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Noch Fajitas?
Das Schlechte daran ist, dass zu Hause die Welt untergeht, als wir nicht zurückkommen. Als der Donohue-Klan rausfindet, dass Saidhbh gelogen hat, dass ich bei ihr bin und sie gerade unsere Fehlgeburt hatte und, was am schlimmsten ist, das auch noch in England, drehen alle vollkommen durch. Sie können es einfach nicht glauben. Vor allem Taighdhg bricht es das Herz, und er muss sich zwei Wochen freinehmen, um all das sacken zu lassen. Gary schickt mir einen ellenlangen Brief, acht Seiten, in dem er mir total ernst alles berichtet, was passiert ist, wie die Bombe geplatzt ist, Schritt für Schritt. Er erzählt, dass meine Mam und seine Mam und die ganzen üblichen Klatschtanten ein Monster-Kaffeekränzchen über uns abgehalten haben und dabei zwei Packungen Malzmilch und eine halbe Dose Maxwell-Auslese verbraucht haben, ganz zu schweigen von den ganzen John Players, und dass praktisch jedes einzelne Wort, was am Tisch gesprochen wurde, irgendetwas mit mir und Saidhbh und dem ganzen Ärger zu tun hatte, den wir verursacht haben. Als wären wir Banditen, sagt er, ein Liebespärchen auf der Flucht, wie im Film, und Maisie O’Mally sagte, wir wären eine Schande für The Rise und weite Teile vom Großraum Kilcuman an sich.
Die große morgendliche Kaffeesitzung war hauptsächlich einberufen worden, um zu sehen, ob die Frauen von The Rise zusammen irgendetwas für die Donohues tun konnten, die das Ganze offenbar wesentlich schlechter wegsteckten als meine Eltern. Taighdhg befand sich seit Tag eins im Schockzustand, seit Saidhbh angerufen hatte, um zu sagen, dass wir nicht zurückkommen. Taighdhg sagte ihr, dass sie Mist erzählt und dass er etwas unternehmen muss, wenn sie nicht nach Hause kommt. Und dass er, obwohl er keinen Pass besitzt und insgesamt gegen Reisen ins Ausland ist, sich gleich am nächsten Morgen einen besorgen und rüber nach scheiß England kommt, um seine Tochter zurückzuholen.
Saidhbh sagte ihm, sie würde sich auf der Stelle umbringen, wenn er es wagt, auch nur in die Nähe des Stadtgebietes von London zu kommen, und erst recht in die Glengall Road. Da war sie gerade oben in Tante Grace’ Badezimmer und hatte sich eingeschlossen, die beige Telefonkordel guckte unten aus der Türe raus und schlängelte sich bis zur Steckdose im Schlafzimmer. Das war in der ersten von vielen Sich-einschließ-Phasen, und sie war gerade wütend genug, um Taighdhg einen solchen Schrecken einzujagen, dass er sie ernst nahm, vor allem, als sie ihn warnte, vor ihr läge eine Handvoll von Fionas Ladyshave-Rasierklingen und dass sie sich noch heute Abend die Kehle aufschlitzen würde, wenn er auch nur daran denken würde, rüberzukommen oder jemand anders an seiner Stelle zu schicken.
Er verstand, was Sache war, legte den Hörer auf und soff sich ins Nirwana. Gary hat gehört, dass bei den Donohues danach der Haussegen so richtig schief hing und Taighdhg meinen Namen verfluchte und mir für alles die Schuld gab und androhte, sich mit seinen Kontakten bei Der Bewegung in Verbindung zu setzen, damit sie sich ein für alle Mal um mich kümmern. Sinead Donohue musste stundenlang mit ihm diskutieren und ihm literweise Kaffee einflößen, damit er sich beruhigte und sie ihn davon überzeugen konnte, dass seine eigene Tochter zumindest ein winziges bisschen mitverantwortlich für das ganze Drama war, das sich gerade abspielte.
