln und heulen alle gleichzeitig. Mir sind alle in diesem Zimmer einfach nur peinlich, als wäre jede einzelne Person, die ich kenne, im exakt gleichen Moment verrückt geworden. Und ich fühle mich schlecht wegen Saidhbh und der Art, wie wir über sie reden, als wäre sie ein gammeliges altes Stück Burgerfleisch und hätte ihre Steak-Tage lange hinter sich. Also versuche ich, mich aus der Küche und zu ihr rauf zu stehlen, ohne viel Aufmerksamkeit zu erregen. Aber Tante Grace, total verschmiert und tränennass, hebt den Kopf aus der Massenumarmung und bellt zu mir rüber. Sie sagt, dass Saidhbh erst mal bleiben kann, solange sie nicht noch verrückter wird. Und dass es an Deano und mir und diesen ganzen Eso-Peso-Idioten von Gemeinschaft ist, sie wieder gesund zu machen. Und wenn sie sich wieder aufgerappelt hat und auf festen Füßen steht, dann will sie uns beide hier nicht mehr sehen. Keine Fragen mehr. Für immer.