Doch selbst dann, denn so groß ist die Liebe dieses Mannes für seine einzige Tochter, gab er allem anderen die Schuld, nur nicht Saidhbh. Das Fernsehen war schuld, sagte er. Die Filme. Die Musik. Die hatten sie mit ihrer heimtückischen englischen Art einer Gehirnwäsche unterzogen und sie direkt aus seinen Armen gerissen und aus der allumfassenden, liebenden Umarmung Irlands. Und jetzt guck sie dir an! In London! Für Gott weiß, wie lange! Er sagt, als sie angefangen hat, diesen scheiß Boy George zu hören, hat er sofort gewusst, dass da nichts Gutes dabei rauskommen kann.
Natürlich hatte er sich zu lange auf die Zunge gebissen, weil ihm klar war, dass ihm niemand zuhören würde und ihn alle nur einen alten Tatterich und einen Dickschädel und einen Hinterweltler nennen würden. Aber er sagte, er weiß, wovon er redet, weil das nämlich Postkolonialismus heißt und zur Pflichtlektüre aller Lehrer gehört und bedeutet, dass diese ganzen Folgen von Der Aufpasser und Grange Hill und To the Manor Born zusammen mit diesen ganzen Songs von Kajagoogoo und Spandau Ballet dafür gesorgt haben, dass Saidhbh das vormals stolze irische Volk nun genauso negativ sieht wie diese blöden Briten. Sie ist zur Hauptdarstellerin in ihrem eigenen Irenwitz geworden, wie in diesem Sketch in der Kenny-Everett-Show, wo der irische Bauer vor lauter Blödheit mit einem Schwein unterm Arm in eine Mauer rennt. Und alle im Publikum, die ganzen Briten drüben im BBC-Television-Centre, lachen sich nicht nur deswegen kaputt, weil er in die Mauer läuft, sondern weil er obendrein auch noch Ire ist. Also hat Saidhbh wegen dem ganzen Fernsehen und der Musik und entgegen ihrem besseren Instinkt angefangen zu glauben, England ist der coole place to be und Irland ist nur was für alte Tattergreise mit Schiebermützen und Schweinen unterm Arm, die generell unfähig sind, Backsteinmauern von geöffneten Türen zu unterscheiden.
Sinead Donohue war der härtere Hund, da waren sich alle einig, und hatte seit dem Beginn dieses ganzen Debakels keine einzige Träne in der Öffentlichkeit vergossen und keinen einzigen Arbeitstag beim Buch von Kells oder dem Kilmainham-Gefängnis verpasst. Beim morgendlichen Kaffeeklatsch waren sich alle einig, dass Sinead einfach irgendwie eine dumme Kuh war und den ganzen Ärger verdiente und ihre fehlenden Tränen und Zusammenbrüche nur bestätigten, was sie die ganze Zeit schon gedacht hatten, nämlich dass sie sich selbst etwas zu toll fand, auch in ihrer Rolle als Fremdenführerin des Jahrtausends, als Miniheldin für Touristen aus der ganzen Welt. Und wenn sie nur etwas mehr darauf geachtet hätte, was sich bei ihr am heimischen Herd abspielte, wäre es nie zu diesem Schlamassel gekommen und die arme Devida hier, soll heißen meine Mam, wäre nicht krank vor Sorge um ihren einzigen Sohn.
Gary sagte, dass meine Mam eigentlich gar nicht besorgt aussah und allen sagte, sie sollen die Klappe halten, als sie behaupteten, dass sie noch unter Schock stehen würde. Und als die Weiber sie fragten, ob sie nachts überhaupt noch schlafen kann, sagte sie, alles wäre tipptopp und was passiert ist, ist passiert, und ihre Schwester Grace hätte ihr vollstes Vertrauen und dass es für mich keinen sichereren Ort auf der Welt gibt. Ein paar von den Frauen dachten, sie macht einen auf tapfer, und hakten nach, ob sie das Ganze nicht skandalös findet und was mit der Schande ist, die ihr Sohn über ihr Haus gebracht hat, und sagten, sie wollen in ihrem Namen den neuen Gemeindepfarrer, Vater Murray, rufen. Doch Mam bremste sie direkt aus und sagte, sie hat jeglichen Glauben in die Kirche verloren, seit Vater O’Culigeen Missionar geworden ist. Hat keine Abschiedsparty geschmissen und nichts. Ist noch nicht mal vorbeigekommen, um Tschüss zu sagen. Hat einfach seine letzte Woche Gottesdienste mit einer schnellen öffentlichen Beichte am Samstagabend beendet und sich dann gleich am nächsten Morgen auf in die Südsee gemacht, auf streng geheimer Mission, um aus den kleinen Wilden brave Messdiener zu machen.
Nein. Der, um den sich Mam wirklich sorgte, war Dad. Er hatte auf die Neuigkeiten nicht großartig reagiert. Eigentlich hatte er überhaupt nicht reagiert. Er geisterte gerade in Pantoffeln und seinem kratzigen Morgenmantel auf seiner allmorgendlichen Schlurfrunde durchs Haus, nachdem er seine Tabletten genommen und vorsichtig einen Kamm durch die immer dünner werdenden vereinzelten Büschel gezogen hatte, die dieser Tage seine Kopfbehaarung bilden. Gary hat meinen Dad erst neulich gesehen und weiß, wovon er spricht. Er sagt, die Medikamente haben ihn ein weiteres dickes Haarbüschel gekostet, ganz komisch in einem Streifen um seinen Hinterkopf. Jetzt sieht er aus wie ein frisch auf die Welt gekommenes Baby, das nur auf dem Rücken liegt und endlos den Kopf nach links und nach rechts dreht und deshalb eine spezielle kahle Stelle am Hinterkopf hat.
Mam musste ihn unter Vorgabe frisch gebackener Scones mit Marmelade und Schlagsahne in die Küche locken und dort auf ihn warten. Doch stattdessen sorgte sie dafür, dass er sich setzte, und erzählte ihm die ganze Geschichte von mir und Saidhbh und dem Baby und dann Nicht-Baby und dass wir für den Moment in London festsaßen, bis Saidhbh nicht mehr ganz so gaga in der Birne war. Sie hat erzählt, dass er sich in der Küche umgesehen und seinen stoppeligen Unterkiefer zur Seite geschoben und nur die hellrosa OP-Narbe an seinem Hals rieb. Er strich schwach darüber, fuhr sie mit seinem Finger durch die Stoppeln entlang und fragte Mam nach den Scones, die sie ihm versprochen hatte. Von außen sah es so aus, als wäre überhaupt nichts passiert und als hätte er nichts dazu zu sagen. Doch Mam sagte den Kaffeefrauen, sie hätte schwören können, dass gerade ein weiteres kostbares Licht in seinen Augen erloschen war.
Gary schrieb, dass meine Mam an dieser Stelle ein wenig geweint hat, doch alle Mams haben sich um sie geschart und gegluckt und ihr gesagt, dass Dad das schafft, und plötzlich waren sie sich ganz sicher, dass es vermutlich besser ist, wenn ich drüben bei Tante Grace bleibe, bis Dad den Krebs ein für alle Mal los ist. Einfach damit Mam sich um sich selbst kümmern kann. Sie sagten, für mich blieb noch jede Menge Zeit, wenn es Dad wieder besser ging. Und dann kicherten und glucksten sie zusammen, als sie von dem großen Tag träumten, an dem Dads Kräfte wieder zurückkamen und er sich mühelos den Bambusstock schnappen konnte, um mich für meine Sünden grün und blau zu prügeln.
Natürlich ist es schwer zu sagen, wie gaga Saidhbh wirklich geworden ist, weil sie wegen der Belastung, der sie diese ganze Erfahrung ausgesetzt hat, eigentlich kaum noch redet.
Dank der Ins-Schlafzimmer-Einschließerei haben wir sie in den ersten Tagen kaum zu Gesicht bekommen. Und die hat sie nur für ein paar kurze, schluchzige Anrufe bei ihrer Mam zu Hause und einige Schnellfeuergänge für Toast oder einen Apfel in die Küche unterbrochen. Das hat sie tagsüber gemacht, wenn die anderen nicht zu Hause waren, und ich habe oft versucht, sie auf der Treppe abzufangen. Ich saß zum Beispiel mit einer Schüssel Frosties auf dem braunen Jeanssitzsack in Tante Grace’ Fernseherzimmer, und die Tür zum Flur stand sperrangelweit auf, und ich las im Ladybird-Reiseführer London alles darüber, wie das große Feuer in einer Bäckerei auf der witzig klingenden Pudding Lane ausbrach oder dass Dick Whittington ein richtig lebendiger Bürgermeister gewesen ist und nicht nur ein Typ aus dem Märchen, oder dass es nichts Tolleres gab als einen Ausflug zur St. Paul’s Cathedral oder einen Besuch bei Madame Tussaud und dass man aufpassen muss, wenn man sich bei Madame Tussaud an einen Aufseher wendet, denn, so warnte mich das Buch, er könnte ja aus Wachs gemacht sein! Wobei ich mich irgendwie merkwürdig fühlte. Aber nicht so merkwürdig wie das Geräusch, wenn Saidhbh in ihrem dünnen Mickymaus-Nachthemd die Treppe runterzischte, das ihr hinterherwehte, und sie an der geöffneten Tür vorbeitrieb wie eine besonders gepeinigte Windböe. Sie legte zwischen blitzschnellen Klogängen und schluchzigen Anrufen eine kleine Snackpause ein.
Bei diesen Gelegenheiten ließ ich das Buch fallen und sprang aus dem Sitzsack auf und schoss zur Tür. Doch am Ende stand ich einfach wie angewurzelt im Türrahmen und streckte schüchtern eine Hand nach ihr aus, als sie vorbeilief, als würde ich versuchen, ein Gespenst zu fangen. Ich mit meinen Millionen unfertigen Worten auf den Lippen. Sie wurden alle von der Angst blockiert und vom Katzenkrankenschwestermodus und von der Notwendigkeit, genau das Richtige zu sagen, zu tun, das sie zu mir zurückbringen würde und zu uns und in unser aller Leben.
Am Ende hat Deano Saidhbh aus dem Zimmer rausgequatscht. Er saß ein ganzes Wochenende lang an ihrer Tür und hat gar nicht so viel gesagt, nur dass das Universum einen Plan hatte und Saidhbh sich nun entspannen kann, weil sie von Güte und Licht umgeben ist. Während seiner Schicht am Sonntagmittag hat er ihr eine Hammergeschichte erzählt, die vermutlich am Ende zum Erfolg geführt hat, nämlich dass er mal aus Versehen einen Mann blind gemacht hat während seiner düsteren Phase drüben in Irland, richtig mit einer kaputten Flasche und so. Und dass er fast jeden Tag an diesen blinden Kerl denkt, genau wie Saidhbh jeden Tag an ihr Baby denken muss. Aber der Unterschied ist, sagt Deano, dass er es geschafft hat, sich selbst dafür zu vergeben, dass der Typ zu Hause in Irland jetzt blind ist. Und genau so muss auch Saidhbh sich selbst vergeben, dass sie das mit der Abtreibung fast durchgezogen hätte und das irgendwie zum Tod ihres beinahe ersten Kindes geführt hat. Er redet schnell immer weiter, ganz offen und ehrlich, und sagt dann, ja, vielleicht hat das Kind die negativen Energien gespürt, die sich in der Abtreibungsklinik gegen es gerichtet haben. Und vielleicht hat das Kind dann beschlossen, der Menschheit fernzubleiben und noch am selben Abend zurück ins Himmelreich zu verschwinden und Saidhbh nur die Erinnerung an einen Klumpen Schleim zu hinterlassen. Doch selbst wenn das Kind all das getan hat und sein oder ihr körperliches Dasein selbst beendet hat, war das ganz klar nicht Saidhbhs Schuld. Das Kind, setzt Deano das dringend notwendige Sahnehäubchen obendrauf, wird nur in eine Welt kommen, die dafür bereit ist. Und du, mein liebes süßes kleines Mädchen, warst nicht bereit dafür. Aber wisse, dass es da draußen ist, droben im Himmel, und es wartet nur auf den richtigen Moment, um zu dir zurückzukommen. Um an deiner Brust zu saugen. Und in deinem Herzen zu leben.
Natürlich heulen sich Fiona und Tante Grace dabei die Augen aus, sie lauschen von unten an der Treppe, mit mir in der Mitte. Fiona reibt mir die Schultern, als wollte sie sagen, dass auch ich tief, ganz tief in mir drin wegen dem tragischen Verlust von meinem Baby, das nie sein sollte, leide. Und dass ich mir wahrscheinlich die ganzen winterlichen Fahrradtouren vorstelle, die wir nie machen werden, ich und das Kleine, und dass ich ihm nie beibringen werde, wie man im Schlafzimmer zu Bronski Beat Top-of-the-Pops-mäßig abtanzt. Und ich weiß, was die Nonnen sagen, und ich weiß, was die Brüder sagen, und die Priester, über das heilige Leben des Kindes, das von dem Moment an in Aktion tritt, wenn das Mädchen schwanger wird, und ich weiß, dass Tante Grace dasselbe schon einmal in schmerzhaften, vergangenen Zeiten erlebt hat, und deshalb senke ich den Kopf in Richtung Teppich wie ein guter Junge in der Kirche, wenn die Kommunionglocke läutet, und spiele mit. Aber irgendwie vermute ich irgendwo in mir drin, dass das alles Blödsinn ist und es irgendwie nicht richtig ist, sich wegen einem kleinen roten Schleimklumpen total scheiße zu fühlen, wenn wir eigentlich an das supertolle Mädchen da oben denken sollten, dass mir wichtiger ist als alle vor roten Schleimklumpen überlaufenden Eimer der ganzen Welt.
Natürlich überrascht es uns überhaupt nicht, als die Tür sich plötzlich mit einem Klick öffnet und Saidhbh auftaucht, etwas rotäugig und heruntergekommen, aber sicher nicht wie eine Frau, die gerade aus den Tiefen der Verzweiflung aufgetaucht ist. Sie wirft einen kurzen Blick rüber zu Deano, dann runter zu uns und tut so, als wäre es ein ganz normaler Sonntag, wo du gerade im Schlafanzug ein nachmittägliches Nickerchen gehalten hast, nur um dich plötzlich auf dem Flur und der Treppe von deinen Freunden und deiner Familie umzingelt vorzufinden. Oh hi, sagt sie ganz lässig zu mir, Fiona und Tante Grace. Dann sagt sie, dass sie Hunger hat und rauswill, um was zu essen und mal einen Tapetenwechsel zu haben.
Wir sind uns alle einig, dass das eine Spitzenidee ist, und stolpern fast übereinander, als wir uns Hals über Kopf Jacken, Schlüssel und Schuhe schnappen und versuchen, schnell genug fertig und zur Tür raus zu sein, bevor Saidhbh es sich anders überlegt und zu einer neuen Einschließphase die Treppe hochflitzt.
Tante Grace geht mit uns ins Crown and Anchor auf der Cavendish Road, in der Nähe der Kilburn-Mainline-Station. Das ist ihr Stammlokal, und sie bekommt ein großes Augenzwinkern und dann eine Umarmung von einem dicken fetten Kerl aus Offaly mit einem riesigen rosa Steckrübenkopf, hochgekrempelten Ärmeln, dunkelblauer Jogginghose und braunen Schuhen. Als wir ankommen, fummelt er gerade auf allen vieren hinten an dem Stecker eines glänzig glühigen Space-Invaders-Automaten rum. Er heißt Larry und ist der Boss, und Fiona sagt, Tante Grace’ Spitzname für ihn ist Letzter Hafen vor der offenen See. Was bedeuten soll, dass sie die Mädchen von ihrer Arbeit hierhin mitnimmt, die keinen richtigen Job als Sekretärinnen in Büros kriegen können, und wenn sie nicht mal einen Plan-B-Job als Kellnerin in einem Restaurant an Land ziehen und einfach überhaupt gar nichts finden, GAR nichts, dann zwinkert und nickt Tante Grace ihnen zu und fährt sie rüber zu Larry, dem Letzten Hafen vor der offenen See. Denn Larry, witzelt Tante Grace, ist immer auf der Suche nach Mädchen, weil er einfach hinter sämtlichen Frauen her ist und seine Finger nicht bei sich behalten kann. Und die meisten ihrer Mädchen stürmen am Ende ihrer ersten Schicht zur Tür raus. Oh ja, sagt Tante Grace, er ist ein widerlicher Kerl, was heißen soll, dass es schon ziemlich erstaunlich ist, dass so Typen den Mädchen andauernd an die Titten und den Arsch grabschen müssen.
Larry springt auf und nennt Tante Grace »Eure Hoheit«, und nachdem sie ein bisschen miteinander getuschelt und geflüstert und ein paarmal in Saidhbhs Richtung genickt haben, verspricht er, uns die besten Plätze des Hauses zu geben. Er führt uns zu einer erhöhten Fläche am Ende des Gebäudes, auf der nur drei Tische stehen, von denen aus man runter auf den gesamten Pub blickt, wie von so einem Theaterbalkon auf die Bühne. Den ganzen Abend bedient Larry uns höchstpersönlich und lässt das Mädchen von der Bar kein einziges Mal etwas zu uns rüberbringen oder vom Tisch abräumen. Er plaudert viel mit uns über den üblichen Kram. Fragt uns, woher in Dublin wir kommen, und will wissen, was dieser Tage in der alten Heimat so abgeht. Ich und Saidhbh zucken mit den Schultern und sagen nicht viel, weil wir irgendwie nicht wissen, was er meint. Tante Grace sagt ihm, er soll uns in Ruhe lassen, vor allem, als er anfängt, uns nach alten Pubs in der Stadt zu fragen und ob wir wissen, was dieser oder jener alte Arsch jetzt macht, der früher immer den gesamten Samstagnachmittag im Fenster von Davy Byrnes saß.
Mit der Musik geht es gegen zehn los, gerade als unser Eis auf dem Tisch landet. Es ist keine wirkliche Disco, aber unten gibt es zwischen vier oder fünf niedrigen Tischen etwas Platz, um ein bisschen zu tanzen. Larry heizt dem Laden mit seiner Hi-Fi-Anlage über den Pint-Gläsern hinter der Bar ein, und tatsächlich sind drei Tussis und ein Typ die Ersten, die anfangen zu posen. Es läuft »Karma Chameleon« von Culture Club, und ich kann sehen, wie Saidhbhs Bein unter dem Tisch auf und ab wippt, als könnte sie es gar nicht abwarten, aufzustehen und einen Boogie hinzulegen. Wir beide, ich und Saidhbh, haben Guinness-Gläser vor uns stehen. Was das angeht, ist Tante Grace total cool und hat Larry bei der Getränkebestellung einfach zugenickt, und schon hieß es Guinness für alle. Niemand hat mich auch nur angesehen oder mein Alter erwähnt. Ich war einfach einer von der Gang.
Saidhbhs Guinness-Glas, ihr drittes, ist leer, als es mit »Karma Chameleon« zu Ende geht. In ihrem Eis hat sie hauptsächlich herumgestochert, und beim Essen hat sie kaum ein Wort gesagt. Sie hält sich an ihrem leeren Glas fest und klopft damit nervös gegen ihren Oberschenkel, während sie aufs nächste Lied wartet. Ich überlege gerade, wie ich Tante Grace dazu bringe, Saidhbh noch ein Bier zu bestellen, ohne zu gierig zu erscheinen, einfach um das ganze nervöse Klopfen abzudämpfen, als es kommt. »Small Town Boy« von Bronski Beat. Das langsame, gespensterhafte Intro läuft mir kalt den Rücken runter, und mich überkommt dieser Rausch, den du fühlst, wenn das beste Lied der Welt gespielt wird und du weißt, dass für diese paar wunderbar tosenden Momente alles in deinem Leben unendliche Möglichkeiten bietet. Wie ein Zauber. Und zum ersten Mal, seit ich einen Fuß auf englischen Boden gesetzt habe, habe ich zumindest den Hauch einer Hoffnung, dass sich vielleicht doch alles zum Guten wendet. Und vielleicht liegt es an dem bitteren schwarzen Bier, das langsam, aber sicher in meine Blutbahn sickert, oder an der Kombination aus Alkohol und Jimmy Somervilles träumerischem, hohem Schnurren auf der Höhe seiner Kunst, aber zum ersten Mal lasse ich meinen Schutzschild sinken und verlasse den Katzenkrankenschwestermodus, werfe einen Blick um mich herum und finde, dass Saidhbh noch immer großartig ist und dass Tante Grace großartig ist und Larry und der Letzte Hafen vor der offenen See und Pubs an sich und London an sich, das da draußen hinter den schmierigen Fensterscheiben wartet, mit all seinem Müll und Verkehr und superbeschäftigten Menschen und durchgeknallten Nachbarn und bärtigen Kilburn-Pennern, es ist alles, alles einfach nur großartig!
Das Schlagzeug setzt ein, und ich bin im Himmel. Ich fange an zu nicken und mich in meinem Stuhl hin und her zu wiegen und bringe einige meiner besten Tanz-Moves aus dem Schlafzimmer, zumindest von der Hüfte aufwärts. Als der Beat lauter wird, trommle ich auf dem Tisch und wackle mit den Schultern, von links nach rechts nach links und wieder nach rechts. Binnen Sekunden sind Fiona und Deano unten auf der Tanzfläche und tanzen spitzenmäßig vor und zurück, ein bisschen wie Dollar oder Legs and Co., als hätten sie sich abgesprochen. Tante Grace guckt einfach vor sich hin und lächelt. Als das Lied megahoch wird und so »Run away turn away run away turn away run away!« geht, durchflutet mich ein Glücksgefühl, und ich stoße Saidhbh an und deute mit der Nase hoffnungsvoll in Richtung Tanzfläche. Sie verzieht das Gesicht und schüttelt ein wenig den Kopf, was noch kein definitives Nein ist, aber sicher kein Ja. Ich drehe mein Kinn zur Seite und lege es auf ihre Schulter und bin gerade dabei, direkt in ihr Ohr zu betteln, als sie mit dem Kopf rumfährt und sagt: Guck dir das mal an!
Was denn?
Sie schiebt ihren Stuhl ein paar Zentimeter vom Tisch zurück, und mit einem triumphalen Lächeln zeigt sie mir, und mir allein, dass sie mit ihrem Guinness-Glas nicht mehr gegen ihren Oberschenkel klopft, sondern es stattdessen in praktische, rasierklingengroße Stücke zerdrückt hat, die sie gerade tief, ganz tief in ihre Hand arbeitet, von der Spitze ihres Zeigefingers ganz bis runter zum Handgelenk, sie schneidet und schlitzt munter vor sich hin, während ihr eine dickflüssige, Ribena-rote Flut über beide Hände und beide Oberschenkel und bis auf den Boden suppt.
Ein Wort von Tante Grace genügt, damit Larry in Aktion tritt und uns zur Hintertür rausschiebt. Er besteht darauf, Saidhbh und Tante Grace persönlich ins Krankenhaus zu fahren, während Deano mich und Fiona die paar Hundert Meter zurück zur Glengall Road bringt. Wir bleiben megalange wach, Deano und Fiona gehen den Abend Millionen Mal durch und wollen alles bis ins kleinste Detail wissen, wann ich das Blut gesehen habe und ob ich den leisesten Schimmer davon hatte, was sie da unter dem Tisch anstellt, und wie ich es geschafft habe, ihr gemeinsam mit Letzter-Hafen-Larry das Glas wegzunehmen. Sie schalten allerdings einen Gang runter, als sie sehen, dass ich so sehr zittere, dass ich es kaum schaffe, die Tasse Builder’s-Tee mit Milch und Zucker an die Lippen zu bringen, ohne zu kleckern und mir alles zu verbrennen. Sie rudern zurück und sagen mir, dass Saidhbh nichts passieren wird. Und dass das hier nur ein minimaler Schlenker auf dem Wege zur Besserung ist. Deano sagt sogar, das Ganze wäre gut, und wenn er eine Sache von der Schule der Astralwissenschaften gelernt hat, dann dass der Weg zur Heilung unergründlich ist und dass dieser Abend ein energetischer Befreiungsschlag für Saidhbh war und ein Schlenker. Aber da bin ich mir nicht sicher. Jack der Kater hat keine Schlenker gemacht. Und der ist gestorben.
In den frühen Morgenstunden kommt Saidhbh zurück. Ohne ein Wort zu sagen, sprintet sie nach oben und versteckt ihre verbundene Hand unter ihrem Mantel. Sie knallt ihre Schlafzimmertür drei- oder viermal zu, als sie bemerkt, dass Deano das Schloss entfernt hat. Und dann schmeißt sie sich aufs Bett und steht nicht mehr auf, so ziemlich genau den ganzen nächsten Monat lang.
Und jetzt noch was Positives: Ich bekomme einen Job bei Border Town!